Big Band Just fun der Musikschule Bochum bei der Verleihung des Preises InTakt 2012 in Dortmund  
Photo:  miriam-stiftung
Das Potenzial und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung spielten im Musikleben lange keine Rolle. Einzelne Initiativen und Bildungseinrichtungen waren Türöffner, bis die UN-Behinderten­rechtskonvention weitere starke Impulse für Inklusion gesetzt hat.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gibt den Menschen mit Behinderung in aller Welt Recht und Stimme. Seit ihrer Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag 2009 entfaltet sie auch in der Bundesrepublik ihre Wirkung in allen gesellschaftlichen Bereichen zwischen Arbeit und Freizeit, Bildung und Kultur. Das Musikleben mit all seinen Aspekten von Musikhören und Musikmachen bis Musikvermittlung und Ausbildung erfährt durch die UN-BRK neue Impulse und trägt wiederum selbst zur Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft bei.

Die UN-Behindertenrechtskonvention

Die weltweit beobachtete Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ist Anlass für die Vereinten Nationen, am 13. Dezember 2006 die „Convention on the Rights of Persons with Disabilities” zu verabschieden.

Der Deutsche Bundestag ratifiziert – wie mittlerweile 186 Länder – die Konvention. Sie tritt am 26. März 2009 als „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ in Kraft. Damit verpflichtet sich die Bundesrepublik als Vertragsstaat dazu, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (UN-BRK Art. 1, Abs. 1).

Zwei der insgesamt 50 Artikel der UN-BRK sind für Kultur bzw. Musik von besonderer Bedeutung. Der „Schulartikel“ 24 verlangt ein gemeinsames Bildungssystem auf allen Ebenen und in allen Altersstufen, in dem alle „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben“ (Art. 24 Abs. 2b). Gefordert sind in der Folge das Unterrichtsfach Musik, die Musikdidaktik, die Lehrerbildung und die Unterrichtsforschung, die sich gleichermaßen die Frage nach der gelingenden Gestaltung von inklusivem Unterricht stellen müssen.

Der „Kulturartikel“ 30 der UN-BRK widmet sich zusammen mit den Bereichen Erholung, Freizeit und Sport ausdrücklich dem der Kultur und der Kulturellen Teilhabe:

Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen

a) Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten haben;

b) Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;

c) Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.

(2) Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit zu geben, ihr kreatives, künstlerisches und intellektuelles Potenzial zu entfalten und zu nutzen, nicht nur für sich selbst, sondern auch zur Bereicherung der Gesellschaft. (UN-BRK, Art.30 Abs. 1,2)

 

Absatz 1 meint Teilhabe an allen Formen kulturellen Materials durch Rezeption – verbunden mit allen notwendigen und geeigneten Maßnahmen des barrierefreien Zugangs. Der Zugang zum Veranstaltungsort ist ebenso gemeint wie die Untertitelung von Fernsehsendungen und Filmen, die Leichte Sprache ebenso wie die barrierefreie Internetseite, die Gebärdensprachdolmetschung ebenso wie das adaptierte Musikinstrument, die Information über die Veranstaltung ebenso wie die Veranstaltung selbst.

Absatz 2 bezieht sich auf den Aspekt der künstlerischen Produktion. Die zentrale Aussage des kleinen Textabschnitts beinhaltet einen von vielen Paradigmenwechseln: Als weltweit erster Text mit Gesetzescharakter spricht die UN-BRK vom grundsätzlich kreativen und künstlerischen Potenzial von Menschen mit Behinderung und von der Notwendigkeit und Möglichkeit von dessen Entfaltung. Der abschließende Halbsatz geht freilich noch einen Schritt weiter und postuliert die Bereicherung der Gesellschaft durch die kreative und künstlerische Präsenz von Menschen mit Behinderung.

Mit diesen Paradigmenwechseln beginnt gleichsam eine neue Zeitrechnung für Musik und Inklusion. Auch wenn diese Zeitrechnung keineswegs bei einem Punkt Null anfängt, sondern auf Jahrzehnte der engagierten Praxis und Erfahrung mit dem Label Integration zurückblicken kann, ist die UN-BRK doch Auslöser für ein grundsätzlicheres „Erwachen“. Keine von öffentlichen Geldern finanzierte Kulturinstitution kann es sich nun mehr leisten, das Thema Inklusion als freiwilliges soziales Engagement zu deklarieren oder zu ignorieren. Die UN-BRK sieht Menschen mit Behinderung nicht als Bitt- und Antragsteller*innen, sondern als Menschen mit Teilhaberechten. Nicht nur das: Die Bundesregierung muss sowohl ihre Bürger*innen in Teilhabeberichten als auch den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf regelmäßig in einem Staatenbericht vom Stand der Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen unterrichten. Die Teilhabeberichte sind zusammen mit den Staatenberichten ein Gradmesser der Umsetzung der UN-BRK auch im kulturellen Bereich. Sie werden vom Bundeskabinett verabschiedet, ein (kritischer) Parallelbericht zum Staatenbericht wird jeweils vom Deutschen Institut für Menschenrechte ebenfalls in Genf vorgelegt. Alle bisherigen Berichte belegen im Übrigen, dass Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen in geringerem Maße als Menschen ohne Behinderungen am Kulturleben teilhaben. 

Begriffsdefinition – Behinderung, Integration, Inklusion und Teilhabe

Die UN-BRK trifft in der Bundesrepublik auf ein politisches, bildungspolitisches und kulturpolitisches Klima, das sich auch vor der „Zeitenwende“ 2009 der Notwendigkeit der Verbesserung von Teilhabemöglichkeiten im Arbeits- und auch im Kulturleben durchaus bewusst ist. Die Erweiterung des Artikel 3 des Grundgesetzes um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ im Jahr 1994 ist dafür ebenso Ausdruck wie das Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) von 2001, das z.­ B. Leistungen zur Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft vorsieht (SGB IX § 58). Wenig später folgt 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), dessen Anliegen u. ­a. die Umsetzung von Barrierefreiheit auf allen Ebenen ist. Beide Gesetze wurden im Übrigen in den letzten Jahren aktualisiert.  Hinter den Gesetzen steht nicht nur das Ringen um die Positionen und Rechte von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft, sondern auch das Ringen um Begrifflichkeiten. An den Diskussionen sind Menschen mit Behinderung, Interessenvertretungen, Verbände, Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen beteiligt – und so können Konfliktlinien nicht verwundern. Keiner der im Folgenden skizierten Begriffe kann letztlich unwidersprochen und ausschließlich definiert werden.

Behinderung
Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gibt es keine übergreifende Kategorie wie „Behinderung“ für Menschen mit einer psychischen oder physischen Schädigung. Das offensichtliche Phänomen wird zur Bezeichnung: ein Krüppel, ein kröpel, d.­ h. ein Krummer, ein Blinder, ein Lahmer, ein Tauber, ein Irrer­ usw. Der Begriff „behindert“ oder „Behinderung“ taucht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in medizinischen Kontexten auf, verbunden mit der Unterscheidung von leistungsfähigen und nicht leistungsfähigen Behinderten. Die Kategorie „nicht leistungsfähig“ wird in Zeiten des Nationalsozialismus für mindestens 200.000 Menschen zur tödlichen Falle. [1] Gegen den medizinisch-defizitorientierten Blick entwickeln die Empowermentbewegungen vor allem der Menschen mit Behinderungen selbst zunehmend Widerstand. [2] 2001 veröffentlicht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF). Ihr Verständnis von Behinderung unterstützt die Forderungen der Empowermentbewegungen nach einem neuen Verständnis von Behinderung, denn sie blickt nicht nur auf den Körper und die Funktionsfähigkeit einzelner Glieder oder Organe, sondern auch auf die Umwelt, auf das Behindertwerden durch die äußeren Umstände. Das sozial-menschenrechtliche Modell der UN-BRK knüpft hier an, wenn es festhält, „dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“ (Präambel e).

Auch wenn Klassifizierungen immer wieder als problematisch gesehen werden – die Leistungsregelung des Staates braucht Kriterien. Und sei es auch „nur“ für die Entscheidung, wem das Recht auf Nutzung eines Behindertenparkplatzes zusteht. Die pragmatische Kategorisierung von Behinderung durch das SBG IX lautet aktuell: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.“ [3]

Statistik Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)
Statistik Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)  
Statistik Altersverteilung der Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)
Statistik Altersverteilung der Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)  
Statistik Arten der Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)
Statistik Arten der Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021)  

Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen können von Geburt an vorhanden, die Folge eines Unfalls oder die Folge einer Erkrankung sein. Nach der jüngsten Erhebung des Statistischen Bundesamts zu Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland (Stand 2021) sind nur etwa drei Prozent der Schädigungen angeboren. 1,5 Prozent werden durch Unfall oder Berufskrankheit erworben, 90 Prozent der Behinderungen sind Krankheitsfolgen.

Die Altersverteilung zeigt: Nur rund vier Prozent der Menschen mit Behinderung sind unter 25 Jahren, die Zahlen steigen mit mehr Lebensjahren langsam an – und fast 60 Prozent der schwerbehinderten Menschen sind 65 Jahre und älter.

In der Bundesrepublik leben derzeit etwa 7,8 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung (schätzungsweise 13,5 Millionen haben insgesamt eine Beeinträchtigung). Mehr als eine Behinderung haben 44,4 Prozent der betroffenen Personen, am häufigsten sind körperliche Behinderungen; etwa 1,4 Millionen Menschen in Deutschland nutzen einen Rollstuhl. [4]

Bei der Klassifizierung der Behinderungen gibt es zahlreiche Modelle und unterschiedliche Einordnungen. Die allgemeinste Gruppierung nennt das SGB IX: körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen. Die Eingliederungshilfe-Verordnung, Orientierungshilfe für die Zuteilung von Leistungen des Staates, nennt zudem Autismus und erworbene Hirnschädigungen, Demenz, Epilepsie und HIV-Infektion. [5]

Die acht Förderschularten bzw. Schulen mit einem Förderschwerpunkt – ehemals Sonderschulen – stellen letztlich ebenfalls eine Kategorisierung dar: Lernen, Sehen, Hören, Sprache, körperliche und motorische Entwicklung, geistige Entwicklung, emotionale und soziale Entwicklung und schließlich die Schule für Kranke.

Das Entstehen neuer Krankheitsbilder mit langwierigen Folgen macht die relative Unbestimmtheit und Wandelbarkeit des Begriffs Behinderung noch augenfälliger.  

Integration
Die Entwicklung des Begriffs „Integration“ beginnt mit der politisch gewünschten Zuwanderung von Arbeitskräften nach Deutschland und der immer längeren Verweildauer auch ihrer Familien. Ein erstes Verständnis von Integration fordert schlicht die Assimilation der Zugewanderten. Die nächste Begriffsgeneration sieht die notwendige Wandlung auch der aufnehmenden Gesellschaft, die aktuelle Generation meint die gegenseitige Anerkennung von Differenz und Diversität und die der Pluralität von Identitäten. [6] Parallel zum Kontext Zuwanderung entwickelt sich die Diskussion um die Integration von Menschen mit Behinderung. Die Jahrzehnte der Nachkriegszeit waren geprägt von der Schaffung von Sonderinstitutionen durch den immer differenzierteren Ausbau von speziellen Schulen und eines eigenen, eines zweiten Arbeitsmarkts in Form der Werkstätten für behinderte Menschen. Die Forderungen nach tatsächlicher Integration, nach Leben und Lernen ohne Aussonderung werden von Menschen mit Behinderungen selbst erhoben und von Vertreter*innen von Wissenschaft und Pädagogik unterstützt. „Gemeinsam leben und lernen“ wird das Motto. Es nimmt die Forderungen der UN-BRK vorweg. Was bis zur „Zeitenwende“ im Kontext Behinderung Integration hieß, heißt heute Inklusion. „Integration“ meint heute überwiegend wieder Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Inklusion
„Inklusion“, im englischen Sprachraum als „inclusion“ längst für ein diskriminierungsfreies und gemeinsames Leben und Lernen in Gebrauch, taucht am bildungspolitischen Horizont in der Salamanca-Erklärung der UNESCO 1994 auf: Die Weltkonferenz „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ fordert weltweit ein Bildungssystem, in dem alle Kinder gemeinsam – inklusiv – unterrichtet werden. Hier beginnt nun ein politisch motivierter Übersetzungskrimi: Inclusion erscheint in der deutschen Übersetzung als Integration. Dies entspricht keineswegs dem Geist der Salamanca-Erklärung, aber einer konservativen deutschen Behindertenpolitik, die u.­ a. die Sondereinrichtungen für Kinder und Erwachsene mit Behinderung erhalten will. [7] Das gleiche Begriffs- und Übersetzungsdrama wiederholt sich rund 15 Jahre später im Kontext der UN-BRK: Auch hier wird das englische „inclusive“ mit „integrativ“ übersetzt. Hintergrund sind konservative Kräfte, die auf diese Weise eine Umstrukturierung des bestehenden Bildungswesens mit ihren Sondereinrichtungen in ein inklusives, gemeinsames System von Anfang an zu vermeiden suchen. [8] Umgehende Proteste und eine „Schattenübersetzung“ der UN-BRK, getragen von 83 Verbänden, haben den Inklusionsbegriff schließlich doch populär gemacht – und heute ist er in so Gebrauch, wie er in der UN-BRK gedacht ist. Wenn aktuell von Inklusion die Rede ist, geht es in der Regel um die Gestaltung einer teilhabegerechten und barrierefreien Gesellschaft für alle, insbesondere für Menschen mit Behinderung. 

Teilhabe
Die bereits erwähnte ICF definiert in ihrer Sprache: Teilhabe ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation. Etwas konkreter: Teilhabe ist mit Fragen nach dem Zugang zu Lebensbereichen, der Daseinsentfaltung, dem selbstbestimmten Leben und der Chancengerechtigkeit verknüpft sowie mit Fragen der Lebenszufriedenheit, der erlebten gesundheitsbezogenen Lebensqualität und der erlebten Anerkennung und Wertschätzung in den Lebensbereichen, die für die betrachtete Person wichtig sind. [9] Zum Begriffskern von Teilhabe gehören u. a. Aspekte der nicht hierarchischen Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft, das Angebot der Wahlmöglichkeiten sowie die Leitidee sozialer Gerechtigkeit, die die Verschiedenheit von Menschen bezüglich ihrer persönlichen Charakteristika, Präferenzen und Lebensentwürfe anerkennt. [10]

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Konzert des Utopia Orchesters, des einzigen inklusiven Amateur-Sinfonieorchesters bundesweit, am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2018 in der Ev. Heilige-Geist Kirche Moabit
Konzert des Utopia Orchesters, des einzigen inklusiven Amateur-Sinfonieorchesters bundesweit, am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2018 in der Ev. Heilige-Geist Kirche Moabit  
Photo:  Markus Werner

Praxis Barrierefreiheit

Das Prinzip Barrierefreiheit besagt, dass alle Bereiche der äußeren Umgebung ebenso wie Informationsquellen und Kommunikationsmedien für alle Menschen ohne fremde Hilfe zugänglich sein müssen. Kann ein Mensch nicht sehen, wird er durch Klicklaute in der Ampelanlage sicher über die Straßenkreuzung geleitet – und mit Hilfe eines Blindenleitsystems am Boden durch das Konzerthaus. Rollstuhlnutzer*innen können ohne fremde Hilfe die Musikschule selbst und auch alle Räume der Musikschule in allen Stockwerken erreichen. Gehörlose Menschen verfolgen einen Vortrag oder auch ein Musikstück mit Hilfe der Gebärdensprachdolmetschung. Fernsehsendungen und Filme sind untertitelt. Für Menschen mit Lern- oder Verständnisproblemen stehen Informationen in Leichter Sprache zur Verfügung. Internetseiten sind barrierefrei.

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 erweitert und präzisiert das Verständnis von Barrierefreiheit. Alle gestalteten Lebensbereiche wie Bauten, Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstände sind demnach barrierefrei, wenn sie „ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind“. [11]

Die Barrierefreiheit neuer öffentlicher Bauten ist gemäß BGG verpflichtend; dies gilt auch für alle Bauten im Kulturbereich. Tatsächlich sind noch nicht alle öffentlichen Kulturbauten barrierefrei. Insbesondere historische Bauten verlangen besondere Lösungen, die noch nicht überall gefunden sind.

In den Bereichen Information und Kommunikation haben sich die meisten Kulturbetriebe – Theater, Kinos, Konzertveranstalter – und hier insbesondere die Empfänger von öffentlichen Fördergeldern auf Menschen mit Behinderung eingestellt. Unter dem Stichwort Barrierefreiheit informieren sie auf ihren Webseiten über ihre entsprechenden Service-Angebote. Einige der Häuser, unter ihnen das Konzerthaus Dortmund, verweisen auf ihre Zertifizierung durch „Reisen für Alle“. Diese Zertifizierung wird seit 2011 mit Unterstützung des Bundeswirtschaftsministeriums entwickelt. War die ursprüngliche Motivation die Förderung des Tourismus, profitiert auch der Kulturbetrieb.  

Was Barrierefreiheit konkret bedeutet, erfährt jeder Veranstaltende im Tun – und Fehler sind beinahe unvermeidlich. Unterstützung gibt es durch mehrere Checklisten im Internet und professionelle Unterstützungsangebote durch Expert*innen. [12] Der Aspekt der Barrierefreiheit ist zum Qualitätsmerkmal kultureller Einrichtungen geworden – ein Paradigmenwechsel! 

Spektrum Behinderung und Musik

Menschen mit Behinderung spielen im Musikleben eine herausragende Rolle, wenn sie herausragende Musiker*innen sind. Wie Thomas Quasthoff, wie Felix Klieser, wie Evelyn Glennie, wie Steve Wonder, wie Ray Charles. Interessant und wichtig ist, dass sie sich in keiner Weise als Botschafter für Inklusion verstehen, ja, dass sie es, wie insbesondere Thomas Quasthoff sogar ablehnen, Repräsentanten für Behinderung, Repräsentanten für ein „Dennoch“, ein „Sogar“, ein „Auch“ zu sein. Sie sind Weltstars für gute Musik und zeigen, dass es Kulturbereiche gibt, in denen Inklusion erreicht ist, gerade weil sie kein Thema mehr ist.

Studien zur Musikalität von Menschen mit Behinderung
Die Musikalität von Menschen mit Behinderung ist so gut wie nicht erforscht. Allerdings gibt es immer wieder kleinere Studien mit Blick auf eine bestimmte Klientel. Bekannt ist seit den 1970er und 1980er Jahren, dass Kinder mit sogenannter Lernbehinderung in musikalischen Tests bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie den Test nicht in der Gruppe, sondern in der Einzelsituation bearbeiten [13]; bekannt ist, dass Kinder an der – wie sie seinerzeit hieß – „Sonderschule für Lernen“ ein grundsätzliches Interesse an Musik haben und beginnen, die Musik zu lieben, die sie in der Schule kennenlernen. [14] Breit angelegte Studien zur Musikalität, zum Musikkonsum, zu musikalischen Vorlieben und zu musikalischer Begabung und Entwicklung von Menschen mit Behinderung allgemein oder zu Menschen mit bestimmten Behinderungen liegen bis heute nicht vor. Allerdings gibt es ein Mosaik unterschiedlicher Arbeiten zwischen Erfahrungsberichten, Einzelfallstudien, Staatsarbeiten und Promotionen, das insgesamt die positive Wirkung der Musik für Empowerment und persönliche Entwicklung der Menschen mit Behinderung bestätigt – und ebenso die positive Veränderung des Blicks auf Menschen mit Behinderung, wenn diese ein Instrument spielen [15] oder in der Öffentlichkeit musizieren. [16]

Statistische Daten über den Konsum bestimmter Stilrichtungen oder Musikpraxis von Menschen mit bestimmten Behinderungen liegen nicht vor. Daher sind Berichte und Fallbeispiele, deren Erfahrungen systematisiert werden, die wesentliche Grundlage für die Weiterentwicklung des Themenfelds Musik und Inklusion. 

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Ensemble Tanzorchester Paschulke beim Dortmunder Inklusiven Soundfestival im Freizeitzentrum West 2023
Ensemble Tanzorchester Paschulke beim Dortmunder Inklusiven Soundfestival im Freizeitzentrum West 2023  
Photo:  Oskar Neubauer

Teilhabe – Musikrezeption

Der Blick auf das Freizeitverhalten von Menschen mit Behinderung ist auch ein Blick auf den Musikkonsum. Beginnend 1982 wird das Freizeitverhalten in Abständen von etwa zehn Jahren immer wieder erforscht – oft in Verbindung mit dem Mobilitätsverhalten. Eines der Ergebnisse: Musikhören ist in allen Rankings der Freizeitaktivitäten von Menschen mit Behinderung bzw. Menschen mit geistiger Behinderung auf den oberen Plätzen – allerdings als Aktivität zu Hause. Konzertbesuche oder andere kulturelle Aktivitäten rangieren weit unten: Haupthindernis ist die Mobilität – und die Frage der Begleitung. Ein Instrument spielen – das kommt in den Items manchmal, oft aber nur ungenau vor, wenn es heißt „gemalt, musiziert, gebastelt“. [17] Waren Menschen mit Behinderung im öffentlichen Kulturleben, in Konzerten und anderen Kulturveranstaltungen lange Jahrzehnte so gut wie nicht zu sehen, hat sich das Bild auch hier mit der UN-BRK geändert. Zahlreiche Initiativen unterstützen den Veranstaltungsbesuch von Menschen mit Behinderung und akzentuieren das Musikleben neu.

Dennoch hören nach einer Studie von 2015 Menschen mit geistiger Behinderung Musik weiterhin meist zu Hause und dies öfter als gewünscht. [18] Der Besuch insbesondere von klassischen Konzerten ist immer noch schwierig, nicht zuletzt auch aufgrund unterschiedlicher körperlicher und stimmlicher Reaktionen mancher Menschen mit geistiger Behinderung auf Musik. [19] Tatsächlich stellt sich die Frage nach traditionell-adäquatem Konzertverhalten  bei den meisten Menschen mit geistiger Behinderung nach guter Vorbereitung nicht. Im Gegenteil: Das Erleben wird „zum schönsten Tag des Lebens“. [20] Das Prinzip der „Relaxed Performance“, ursprünglich von der Autismus-Community in Großbritannien entwickelt, ermöglicht im Übrigen auch denjenigen den Besuch von künstlerischen Veranstaltungen, denen der übliche Verhaltenscode von geräuschlosem Zuhören nicht möglich ist.

Das größere Problem ist der Veranstaltungsbesuch überhaupt. Ausgehend von der Idee der Kulturloge, nicht verkaufte Eintrittskarten an Menschen mit geringem Einkommen weiterzugeben, organisieren seit etwa 2014 Initiativen wie der „Kulturschlüssel“ in verschiedenen Bundesländern sogenannte Kulturspenden in Form von Eintrittskarten, die sie von Veranstaltern, Theatern, Vereinen oder Stadtverwaltungen kostenlos erhalten. Diese Karten werden an „Kulturgenießende“ verteilt, die schließlich mit „Kulturbegleitenden“ die Veranstaltung besuchen. Beispiele für die meist regional orientierten Initiativen sind der „Kulturschlüssel Saar“ oder der „Kulturschlüssel Niedersachsen“. Ausnahmslos wird diese Art der Kulturarbeit mit dem Auftrag der UN-BRK begründet.

2013 wird die Wirksamkeit der Angebote der Kulturloge Berlin untersucht, verbunden mit der Beschreibung der Folgen für Verantwortliche, Besucher*innen, Vermittlungspersonen und Menschen mit Behinderung. Das Fazit: Die Präsenz von Menschen mit Behinderung im Kulturleben stärkt die Inklusion. Alle Beteiligten, Verantwortliche, Besucher*innen und Menschen mit Behinderung machen in der Begegnung neue Erfahrungen. Verbindend ist das gemeinsame Interesse an Kultur. [21]

Teilhabe – Musikalische Praxis

Musikmachen, ein Instrument erlernen – das ist im Kontext „Behinderung“ bis in die 1970er Jahre eine eher ungewöhnliche Idee. Die Verknüpfung Behinderung und Therapie scheint damals ebenso selbstverständlich wie unauflöslich. Gelegentlich gibt es „Revolutionäre“, die sich über die Zuschreibung „Nicht lernfähig“ oder „bildungsschwach“ empören. Einer von ihnen ist Horst Tögel, der 1977 an seiner Schule in der Brenzstraße in Ludwigsburg mit einer kleinen Schulband beginnt. Die Brenz Band spielt bis heute nach eigener Aussage „Grätschen von Mozart über die 70er und 80er Jahre bis zu Volksliedern“, die Kinder von damals sind als Erwachsene immer noch dabei. Die Brenz Band macht mit ihrer populären Musik eine internationale Karriere zwischen China, Ecuador und arabischen Ländern und hat die Hymne des VfB Stuttgart mit eingespielt.

Die Brenz Band auf der Chinesischen Mauer
Die Brenz Band auf der Chinesischen Mauer  
Photo:  Reiner Pfisterer
Konzert der Brenz Band in China
Konzert der Brenz Band in China  
Photo:  Reiner Pfisterer
Brenz Band
Brenz Band  
Photo:  Reiner Pfisterer
Aufnahme der Hymne des VfB Stuttgart
Aufnahme der Hymne des VfB Stuttgart  
Photo:  Reiner Pfisterer
Mitglied der Brenz Band bei der Aufnahme der Hymne des VfB Stuttgart
Mitglied der Brenz Band bei der Aufnahme der Hymne des VfB Stuttgart  
Photo:  Reiner Pfisterer
Mitglieder der Brenz Band bei einem Spiel des VfB Stuttgart
Mitglieder der Brenz Band bei einem Spiel des VfB Stuttgart  
Photo:  Reiner Pfisterer

Das Bochumer Modell
1979 beginnt in Bochum der Modellversuch „Instrumentalspiel mit Behinderten“, initiiert von Werner Probst, seit 1969 Professor für „Musik bei Behinderten“ an der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr. Überzeugt davon, dass Schüler*innen von Sonderschulen auch an den Musikschulen unterrichtet werden können, erprobt und entwickelt Probst mit seinem Team in den Jahren bis 1983 Konzept und Methoden des Instrumentalunterrichts und Ensemblespiels. Als „Bochumer Modell“ sind die Grundideen bis heute lebendig, die Musikschule Bochum gilt als „Herzschule der Inklusion“. In der Erkenntnis der Notwendigkeit, Lehrer*innen an Musikschulen für das Unterrichten von Kindern zusätzlich auszubilden, initiiert Probst den Lehrgang BLIMBAM, der bis heute in einer zweijährigen Weiterbildungsphase Musiklehrer*innen auf die inklusive Arbeit an ihren Musikschulen vorbereitet. BLIMBAM feiert im Januar 2023 sein vierzigjähriges Bestehen; etwa 500 Lehrer*innen wurden mittlerweile ausgebildet. An der Hälfte der rund 900 öffentlichen Musikschulen werden etwa 11.500 Schüler*innen mit Behinderung unterrichtet.

Der Modellversuch ist auch Start für Ensembles der Musikschule Bochum, Ensembles, die bis heute Teil des regionalen und überregionalen Musiklebens sind. Allen voran die Big Band just fun, 1998 gegründet und bis heute geleitet von Claudia Schmidt, die zusammen mit Robert Wagner, dem Leiter der Musikschule Fürth, und Otto Kondzialka auch den Lehrgang BLIMBAM gestaltet. just fun steht für, Rock, Jazz, Ethno, Rap, Ska und Samba. Der jüngste Auftritt war vor dem Brandenburger Tor bei der Abschlussveranstaltung der Special Olympics 2023.

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Die inklusive Band just fun der Musikschule Bochum im Jazzclub domicil in Dortmund 2022
Die inklusive Band just fun der Musikschule Bochum im Jazzclub domicil in Dortmund 2022  
Photo:  Neubauer

Weitere Wegbereiter
1989 gründet der Rockmusiker und Heilerzieher Kay Boysen das legendäre Ensemble Station 17, bestehend aus den Bewohnern der Wohngruppe 17 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Es feiert 2019 30-jähriges Bestehen. Das BlueScreen Ensemble des Blauschimmel Atelier entsteht 1999 unter der Leitung von Jochen Fried, der Schwerpunkt ist experimentelle Klangerforschung und improvisierte Musik auch mit neu entwickelten Instrumenten. Heute ist das Ensemble einer von 20 Partnern des Netzwerks klangpol für zeitgenössische Musik im Nordwesten.

Gemeinsam ist diesen Pionieren bei aller Unterschiedlichkeit der Musikstile die Überzeugung vom musikalischen Potenzial von Menschen mit Behinderung – verbunden mit dem gesellschafts- und kulturpolitischen Auftrag, dieses öffentlich sichtbar und Teil des Musiklebens werden zu lassen zu einer Zeit, in der niemand ahnte, dass eine UN-BRK kommen würde.

Zwei Projekte bzw. Initiativen sind Teil der Musik-und-Inklusion-Geschichte der Bundesrepublik: Der  Förderpreis InTakt und das Orchesterprojekt „Accompagnato“. Von 2004 bis 2019 vergibt die miriam-Stiftung Dortmund einmal jährlich den Förderpreis InTakt: einen Einzelpreis an Personen, die innovative und gut übertragbare Konzepte und Ideen für – in damaligem Sprachgebrauch – integratives musikalisches Arbeiten entwickeln und einen Gruppenpreis für integrativ orientierte Musikensembles, in denen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zusammen Musik machen. Der Blick auf die Preisträger*innen – in den 15 Jahren bis 2019 werden insgesamt 28 Preise vergeben – ist ein Blick in die Zeitgeschichte, in die vielen Facetten des Themas Musik und Inklusion zwischen Pop und Hochkultur.

Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung an das Ensemble Thonkunst aus Leipzig
Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung an das Ensemble Thonkunst aus Leipzig  
Photo:  Schaper
Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung BlueScreen Ensemble des Blauschimmel Ateliers Oldenburg
Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung an das BlueScreen Ensemble des Blauschimmel Ateliers Oldenburg  
Photo:  Schaper
Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung an Claudia Schmidt, Leiterin des Ensembles just fun im Dortmunder Rathaus
Verleihung des Förderpreises InTakt der miriam-stiftung an Claudia Schmidt, Leiterin des Ensembles just fun im Dortmunder Rathaus  
Photo:  miriam-stiftung

Noch vor der UN-BRK geht die Württembergische Philharmonie Reutlingen 2008 als ganzes Ensemble eine nie gekannte Kooperation ein: Sie spielt zusammen mit dem improvisierenden Experimentalorchester Halle 016 der Diakonie Reutlingen und entwickelt mit dem Komponisten Bernhard König ein Stück nach grafischer Partitur. Keiner der Beteiligten möchte die Erfahrungen missen. 2008 ist die Premiere im Rahmen des Festivals Kultur vom Rande. Ein Beispiel, wie elementare instrumentale Fähigkeiten mit professionellen Klängen zusammenklingen, ein Beispiel für unvoreingenommenes Entdecken besonderer musikalischer Ausdruckskompetenzen von Menschen mit besonderer Biografie.

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Netzwerke und Initiativen nach 2009
Als Folge der UN-BRK erweitern und profilieren sich nach 2009 bestehende Projekte, es bilden sich neue Netzwerke und Initiativen. Künstlerisch entwickeln sich neue musikalische Ansprüche zwischen Pop und Hochkultur, Chor und Instrumentalmusik neue Berufsfelder entstehen für Pädagog*innen und für musikorientierte Menschen mit Behinderung. Heute ist die Wirkung der UN-BRK in den Medien und im Musikleben allmählich zu sehen. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben Standards für die Untertitelung.  Die Privaten ziehen nach und erhöhen allmählich den Anteil untertitelter Sendungen. Die Filmförderung verlangt die Audiodeskription bei von ihr geförderten Projekten. Alle großen Veranstaltungshäuser verweisen auf ihren Webseiten auf die Barrierefreiheit oder weisen zumindest auf mangelnde Barrierefreiheit hin. Neue Kooperationen lassen neue künstlerische und interdisziplinäre Projekte entstehen. Manche der künstlerischen Hochschulen sind offener für Inklusion. Die Welt ist bunter geworden, Inklusion ein wenig selbstverständlicher.

Dortmunder Modell: Musik
Im Jahr 2010 ist das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt Europas. Inklusion und Barrierefreiheit sind in vielen Veranstaltungen nicht nur Worthülsen. Beim spektakulären Day of Song mit 55.000 Sänger*innen in der Gelsenkirchener Veltins-Arena „spricht“ eine große Gruppe von gehörlosen Menschen mit den Händen u. a. den Text des Gefangenenchorsund zeigt den Hörenden die Ästhetik des Gebärdenchors.

2010 beginnt mit dem Dortmunder Modell: Musik, ein dreijähriges Projekt der musikalischen Erwachsenenbildung und der Inklusion. Der Grundgedanke des Bochumer Modells, das die grundsätzliche musikalische Kompetenz aller Kinder sieht, gilt auch für Erwachsene: Jeder Mensch, der will, kann ein Instrument lernen. In den Werkstätten für behinderte Menschen in Dortmund werden zunächst viele hundert Werkstattbeschäftigte nach ihren musikalischen Interessen befragt. Die Antworten lassen den Chor „stimmig“ und für 80 Menschen Instrumentalunterricht entstehen. Den Chor wird es fast 10 Jahre bis zum Beginn der Corona-Pandemie geben, die inklusiven Ensembles piano plus, Tonstudio 13, Tanzorchester Paschulke, nia extended version und das Kollektiv I can be your translator gibt es bis heute.

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Arbeitsplatz Musik
Eine der Folgen des Dortmunder Modells ist der Wunsch einiger Teilnehmer*innen nach musikalischer Professionalität. Das neue Themen- und Arbeitsfeld „Musik als Beruf“ ist geboren. In Zusammenarbeit mit dem Integrationsfachdienst Christopherus-Haus Dortmund bietet das Projekt „Tonstudio 13“ nun eine zweijährige Qualifizierung an, die an zwei Wochentagen stattfindet und neben der Qualifizierung am Instrument schon in Auftritte mit verschiedenen Bands und in viele Veranstaltungen führt. Ähnliches geschieht an der Musikschule Fürth mit dem Projekt „Berufung Musiker*in“. In Süddeutschland existiert bereits das Netzwerk ILAN – Inclusion Life Art Network, das sich intensiv darum bemüht, Strukturen für eine künstlerische Tätigkeit und Arbeit außerhalb der Werkstatt für behinderte Menschen zu schaffen. Kein leichtes Unterfangen – aber in der Nutzung des sogenannten Persönlichen Budgets, das Menschen mit Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch zusteht, liegen Chancen für ein Berufsleben mit künstlerischem Schwerpunkt. [22]

Musikschulen
Die inklusive Praxis in den Musikschulen wächst – nicht zuletzt auch wegen der immer größeren Zahl der durch BLIMBAM ausgebildeten Lehrkräfte. 2014 veröffentlicht der Verband deutscher Musikschulen die Potsdamer Erklärung, die sich der Leitidee einer inklusiven Gesellschaft verpflichtet. Inklusion bezieht sich hier tatsächlich nicht nur die Gruppe der Menschen mit Behinderung, sondern meint eine „Musikschule für alle", d. h. „Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationshintergrund sowie Erwachsene und Senioren mit jeweils spezifischen Bedürfnissen bis hin zu Hochbegabten“. [23]

Orchesterprojekte
Neben dem bereits erwähnten Projekt „Accompagnato“ in Reutlingen entstehen auch andernorts Orchesterprojekte. Im Rahmen des Projekts „Klangbrücke“ arbeitet das Ostbayerische Jugendorchester ab 2011 mit der Cabrini-Schule zusammen, einem heil- und sonderpädagogischen Zentrum für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung in Offenstetten. Es führt in den Erarbeitungsphasen und den Konzerten zu einem Zusammentreffen von Menschen, die sich sonst vermutlich kaum begegnet wären – und zudem zur künstlerischen Erfahrung eines eigens für diesen Anlass komponierten Werks.

„Feel the Music“ ist seit 2012 ein Langzeitprojekt des Mahler Chamber Orchestra: Hat ein Tournee-Ort eine Schule für Gehörlose, sucht das Orchester Kontakt mit dieser und ermöglicht den Schüler*innen ganz besondere Hör- und Wahrnehmungserfahrungen in Workshops und beim experimentellen Instrumentalspiel. 20 solcher Projekte in den Städten der Welt hat das Orchester durchgeführt, einige davon auch in Deutschland – in Dortmund und Bonn.

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Ausbildung und Studium

Das Thema Ausbildung und Studium hat im Wesentlichen zwei Schwerpunkte: zum einen die Ausbildung von Studierenden mit Behinderung für eine musikalische Professionalität und zum anderen die Ausbildung von Studierenden für eine musikalisch-künstlerische und pädagogische Professionalität in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Im Allgemeinen haben die Absolvent*innen von Musikhochschulen, einige wenige von ihnen mit Behinderung, höchst unterschiedliche biografische, künstlerische und pädagogische Wege  vor sich. Manche der Studierenden mit körperlicher Beeinträchtigung wie Felix Klieser oder Matthias Berg machen eine bedeutende Karriere als Musiker. Ausnahmekünstler wie Thomas Quasthoff machen im Übrigen auch ohne Hochschulstudium eine Weltkarriere.

Der Auftrag der öffentlich finanzierten Hochschulen ist in jedem Fall die Ausbildung von Menschen mit Behinderung selbst und ebenso die Ausbildung und Qualifizierung von Studierenden für die pädagogisch-künstlerische Arbeit mit Menschen mit Behinderung. In beiden Bereichen befindet sich die Mehrzahl der Musikhochschulen und Konservatorien noch in einem gewissen Anfangsstadium. Einen ersten Masterstudiengang Inklusive Musikpädagogik/Community Music für die musikalische Arbeit mit Menschen mit Behinderung hat die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt eingerichtet.

EUCREA, seit mehr als 30 Jahren der Dachverband zum Thema Kunst und Inklusion im deutschsprachigen Raum, hat mit dem Pilotprojekt ARTplus eine künstlerische Ausbildung und Qualifizierung für Kreative mit Behinderung an verschiedenen künstlerischen Hochschulen initiiert – überwiegend im Bereich der bildenden Kunst, aber auch mit einer Sparte Musik. Gefördert wird ARTplus als länderübergreifendes Projekt u. a. auch von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Claudia Roth.

Ausblick

Der Blick auf das Musikleben zeigt eine Fülle von „Maßnahmen“ und „Projekten“ von unterschiedlicher Dauer. Einzelprojekten und „Highlight“ wie „Accompagnato“ stehen sich wiederholende Projekte wie „Feel the Music“ gegenüber – und gleichzeitig finden sich die auf Dauer angelegten Angebote der Musikschulen. Inwieweit alle Menschen erreicht werden, die erreicht werden könnten, muss offenbleiben. Manche Menschen brauchen vielleicht nur eine kleine Ermutigung, manche Eltern von Kindern mit Beeinträchtigung brauchen vielleicht eine gezielte Information darüber, wie aktiver Umgang mit Musik die kindliche Entwicklung und die Inklusion fördert – und wer entsprechende Angebote machen kann. Manche Erwachsene mit Beeinträchtigung brauchen vielleicht Informationen darüber, dass das Spielen eines Instruments in jeder Lebensphase und Lebenssituation „funktioniert“. Und – das ist der Blick auf die andere Seite – immer mehr Musiker*innen brauchen schon in ihrer Studienzeit die Erfahrung, wie bestätigend,  heiter aber auch herausfordernd es sein kann, vor sehr unterschiedlichen Menschen zu spielen und mit ihnen Musik zu machen, um später bewusst und qualifiziert vielleicht auch im Feld Musik und Inklusion tätig zu werden.

Beim Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahre kann der Eindruck entstehen, es habe sich viel getan. Für die, die dabei waren und sind, hat sich in der Tat viel und sehr viel getan – in mehrfachem Sinne. Der übergeordnete Blick sieht etwas anderes.

Im August 2023 wurde in Genf von der UN-Kommission zur Umsetzung der UN-BRK der Zweite und Dritte deutsche Staatenbericht der Bundesrepublik geprüft. Als Antwort auf die Berichte hat das Komitee am 3. Oktober 2023 die sogenannten „Abschließenden Bemerkungen“ zu jedem Artikel der UN-BRK veröffentlicht. Diese werden von den jeweiligen Regierungen durchaus auch als Kritik gelesen, auch wenn sie relativ neutral als „Handlungsempfehlungen“ formuliert sind.

Die Empfehlungen des Komitees zu Artikel 30 beziehen sich auf insgesamt fünf Bereiche, zwei von ihnen sind im Kontext Musik von besonderer Bedeutung. Ein erstes Augenmerk richtet sich auf die Zugänglichkeit von Veranstaltungsorten – hier werden mehr Anstrengungen zur Schaffung von flächendeckender Barrierefreiheit gefordert. Ein weiteres Augenmerk richtet sich auf das Thema Ausbildung. Das Komitee fordert „in enger Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen die Eingliederung in und die Zugänglichkeit zu allen Studiengängen der kreativen Künste“. [24]

Die Musikhochschulen und Konservatorien haben also vom Komitee in Genf klare Hausaufgaben bekommen. Aufgaben, die durchaus auch ein neues Verständnis vom gesellschaftlichen Auftrag der eigenen Institution beinhalten. Die zentrale Herausforderung ist nicht die Schaffung neuer Studiengänge mit neuen Sondersituationen, sie liegt in der Inklusion des Themas Inklusion in das bestehende System. Das bedeutet künstlerisch und pädagogisch neue Wege. Immerhin, einige Wegweiser sind schon aufgestellt.

Über die Autorin

Dr. Irmgard Merkt ist Musikpädagogin und war bis 2014 als Professorin im Lehrgebiet Musikerziehung und Musiktherapie in Pädagogik und Rehabilitation bei Behinderung an der Technischen Universität Dortmund tätig. Dem Fachbereich ist sie seit ihrer Emeritierung als Lehrbeauftragte verbunden. Sie hat zahlreiche Projekte zur Inklusion in der Musik durchgeführt, darunter das Dortmunder Modell: Musik. Für ihr Engagement wurde sie 2020 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet.

Footnotes

  1. Vgl. Petra Fuchs: "Behinderung" – eine bewegte Geschichte, in: Anne Waldschmidt (Hrsg.): Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022,  S. 35-53. Online unter https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-18925-3_3  (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  2. Vgl. Claudia Gottwald: Behinderung, in: Lexikon socialnet (24.06.2019). Online unter https://www.socialnet.de/lexikon/Behinderung  (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  3. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch 2018 § 2. Online unter https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__2.html  (Zugriff:  22. Oktober 2023).  
  4. Zu den statistischen Angaben zu Menschen mit Behinderung (Stand 2021) vgl. Statistisches Bundesamt: Behinderte Menschen. Online unter https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Behinderte-Menschen/_inhalt.html (Zugriff: 22. Oktober 2023).  
  5. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2009: Der Behinderungsbegriff nach SGB IX und SGB XII und die Umsetzung in der Sozialhilfe. Orientierungshilfe. Online unter https://www.bagues.de/spur-download/bag/orientierungshilfe_behinderungsbegriffendf_24112009.pdf und https://www.bagues.de/de/veroeffentlichungen/orientierungshilfen-und-empfehlungen/#top (Zugriff: 22. Oktober 2023).  
  6. Vgl. Bernhard Parisius: Integration, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2021. Online unter  https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/integration (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  7. Vgl. Petra Flieger: Die Salamanca Erklärung und der Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse. Anmerkung zur Aktualisierung der Übersetzung. Online unter  http://bidok.uibk.ac.at/library/unesco-salamanca.html (Zugriff: 22. Oktober 2023).  
  8. Vgl. Hans Wocken: Über die Entkernung der Behindertenrechtskonvention. Ein deutsches Trauerspiel in 14 Akten, mit einem Vorspiel und einem Abgesang, in: Zeitschrift für Inklusion online-net, 4/2011. Online unter https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/80 (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  9. Vgl. Rehadat: Lexikon zur beruflichen Teilhabe. Online unter  https://www.rehadat.de/lexikon/Lex-Teilhabe (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  10. Vgl. Peter Bartelheimer: Teilhabe – Versuch einer Begriffsbestimmung, in: Gudrun Wansing, Markus Schäfers und Swantje Köbsell (Hrsg.): Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes, Wiesbaden 2022. Online unter https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-38305-3_2  (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  11. Behindertengleichstellungsgesetz BGG. Online unter  https://www.gesetze-im-internet.de/bgg/__4.html (Zugriff: 22. Oktober 2023).
  12. Vgl. Kultur für alle des Expertennetzwerks konzept barrierefrei. Online unter https://konzept-barrierefrei.de/branchen/kultur-und-freizeit/kultur-fuer-alle/ oder Checkliste der Aktion Mensch Barrierefreie Veranstaltungen. Online unter: https://www.aktion-mensch.de/inklusion/bildung/impulse/barrierefreiheit/barrierefreie-veranstaltungen oder Agentur Barrierefrei NRW. Online unter https://www.ab-nrw.de/veranstaltungen-und-kultur.html alle (Zugriff 22. Oktober 2023).
  13. Vgl. Werner Probst: Messung musikalischer Begabung bei lernbehinderten Sonderschülern, in: Heese und Reinartz (Hrsg.): Aktuelle Probleme der Lernbehindertenpädagogik, Berlin 1973.
  14. Vgl. Franz Amrhein: Die musikalische Realität des Sonderschülers. Regensburg 1983.
  15. Vgl. Juliane Christine Gerland: Auswirkungen von Musik auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Eine Untersuchung zur Entwicklung einer musizierenden Klasse Dortmund 2014. Online unter https://eldorado.tu-dortmund.de/handle/2003/33786 (Zugriff: 22. Oktober 2023).  
  16. Vgl. Meike Wieczorek: Teilhabe durch performative Musikpraxis. Eine Untersuchung zur gesellschaftichen Akzeptanz von Menschen mit Behinderung bei öffentlich musikalischen Auftritten, Dortmund 2018. Online unter https://eldorado.tu-dortmund.de/handle/2003/38134 (Zugriff 22. Oktober 2023).
  17. Vgl. Reinhard Markowetz: Freizeit behinderter Menschen, in Guenther Cloerkes Soziologie der Behinderten. Eine Einführung. Unter Mitwrikung von Reinhard Markowetz, Heidelberg 1997, S. 269-299.
  18. Vgl. Vera Tillmann Teilhabe am Verkehrssystem Einfluss selbständiger Mobilität auf die Freizeitgestaltung junger Menschen mit geistiger Behinderung Wiesbaden 2015.
  19. So berichtete eine Mutter mit großem Bedauern von der Unmöglichkeit des Besuchs klassischer Konzerte in der Elbphilharmonie, da ihr Kind mit geistiger Behinderung bei klassischer Musik jauchzt und springt. Vgl Birte Müller: Ein Konzert für alle – außer Willi, in: Spiegel panorama 13. Februar 2017. Online unter https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/ganz-harte-schule-behinderte-in-der-elbphilharmonie-a-1133130.html (Zugriff: 23. Oktober 2023).
  20. Martin Brechtmann: Klassische Musik an der Schule für Geistigbehinderte? Vorbereitung auf die Teilnahme am Musikleben. Erste Staatsarbeit für das Lehramt an Sonderschulen TU Dortmund. Unveröffentlichtes Manuskript 1998.
  21. Vgl. Monika Seifert: Kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ergebnisse einer Befragung von Gästen der Kulturloge Berlin mit Behinderung und Darstellung der Workshop-Diskussion, in: Birgit Mandel und Thomas Renz (Hrsg.): Mind the gap! Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung, Hildesheim 2014, S. 42–47. Online unter https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/year/2014/docId/201 (Zugriff: 23. Oktober 2023).
  22. Vgl. Lis Marie Diehl und Irmgard Merkt: Musik als Beruf? Überlegungen aus dem Dortmunder Modell: Musik, in: Andrea Zoyke, Kirsten Vollmer (Hrsg.): Inklusion in der Berufsbildung. Befunde – Konzepte – Diskussionen, Bielefeld 2016, S. 179–187. Online unter https://www.agbfn.de/dokumente/pdf/agbfn_18_diehl_merkt.pdf (Zugriff: 23. Oktober 2023).  
  23. Musikschule im Wandel. Inklusion als Chance. Potsdamer Erklärung 16. Mai 2014. Online unter https://miz.org/de/dokumente/potsdamer-erklaerung  (Zugriff: 23. Oktober 2023). Zur inklusiven Arbeit der Musikschulen vgl. auch Verband deutscher Musikschulen (Hrsg.): Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen. Arbeitshilfe, Bonn 2017. Online unter  https://www.musikschulen.de/projekte/inklusion/arbeitshilfe (Zugriff: 23. Oktober 2023).  
  24. Committee on the Rights of Persons with Disabilities. Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Germany. 03. October 2023. Online unter https://tbinternet.ohchr.org/_layouts/15/treatybodyexternal/Download.aspx?symbolno=CRPD%2FC%2FDEU%2FCO%2F2-3&Lang=en (Zugriff: 23. Oktober 2023).