Das Ensemble Piano Plus der Musikschule Bochum
Das Ensemble Piano Plus der Musikschule Bochum  
Photo:  Oskar Neubauer
Menschen mit Beeinträchtigung, die Musikunterricht nehmen möchten, haben oft das Problem, dass es keine passenden Angebote in ihrer Umgebung gibt. Nicht so im Ruhrgebiet, wo seit über 40 Jahren das „Bochumer Modell“ dafür sorgt, dass alle, die Instrumental- oder Gesangsstunden nehmen möchten, eine fundierte Ausbildung erhalten.

Im „normalen Leben“ hat Anna Reizbikh vor Kurzem ihr Studium der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Bochum beendet. Die meisten aber kennen sie als Schauspielerin oder als Sängerin in verschiedenen Rock-, Pop- oder Jazz-Formationen, von der Big Band bis zum Zwei-Personen-Projekt. Dass sie heute als Rollstuhlfahrerin auf der Bühne performen und ihr Publikum mitreißen kann, ist leider noch immer keine Selbstverständlichkeit. Zum einen werden Menschen mit Beeinträchtigung in der Musik- und Veranstaltungsbranche nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne marginalisiert. Zum anderen fehlt es selbst in größeren Städten oft an Angeboten, die sie in die Lage versetzen, eine Karriere als Musiker*in überhaupt nur in Betracht zu ziehen. Dafür müsste man nämlich erst einmal ein Instrument lernen oder seine Stimme ausbilden lassen, wozu Menschen mit Behinderung nicht überall die Möglichkeit haben. So gesehen war es für Anna Reizbikh (heute 26) ein großer Glücksfall, dass sie und ihre Familie aus Georgien ausgerechnet nach Bochum zogen.

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Anna Reizbikh als Sängerin des Ensembles Just Fun
Anna Reizbikh als Sängerin des Ensembles Just Fun  
Photo:  Oskar Neubauer

Als Anna Reizbikh, die zunächst die Regelgrundschule besuchte, dann auf eine Förderschule für körperliche und motorische Einschränkungen wechselte und schließlich auf einem regulären Gymnasium ihr Fachabitur ablegte, mit zwölf Klavierunterricht nehmen wollte, gab es an der Musikschule Bochum genau das passende Angebot für sie. Seit über 40 Jahren wird hier Musikunterricht erteilt, der sich speziell an Menschen mit Einschränkungen richtet. Mittlerweile ist der Name „Bochumer Modell“ deutschlandweit zum Begriff geworden, viele musikpädagogische Einrichtungen auch in anderen Städten orientieren sich an dem Konzept, das an der Bochumer Musikschule einen eigenen Fachbereich bildet. Hervorgegangen ist es aus einem Modellversuch, den der Gründungsdirektor Werner Probst im Jahr 1979 gestartet hatte. In seiner Nachfolge organisiert heute der Geigenlehrer und Ensemble-Leiter Rainer Buschmann das Bochumer Programm, und auch wenn er damals selbst noch nicht daran beteiligt war, weiß er über die Anfänge gut Bescheid.

„Mit seinem Modellversuch wandte sich Werner Probst an angehende Lehrer*innen, die in die Förderschulen gehen sollten, um Schüler*innen im weiteren Sinne für Musik zu interessieren“, berichtet Buschmann. Rund zehn Studierende aus dem Fach „Musik bei Behinderten“, das Probst als Professor der damaligen Pädagogischen Hochschule Ruhr in Dortmund unterrichtete, suchten Schulen auf, an denen Kinder mit unterschiedlichen, sowohl körperlichen als auch geistigen Beeinträchtigungen unterrichtet wurden. „Wenn das allgemeine Interesse geweckt war, wurde den Schüler*innen instrumentaler oder vokaler Unterricht an ihrer jeweiligen Förderschule angeboten und – bei weiterem Interesse – an der Musikschule.“ Dabei hatte Werner Probst nicht nur Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen im Sinn. Über die Förderschulen hinaus erstreckte sich sein Modellversuch auch auf die Hauptschulen, wo er sich gezielt an die Kinder von Migrant*innen wandte, denen damals der Zugang zu Realschulen und Gymnasien oftmals verwehrt war. „Einer der ersten Fälle von so genannter aufsuchender Pädagogik“, merkt Rainer Buschmann an, „auch in dieser Hinsicht war Probst seiner Zeit voraus.“

Nach gründlicher Evaluierung des Versuchs wurde schließlich und offiziell das Bochumer Modell ins Leben gerufen, das sich in seinen Grundzügen bis heute nicht verändert hat, auch wenn es sich in Sachen Quantität und Vielfalt deutlich weiterentwickelt hat. Die Schüler*innen mit Einschränkungen können – von der Geige bis zum Jazzgesang – prinzipiell jeden instrumentalen oder vokalen Unterricht wählen, der an der Bochumer Musikschule angeboten wird. „Am beliebtesten ist natürlich die Gitarre“, sagt Rainer Buschmann, fügt aber hinzu, dass auch andere Instrumente sehr nachgefragt seien. Wie den anderen Schüler*innen der Musikschule auch, steht den Teilnehmenden am Bochumer Modell je nach Fach und Können die Mitwirkung an einem der schuleigenen Ensembles offen. Altersgrenzen gibt es keine: Das Angebot richtet sich, von der musikalischen Früherziehung bis zum Erwachsenenunterricht, an alle Generationen. Sowohl Einzel- als auch Gruppenunterricht sind möglich.

„Als das Bochumer Modell gestartet wurde, gab es dazu einen offiziellen Ratsbeschluss der Stadt Bochum“, berichtet Rainer Buschmann. Bewilligt wurden zunächst nicht mehr als 20 Stunden in der Woche, da der Unterricht im Rahmen des Modells zu vergünstigten Preisen angeboten wurde – und noch immer wird. Während etwa Schüler*innen unter 25 Jahren heute für herkömmliche Einzelstunden auf einem Instrument oder in Gesang 88,50 Euro im Monat bezahlen (45 Minuten pro Woche ohne Ermäßigung), liegt der Tarif für das Bochumer Modell bei nur 24 Euro. Statt der ursprünglichen 20 Stunden stehen der Abteilung seit 2008 80 Stunden zur Verfügung. Auch die Anzahl der Lehrenden hat sich mit heute 35 speziell geschulten Lehrkräften im Vergleich zu den Anfängen mehr als verdreifacht. Auf diese Weise können derzeit rund 250 Personen im Rahmen des Bochumer Modells unterrichtet werden, die meisten davon in den Gebäuden der Musikschule selbst, nicht zuletzt im 2016 eröffneten Annelise Brost Musikforum Ruhr, wo Menschen mit Beeinträchtigung heute den Musikschulalltag ganz selbstverständlich mitbestimmen.

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Sarah Klinger (Mitte) beim Schlagzeugunterricht
Sarah Klinger (Mitte) beim Schlagzeugunterricht  
Photo:  Oskar Neubauer

Die im Bochumer Modell engagierten Lehrenden verfügen zumeist über eine pädagogische Zusatzausbildung, vermittelt durch den einmal jährlich stattfindenden, seinerzeit ebenfalls von Werner Probst eingeführten „Berufsbegleitenden Lehrgang Instrumentalspiel mit Behinderten an Musikschulen“, kurz BLIMBAM. Angeboten wird er von der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid, und zwar seit ähnlich langen Jahren, wie das Bochumer Modell selbst existiert. „Wichtig zu unterscheiden ist, dass es sich nicht um ein therapeutisches, sondern um ein Freizeitangebot handelt – obwohl es sicherlich für viele auch eine therapeutische Wirkung hat“, sagt Rainer Buschmann noch einmal in aller Deutlichkeit. Keinesfalls sollen Schüler*innen mit und ohne Beeinträchtigung isoliert voneinander ausgebildet werden, sondern vielmehr bei zahllosen Gelegenheiten aufeinandertreffen und gemeinsam musizieren. Neben öffentlichen Klassenvorspielen, bei denen alle ihr Talent (und ihren Fleiß) unter Beweis stellen können, bieten die kleineren und größeren Ensembles der Bochumer Musikschule Möglichkeiten zum Austausch.

Das wohl schillerndste Aushängeschild in diesem Zusammenhang dürfte die Großformation „Just Fun“ sein, die derzeit aus rund 35 Musiker*innen mit und ohne Beeinträchtigung besteht und sich jeden Mittwoch im Gebäude der Musikschule Mitte zum Proben trifft – unter Leitung von Claudia Schmidt, die auch den BLIMBAM-Lehrgang an der Akademie in Remscheid mitleitet. Die stilistische Vielfalt ist – von Rock/Pop bis Jazz, von Rap bis Samba – ebenso groß, wie die Besetzung bunt ist: eine Big Band mit exotischen Instrumentalzugaben wie Mundharmonika und Akkordeon und natürlich auch einer Gesangsgruppe, zu der das Multitalent Anna Reizbikh den entsprechenden Star- und Glamourfaktor beisteuert. In ihrer langen Geschichte hat die Combo schon so manchen Höhepunkt erlebt, darunter auf Sommerfesten verschiedener Bundespräsidenten gespielt, aber auch gemeinsame Konzerte mit Größen wie Brenda Boykin oder Peter Maffay bestritten. Wer den Erfolg des Bochumer Modells nicht in Zahlen, sondern in Musik messen möchte, findet hier eine eindrucksvolle Bestätigung.   

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Das Ensemble Just Fun der Musikschule Bochum
Das Ensemble Just Fun der Musikschule Bochum  
Photo:  Oskar Neubauer

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!