In Felix Brückners Erinnerung hatte alles in jenem Raum begonnen, in dem die einzige Band seines Heimatorts probte. „Ich fand das natürlich cool mit den ganzen E-Gitarren und dem Schlagzeug“, sagt er, „und weil sie Metallica rauf- und runtergespielten, fing ich irgendwann auch an, mir die Songs auf der Akustikgitarre zurechtzulegen.“ Eine eigene Band hatte er mangels Mitstreiter*innen noch nicht. Schon bald erlitt Felix‘ aufkeimende Begeisterung für Musik einen dramatischen Dämpfer: Ein Snowboard-Unfall machte ihn mit 16 querschnittgelähmt, in einer langwierigen Reha musste er sich ins Leben zurückkämpfen, motorische Fähigkeiten wiedererwerben. Während er lernte, sich im Rollstuhl zurechtzufinden, kehrte die Liebe für Musik zurück. Felix griff erneut zur Gitarre, nahm Gesangsstunden und entwickelte noch während seines Sozialpädagogikstudiums in Jena den Plan, professioneller Musiker zu werden. Seine Anlaufstelle: die Hamburg School of Music, wo er, wie er selbst sagt, die Aufnahmeprüfung zunächst „grandios in den Sand setzte“, beim zweiten Versuch aber ebenso grandios bestand. 2017 gründete er mit drei Freunden, die er während seines Musikstudiums kennengelernt hatte, die Band FHEELS, mit der er heute erfolgreich tourt und die im Frühjahr 2022 ihr Debüt-Album „Lotus“ veröffentlicht hat. Der alternative Sound der Gruppe speist sich aus unterschiedlichen Einflüssen der Pop- und Rockgeschichte: Mainstream-Musik von der Stange, mit der sich das schnelle Geld machen lässt, ist nicht so ihr Ding.
In künstlerischer Hinsicht hat die Tatsache, im Rollstuhl zu sitzen, den Sänger, Gitarristen und Songschreiber Felix Brückner nie beeinträchtigt. Wenn es um die praktische Ausübung seiner Kunst geht, jedoch nur zu oft. „Ich bin es mittlerweile gewohnt, dass ich in den meisten Fällen zusehen muss, wie ich überhaupt auf die Bühne komme“, sagt der 35-Jährige, der noch immer in Hamburg lebt, dort einen großen Freundes- und Bekanntenkreis hat und die Stadt wegen ihrer vielfältigen und lebendigen Club- und Veranstaltungsszene schätzt. Noch mehr würde er sie schätzen, wenn er sich tatsächlich frei in ihr bewegen könnte. Beispiel alternative Clubs: Viele Besucher*innen lieben sie gerade für ihren Retro-Charme, häufig handelt es sich um zu Feiertempeln umfunktionierte Nutzgebäude aus Zeiten, in denen man den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung wenig Beachtung schenkte. Auch Felix mag solche Clubs, tritt gern dort auf, doch ehe er die freie und unbeschwerte Begegnung mit seinem Publikum genießen kann, muss er enge Wege, unpassierbare Treppenstufen und sonstige Hindernisse überwinden, die andere Menschen als solche gar nicht wahrnehmen würden. „Den meisten Veranstaltenden ist es gar nicht bewusst, wie wenig barrierefrei sie sind“, berichtet Felix von seinen Erfahrungen. „In der Regel gibt es noch nicht einmal eine Toilette für Menschen mit Behinderungen. Anderen wiederum ist gar nicht bewusst, wie barrierefrei sie sind. Dann ist das große Problem wiederum die fehlende Kommunikation.“
In großen Konzerthallen, die für Tausende von Besucher*innen ausgelegt sind, sieht es oft nicht besser aus. Zwar wurde hier, zumindest bei neueren Gebäuden, das Thema Barrierefreiheit schon häufiger mitgedacht – dies allerdings meist nur vor der Bühne und nicht im Backstage-Bereich. „Viele können sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich Menschen mit Behinderung genauso künstlerisch ausdrücken wie Nichtbehinderte. Man spricht ihnen einfach ab, dass auch sie in der Lage sind, auf der Bühne zu performen“, sagt Felix. Sein großes Anliegen neben der Musik ist es daher, Künstler*innen mit Behinderung endlich die Sichtbarkeit zu verschaffen, die ihnen zusteht – und gleichzeitig einer Publikumsschicht Veranstaltungsbesuche zu ermöglichen, die sonst häufig wegen mangelnder Barrierefreiheit daran gehindert wird. „Man muss sich einfach einmal klar machen, wie groß das Potenzial ist, das die Veranstalter*innen vor und hinter der Bühne verschenken.“
Seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen haben Felix Brückner zum Aktivisten gemacht. Gemeinsam mit anderen Menschen mit Behinderung und deren „Verbündeten“, wie er sie nennt, möchte er daran mitarbeiten, dass sich in absehbarer Zeit etwas ändert. Im Jahr 2019 gründeten sie mit der Initiative „Barrierefrei feiern“ ein bundesweites Kollektiv, das sich für die Schaffung und den Ausbau barrierefreier Kulturangebote einsetzt. Im Team versammelt sind erfahrene Branchenprofis, Musiker*innen, Projektmanager*innen und Expert*innen, die zumeist selbst mit einer körperlichen, sensorischen, kognitiven oder seelischen Beeinträchtigung leben und so einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Missstände und Nachholbedarfe im Veranstaltungsbereich haben – und vor allem wissen, wie es besser gehen könnte. Während sich die Initiative selbst als Lobbygruppe versteht, kümmert sich die aus ihr entstandene Beratungsagentur WIR KÜMMERN UNS (WKU) um die konkreten Belange von Menschen mit Behinderung in der Kulturarbeit und bildet gleichzeitig das administrative Dach. Der Name der Agentur ist wörtlich zu nehmen: Von Beratung über Schulung und Entwicklung bis zur Langzeitbegleitung kümmern sich die Mitarbeitenden darum, dass Veranstaltungen nicht nur vor Ort, sondern auch schon im Vorfeld barrierefrei sind. Interessierte Veranstaltende können persönlich mit den Berater*innen in Kontakt treten.
Einer von ihnen ist Felix Brückner, der so als einer von zwei Festangestellten einem „Zweitjob“ neben seiner Musikerkarriere nachgeht; die anderen sind freiberuflich engagiert, als „Expert*innen in eigener Sache“. „Jeder aus unserem Team bringt eine andere Perspektive mit“, berichtet er. „Wenn wir von ‚barrierefrei‘ sprechen, geschieht das natürlich nicht nur aus Sicht eines Rollstuhlfahrenden. Die Sache ist viel komplexer.“ Während sich Probleme für bewegungsbeeinträchtigte Personen vor allem an den Gegebenheiten vor Ort festmachen lassen, fängt etwa bei sehbehinderten Menschen die Einschränkung schon im Vorfeld an, nämlich bei der Kommunikation. „Kommunikation spielt in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle“, sagt Felix – und ist grundsätzlich eines der am einfachsten zu beackernden Feldern der Barrierefreiheit. Dabei geht es nicht nur um die Art der Kommunikation, sprich Barrierefreiheit für beispielsweise Hör- oder Sehbeeinträchtigte , sondern auch um den Inhalt. „Wie oft habe ich selbst schon erlebt, dass mir versichert wurde, eine Behindertentoilette sei vor Ort, und es stimmte gar nicht.“ Eine frustrierende, abschreckende Erfahrung, die Besucher*innen nicht unbedingt zum Wiederkommen motiviert. Und auf der anderen Seite nützen die vorbildlichsten Barrierefreiheitsmaßnahmen nichts, wenn die Menschen, die es angeht, keinen Wind davon bekommen – weil sie niemand darüber informiert.
Hier zeigt sich, was Veranstaltende alles in ihre Überlegungen mit aufnehmen müssen und wie wichtig es ist, bei jedem Schritt hin zu einem barrierefreien Betrieb auch die Adressat*innen einzubeziehen. Aus diesem Grund ist die Beratung, die Felix Brückner und seine Kolleg*innen anbieten, auch eine sehr umfassende. Er sieht es positiv, dass schon jetzt eine ganze Reihe von Musikclubs, Festivals sowie andere öffentliche und private Kulturbetriebe und -verbände von diesem Angebot Gebrauch gemacht haben. Vieles wurde schon bewirkt, auch wenn das Engagement nicht in allen Fällen den gewünschten nachhaltigen Erfolg gebracht hat. „Wir beraten nur“, sagt Felix, „die Veranstaltungsbranche zur Umsetzung von Maßnahmen zwingen können wir nicht.“ Das könnte am Ende nur die Gesetzgebung, die klare Vorgaben mit konkreter Sanktionierbarkeit verbindet und für die sich die Initiative „Barrierefrei feiern“ in ihrer kulturpolitischen Arbeit einsetzt. Bis hier aber die Weichen gestellt sind – und Felix endlich nicht mehr die Fragen stellen muss, wie er bei Auftritten auf die Bühne kommt, haben er und seine Mitstreitenden noch viel praktische Überzeugungsarbeit zu leisten.