Abbildung: das Ensemble auf der Konzertbühne
Ensemble Collective one mit Roman Babik, Jazzclub domicil Dortmund am 10.September 2022  
Photo:  Oskar Neubauer
An Schulen und Musikschulen gewinnt das Thema Inklusion zunehmend an Bedeutung. Verschiedene Ausbildungsgänge und Fortbildungen bereiten auf inklusives Unterrichten vor. Wie dies in der Praxis aussieht und warum inklusive musikalische Bildung noch längst nicht flächendeckend angeboten wird, erklärt die Musikpädagogin Juliane Gerland.

MIZ: Die inklusive Musikpädagogik ist ein sehr breites Feld, das an 23 Hochschulen in verschiedenen Schwerpunkten gelehrt wird. Welche Unterschiede gibt es zwischen den Studiengängen und Ausbildungsformen?

GERLAND: In der Sonderpädagogik gibt es die Möglichkeit, sonderpädagogisches Lehramt mit dem Unterrichtsfach Musik zu studieren, und es gibt Musikpädagogik, d. h. das reguläre Musiklehramt mit bestimmten sonderpädagogischen Erweiterungsmöglichkeiten. Es werden je nach Studienort bzw. je nach geltender Studienordnung auch musik- bzw. sonderpädagogische Schwerpunkte in unterschiedlichen anderen Studiengängen gesetzt, beispielsweise auf der Modul- oder Veranstaltungsebene angeboten. Für außerschulische musikpädagogische Studiengänge, wie die Instrumental- und Gesangspädagogik und die elementare Musikpädagogik gibt es keine sonder- oder inklusionspädagogischen Spezialstudienrichtungen. Auch hier sind die entsprechenden Inhalte aber in den Studiengängen präsent, abhängig von der jeweiligen Studienordnung. Im Studium der sozialen Arbeit werden z. T. Erweiterungsmöglichkeiten im Bereich der Musikpädagogik, der musikalischen Bildung oder der Community Music angeboten, genauso in der relativ jungen Disziplin der Kindheitspädagogik. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gibt es den Studiengang Community Music und inklusive Musikpädagogik. Das ist eine Einzelkonstruktion, gehört aber definitiv auch in das Feld der Musikpädagogik.

MIZ: Würden Sie sagen, dass dieses umfassende Angebot ausreicht, um die Bedürfnisse von inklusiver schulischer und außerschulischer musikalischer Bildung zu abzudecken?

GERLAND: Vielfach sind das hochwertige und im Grunde vollständige Inhalte, die den Studierenden vermittelt werden und mit denen sie danach ins Feld gehen. Probleme ergeben sich eher in der Frage einer gleichmäßigen Qualität. Es gibt keine Standardisierung und deswegen ist nicht ganz verlässlich zu sagen, dass eine bestimmte sonderpädagogische oder inklusionsbezogene Qualität auf jeden Fall vorhanden ist, wenn jemand einen musikpädagogischen Abschluss hat, beispielsweise weil die Studienstandorte andere Themenschwerpunkte haben.

MIZ: Wo würden Sie Menschen, die in diesen Bereichen studiert haben, beruflich verorten?

GERLAND: Es kommen alle musikpädagogischen Bereiche infrage. Die Absolvent*innen können in alle Arten von Schulen einmünden, wenn sie aus den schulischen Studiengängen kommen. Für Absolvent*innen der Sonderpädagogik gilt, dass sie sowohl an inklusiv arbeitenden allgemeinbildenden Schulen tätig werden können als auch an den Förderschulen bzw. sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren.

Aus den außerschulischen instrumental- und gesangspädagogischen oder den elementarmusikpädagogischen Studiengängen münden die Absolvent*innen insbesondere in Musikschulen oder in die selbstständige Unterrichtstätigkeit ein. Einige entscheiden sich dann auch doch für die allgemeinbildende Schule, beispielsweise über Konstruktionen wie den sogenannten „Seiteneinstieg“. Die anderen Bereiche – Musikpädagogik im weiteren Sinne – sind soziale Arbeit oder Kindheitspädagogik. Zuletzt sind Kindertagesstätten zu nennen, hier muss sich aber eine attraktive (weil adäquat bezahlte) Arbeitsplatzqualität noch entwickeln.

MIZ: Sehen Sie für Menschen, die bereits in diesem Bereich arbeiten und in ihrer eigenen Ausbildung noch keinen Schwerpunkt in inklusiver Musikpädagogik hatten, berufliche Fortbildungsmöglichkeiten?

GERLAND: Fortbildungen werden immer wieder angeboten. Ich nehme das aber – auch nach Rücksprache mit einer Kollegin aus Baden-Württemberg – im Moment als rückläufig wahr und habe dafür zwei unterschiedliche Erklärungsansätze: Zum einen ist das ein Aktualitätsthema, denn im Moment spielen in Bezug auf die Schule v. a. Digitalisierungsthemen in der Fortbildung eine Rolle. Zum anderen ist die Bereitschaft, eine Fortbildung zu besuchen, im Moment nicht besonders hoch. Das hat zunächst nichts mit dem System Schule zu tun, ich sehe das auch im hoch- und musikschulischen Bereich. Der Gedanke, einen ganzen oder möglicherweise sogar zwei Tage etwas zu einem bestimmten Thema zu lernen, passt im Moment nicht zur Arbeitslogik in den musikpädagogischen Feldern. Überall ist eine deutliche Verdichtung der Arbeitszusammenhänge zu beobachten, zeitliche und kapazitäre Spielräume für eine Fortbildung sind offenbar gegenwärtig ein rarer Luxus.

MIZ: Musik wird inklusiv sowohl an allgemeinen als auch an Förderschulen unterrichtet. Wie unterscheiden sich diese Formen von Musikunterricht?

GERLAND: Ob der Unterricht an einer allgemeinen Schule oder einer Förderschule stattfindet, sagt zunächst nichts darüber aus, ob er inklusiv ist. Im Schulkontext sprechen wir dann von Inklusion, wenn Schüler*innen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam lernen. Förderschulen hingegen werden ausschließlich Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf besucht – dennoch kann hier der Unterricht inklusiv konzipiert sein, indem er an den vielfältigen persönlichen Vorerfahrungen der Schüler*innen anknüpft und nicht versucht, die Schüler*innen in einen angenommenen Mainstream einzuordnen.

Konventioneller Unterricht unterscheidet sich insofern von inklusivem Musikunterricht, dass Letzterer weniger ausschließlich vom Gegenstand aus denkt, sondern von der Passung zwischen den Lernenden und dem Gegenstand. Damit steht die monodirektionale Frage, wie ein Inhalt an eine Gruppe vermittelt werden kann, nicht mehr im Vordergrund. Weniger inklusiver Musikunterricht versucht stärker, die Lerngruppe an äußere Rahmenbedingungen beispielsweise den Lehrplan anzupassen.

MIZ: Welche Barrieren gibt es an allgemeinen Schulen für die Einführung von inklusivem Musikunterricht?

GERLAND: Wir wissen noch immer zu wenig darüber, wie wir im Unterricht wirklich produktiv und wertschätzend mit Heterogenität und Diversität umgehen können. Es gibt wenig Erfahrung damit, was daran gut sein kann und wie so ein zufriedenstellendes Unterrichtssetting herzustellen ist. Im Fach Musik kommt häufig dazu, dass viele Kolleg*innen fachfremd unterrichten und insofern nicht mit dem beschäftigt sind, was sie am liebsten machen oder wofür sie eigentlich ausgebildet sind. Der Musikunterricht wird dann möglicherweise zur zusätzlichen Belastung. Es zeichnet sich ab, dass Schulen, die es schaffen, diese Mechanismen zu durchbrechen und Dinge wie kollegiales Coaching, gegenseitige Unterrichtsbesuche und Feedbackgespräche einzurichten, leichter inklusive Unterrichtstrukturen umsetzen oder effizienter passende Lösungen für die jeweilige Schulsituationen finden.

MIZ: Bei Regelschulen werden die Leistungen der Schüler*innen bewertet. Wie ist der Musikunterricht in inklusiven Schulen in Hinblick darauf gestaltet?

GERLAND: Das sind zwei unterschiedliche Punkte. Das Problem mit der Bewertung ist, dass im Schulsystem grundsätzlich nicht individuell biografisch bewertet wird. Es wird also nicht bewertet, wie Schüler*innen sich von einem Punkt A zu einem Punkt B entwickeln, sondern es werden Kompetenzen angelehnt an objektive, im Curriculum festgelegte Lernziele bewertet. Dabei werden die unterschiedlichen Lernausgangsvoraussetzungen regelhaft nicht berücksichtigt. Das ist zunächst aber unabhängig von der Frage, ob es sich um einen als inklusiv ausgewiesenen Unterricht handelt oder nicht.

Was wir aus Settings des gemeinsamen Lernens kennen, ist das sogenannte zieldifferente Unterrichten. Dort gibt es bestimmte Nachteilsausgleiche und es geht um individualisiertere Zielsetzungen. Das ist weniger ein Kennzeichen von inklusivem Unterricht, sondern von Individualisierung in Bezug auf das, was am Ende gelernt worden ist. Dies kann so weit gehen, dass Schüler*innen in einer Lerngruppe unterschiedliche Bildungsgänge absolvieren.

MIZ: Wir haben bei unserer Vorbereitung auf dieses Gespräch nichts dazu gefunden, wie viele Musikschullehrkräfte eine Qualifikation in puncto Inklusion haben. Können Sie eine Einschätzung geben?

GERLAND: Leider liegen mir hierzu keine Zahlen vor. Grundsätzlich hängt es von verschiedenen Faktoren ab: Einerseits kommt es darauf an, was die Lehrenden aus dem Studium mitbringen. Das prägt ihr Verständnis von Unterricht. Andererseits ist es davon abhängig, wie es an den jeweiligen Musikschulen vor Ort ist, z. B. ob sie inklusive Ansprüche haben und ein gutes Inklusionssystem umsetzen. Es ist schwierig, wenn eine einzelne Person in einer Schule, die sich mit allen inklusiven Herausforderungen sehr schwertut, versucht, guten inklusionsorientierten Unterricht zu machen.

MIZ: Wie sehen Sie insgesamt die Rolle von Musik innerhalb der Sonderpädagogik?

GERLAND: Zum einen gibt es die fachlichen Aspekte bzgl. des Zwecks von Musikunterricht. Die Schüler*innen haben Musikunterricht, um etwas über Musik zu lernen, ihre musikbezogenen Kompetenzen auszubauen und um im Musizieren besser zu werden. Das ist fachbezogen in sonderpädagogischen Settings nicht anders als in allgemeinen Settings.

Zum anderen gibt es bei Musikunterricht den Bereich der überfachlichen Aspekte, z. B. die Wichtigkeit für die sozial-emotionale Entwicklung der Schüler*innen, oder, dass Musikunterricht auch etwas sein kann, das Schüler*innen im Vergleich zu anderen Fächern in ihrem Schulalltag entlastet und mehr Freude und Leichtigkeit in das Lernen hineinbringt. Diese Aspekte sind in sonderpädagogischen und inklusiven Settings noch wichtiger als in regulären, weil die Schüler*innen zum großen Teil erschwerte Lernausgangslagen haben. Grundsätzlich gelten sie allerdings für alle Schüler*innen. Es gibt einen Konsens und hinreichende Studien und Gutachten, die belegen, wie wichtig Selbstausdruck, Zugang zur eigenen Kultur, Austausch untereinander und musikalische Erfahrungen für Schüler*innen sind. Trotzdem wird bildungspolitisch oft anders entschieden und der Fokus verengt sich häufig auf die MINT-Fächer sowie auf Deutsch und Englisch. Es kann aber in der Schule eigentlich nicht ausschließlich darum gehen, Wissen und Kompetenzen zu vermitteln, sondern darum, die Schüler*innen in ihren Bildungsbiografien und in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu sehen, damit sie sich über die gesamte Lebensspanne Wissen aneignen können und gerne lernen.

MIZ: Können Sie noch etwas zum Thema Zusatzqualifikationen im Bereich der Sonderpädagogik sagen?

GERLAND: Wir holen die Lehrkräfte nicht gut ab. Wir müssten stärker kollegiale Modelle fördern. Es gibt in Schulen insgesamt zu wenig Raum für den Aspekt der ständigen Weiterentwicklung und der fortlaufenden Professionalisierung. Hier wirkt ein Denkmodell, demzufolge die Lehrkräfte studiert und einen Vorbereitungsdienst gemacht haben, was sie dann zu 40 Jahren gelingender Unterrichtstätigkeit befähigen soll. Wir brauchen hier neue Strukturen, weil die Problemlagen an den Schulen komplexer werden oder zumindest der Blick darauf kritischer wird.

MIZ: In der außerschulischen musikalischen Ausbildung sind v. a. öffentliche Musikschulen wichtig. Wo spielt Inklusion dort eine Rolle?

GERLAND: Es gibt an den öffentlichen Musikschulen, insbesondere bei denjenigen, die über den Verband deutscher Musikschulen organisiert sind, ein klares Bewusstsein für Inklusion und auch entsprechende Papiere, z. B. die Potsdamer Erklärung von 2014. Jedoch sind Bildungs- und Schulsysteme in Deutschland lange in der Regel exklusiv und leistungsorientiert gewesen, und es dauert, bis sich solche Veränderungen durchsetzen. Die Aufgabe wird aber wahrgenommen und auch mit mehr oder weniger Erfolg an verschiedenen Stellen umgesetzt. Auch Partikularinteressen, Ausbildung und andere eventuelle Vorkenntnisse der Lehrkräfte spielen eine Rolle.

MIZ: Gibt es standardisierte Inklusionsmodelle oder wird das von jeder Musikschule individuell gelöst?

GERLAND: Es hängt fast immer von einzelnen Personen ab. Seit mehreren Jahrzehnten gibt es aber einige Flaggschiffe: Als Pioniere sind die Musikschulen in Bochum und in Fürth zu nennen, die schon lange auch inklusiv arbeiten. In Bochum ist das Bochumer Modell geprägt worden, das ein Startsignal für die Frage war, wie Musikschulen insgesamt vielfältiger werden können. Auch die Musikschulen in beispielsweise Osnabrück, Hannover und Dortmund sind sehr aktiv.

Hier erkennt man ein sonderpädagogisch geprägtes Verständnis von Inklusion, bei dem es v. a. darum geht, Menschen mit zugeschriebener Behinderung, insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten, einen besseren Zugang zum Instrumentalunterricht und anderen Angeboten der Musikschulen zu ermöglichen. Das liegt an den Orientierungen, Inhalten und Schwerpunkten der Programmgründer*innen.

Dazu noch eine Ergänzung: In der Potsdamer Erklärung werden noch andere Vielfaltsdimensionen angesprochen, z. B. Alter. Es gab vor einiger Zeit noch den Begriff der Jugendmusikschule, der weitgehend verschwunden ist. Musikschulen verstehen sich schon lange als Bildungseinrichtung über die gesamte Lebensspanne. Auch Migration wird erwähnt, also die Frage von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und unterschiedlichen Biografien. Der nächste Schritt wäre die Überlegung, ob uns Vielfalt oder Benachteiligung interessieren, die durch die Überlagerung von unterschiedlichen Vielfaltsdimensionen hervorgebracht wird. Das würde heißen, Inklusion intersektional zu bedenken.

MIZ: Sehen Sie dort eine Herausforderung für Musikschulen, die noch nicht inklusiv sind, es aber werden wollen?

GERLAND: Zunächst müsste man klären, was unter inklusiv zu verstehen ist. Eigentlich ist damit eine Musikschule für alle am Ort lebenden Personen gemeint und dementsprechend gibt es viele Dinge, die eine Musikschule möglicherweise bedenken muss. Wenn es eine traditionell geprägte Musikschule ist, die mit einem bildungsbürgerlichen Verständnis gegründet worden ist, stellt sich hier auch die Frage des Musikbegriffs und welche Fächer gelehrt werden sollen. Kann man auch Hip-Hop-Angebote wahrnehmen? Welche Instrumente werden unterrichtet, was für eine Ensemblestruktur gibt es?

Außerdem stellt sich die Fragen nach der Höhe der Gebühren: Wer kann sich den Unterricht leisten und wer wird durch die Preisstruktur ausgeschlossen. Es stellt sich aber auch die Frage nach Werbe- und Kommunikationsstrategien, denn viele Menschen wissen möglicherweise gar nicht, dass die Musikschulen ihn oder sie als Schüler*in gerne begrüßen würden, weil möglicherweise an den Kommunikationskanälen, die diese Personen nutzen, vorbei geworben wird.

MIZ: Zum berufsbegleitenden Lehrgang „Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung an Musikschulen“ (BLIMBAM): Es gibt den Lehrgang seit 30 Jahren, gab es seitdem merkbare Unterschiede und Entwicklungen?

GERLAND: Es gibt ca. 500 qualifizierte Lehrkräfte, die diesen Lehrgang absolviert haben und in ihren Musikschulen tätig werden, das ist eine große Zahl. Zwar arbeitet damit statistisch gesehen noch nicht an jeder VdM-Musikschule eine Person, aber schon an deutlich mehr als der Hälfte. Aber die Wirkung ist ja nicht nur, dass diese eine Person dann dort unterrichtet, sondern auch, dass sie sich mit dem Kollegen oder der Kollegin, die im Nebenraum unterrichtet, kurzschließt und von ihren positiven Erfahrungen berichtet und damit eine Multiplikatorenfunktion hat. Die meisten Absolvent*innen des BLIMBAM-Lehrgangs erzählen, dass sie sich für ihren Unterricht insgesamt als viel qualifizierter sehen. Auch wenn es darum geht, das methodische Spektrum zu erweitern, beispielsweise Schüler*innen auch in Durststrecken zu unterstützen. Sie berichten, flexibler und sicherer in ihren Unterrichtsmethoden geworden zu sein.

MIZ: Wie schätzen Sie im Amateurmusikbereich das Bemühen um Inklusion ein?

GERLAND: Die Bemühungen sind klar erkennbar, werden aber nicht immer als solche etikettiert, sondern oft einfach auf einer pragmatischen Ebene umgesetzt. Kirchenchöre würden sich z. B. möglicherweise nicht selbst als inklusive musikalische Orte einstufen. Aber faktisch ist das, was dort allein anhand der Altersentwicklung passiert, inklusionsorientiert. Ähnliches gilt für Blasmusikvereine im ländlichen Raum: Man ist in diesem Verein und es wird ausprobiert, wie weit die musikalische Entwicklung geht. Auf einer anderen Ebene können solche Strukturen auch sehr exklusiv sein. Kirchenchöre sind es, weil sie sich an Leute mit einem bestimmten religiös-kulturellen Verständnis richten, sie sind also unter bestimmten Gesichtspunkten inklusionsorientiert und unter anderen nicht.

Es gibt in Bezug auf Inklusion auch Netzwerke im Amateurbereich, z. B. das Amateo-Netzwerk auf der europäischen Ebene. Und es gibt Projekte, die von größeren Vereinen oder Verbänden eingeworben werden, und z. T. musikpraktisch sind, z. B. ein Projekt des Allgemeinen Cäcilienverbands für Deutschland mit dem Namen „Hier klingt‘s mir gut“. Dort geht es um unterschiedliche Inklusionsstrategien für Chöre, insbesondere für Kirchenchöre, aber auch andere Chorprojekte.

MIZ: Welche Rolle spielen die Amateurmusikverbände für die Inklusion?

GERLAND: Grundsätzlich ist es wichtig, dass sie Inklusion als Thema wahrnehmen, weil sie wiederum Orientierung für die Vereine bieten. Und sie beantworten die Fragen, welche Themen wichtig sind, wo Fortbildungen nötig wären und was für die Lehrgangsstrukturen beachtet werden muss. Die Verbände geben so die Entwicklungslinien für die Vereine vor.

MIZ: Wie können technische Hilfsmittel wie digitale Interfaces und angepasste Musikinstrumente dazu beitragen, Musik, musikalische Praxis, aber auch den Musikunterricht inklusiver zu gestalten?

GERLAND: Sie bieten Möglichkeiten in Bezug auf die Adaptivität, etwas speziell passend für individuelle körperliche Voraussetzungen zu machen, die vom sogenannten Mainstream abweichen, z. B. eine Flöte mit einer bestimmten Hebelkonstruktion, sodass auch Menschen, die nicht zehn Finger benutzen können, alle Griffkombinationen abdecken können. Digitale Instrumente können vielen Personen, die vielleicht aus körperlichen Gründen grundsätzlich vom aktiven instrumentalen Musizieren bislang abgeschnitten waren, die Möglichkeit erschließen, sich als aktive Musizierende zu erleben. Über digitale Technologien können auch Jugendliche gut erreicht werden, weil sich hier auch stilistisch andere Wege eröffnen. Man kann stilistisch und ästhetisch anders vorgehen und eine bessere Passung für technisch lösbare Probleme und individuelle Zugangsvoraussetzungen finden und insofern den Musikunterricht oder die musikalische Praxis offener gestalten.

Wir haben in einem Forschungsprojekt dazu festgestellt, dass diese Entwicklung allerdings kein Selbstläufer ist, weil es gerade im konservativ orientierten Bereich musikalischer Bildung z. T. noch Vorbehalte gegenüber den digitalen Medien gibt. Es muss darauf geachtet werden, keine vorschnellen Zuschreibungen weiter zu erhärten wie z. B., dass Person X eine Behinderung hat und kein konventionelles Instrument spielen kann, deshalb bekommt sie dann das als schlechter bewertete digitale Tool als „Ersatzinstrument“. Solche Mechanismen werden weder den Personen noch den digitalen Instrumenten gerecht.

MIZ: Wie Inklusion in der Musik aussehen kann, ist ein Diskussionspunkt in Forschung und Praxis. Gibt es in ihren Augen Grenzen von Inklusion?

GERLAND: Eine große Problematik liegt im Begriff Inklusion und dem, was man damit erreichen will. Bei der Frage, wie ein inklusiver Unterricht gelingt oder wie man Inklusion in der Breite umsetzen kann, hört es sich manchmal danach an, als würde ein bestimmtes Rezept gesucht, das immer funktioniert und gilt.

Das halte ich für eine Gedankenfalle, weil genau diese Suche nach einem Rezept den Umgang mit Herausforderungen blockiert. Es wird in pädagogischen und auch in künstlerischen Situationen immer Konfrontationen mit Antinomien geben, die sich nicht leicht auflösen lassen, weil sie inhaltlich eng mit dem Feld Musikpädagogik verwoben sind. Es ist also nicht produktiv, wenn die gesamte Energie dahingeht, darüber nachzudenken, wie „die eine Inklusion“ umzusetzen ist. Manchmal kommt dann noch eine fachspezifische Unklarheit dazu, beispielsweise weil nicht klar ist, ob es im jeweiligen Kontext um die Menschen geht, die gewinnbringend für sich selbst musizieren sollen, oder um künstlerische Exzellenz. Das sind und waren schon immer unterschiedliche Wünsche an Musik und musikalische Bildung. Die Musikpädagogik muss hier nicht entschieden, ob sie künstlerische Exzellenz will oder ein Angebot in der Breite. Wir können beides haben. Aber man muss genau wissen, was das jeweilige Ziel ist. Darauf aufbauend kann ich überlegen, was die richtigen Werkzeuge für die Umsetzung sind.

Das Interview fand am 10. November 2023 statt. Die Fragen stellten Gregor Arnold und Dr. Karin Stoverock.

Dr. Juliane Gerland ist Professorin für Musikpädagogik mit dem Schwerpunkt sonderpädagogische Förderung und Inklusion an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen inklusive Prozesse und Musikpädagogik sowie pädagogische Professionalisierung für Musikschulen.