Szene aus "Le vin herbé" von Frank Martin an der Oper Frankfurt.
"Le vin herbé" von Frank Martin an der Oper Frankfurt.  
Foto:  Barbara Aumüller
Neues wagen, Vergessenes wiederbeleben, Bewährtes aktualisieren: Das Erstellen von Spielplänen ist komplex. Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt, spricht im Interview über die finanziellen und künstlerischen Herausforderungen, die Gattung Oper lebendig zu erhalten.

MIZ: Die künstlerische Arbeit der Musiktheater hat sich durch die Corona-Pandemie stark verändert. Wie sieht das in Frankfurt aus? Was haben Sie bei den Inszenierungen zu beachten?

LOEBE: Alles richtet sich nach der Pandemie: Der Chor muss in sehr reduzierter Form singen, und in unseren Orchestergraben dürfen gerade einmal 27 Musikerinnen und Musiker hinein. Dementsprechend muss das Repertoire ausgesucht werden, und diverse Opern können nur mit verkleinerter Orchesterbesetzung gespielt werden. Außerdem müssen wir darauf achten, dass die Sängerinnen und Sänger die Abstände einhalten und sich nicht zu nahekommen. Manchmal haben wir auch Probleme, das Bühnenbild nach hinten zu schieben, damit der geforderte Sechs-Meter-Abstand vom Bühnenbild bis zur Orchestergrabenkante eingehalten werden kann. Es gibt also sehr viele Dinge, die man zu berücksichtigen hat.

MIZ: Welche Veränderungen mussten Sie im Spielplan vornehmen?

LOEBE: Bei den Wiederaufnahmen gab es einige Einschränkungen, aber bei den Premierentiteln konnten wir uns auf die Situation einstellen und Werke in Originalbesetzung präsentieren, auch wenn die Orchesterbesetzung nicht so opulent ist. Bei „Le vin herbé“ von Frank Martin z. B. braucht man gerade neun bis zehn Musikerinnen und Musiker – für eine solche Corona-Situation ein ideales, gleichwohl ein fantastisches Werk. Anfang der Spielzeit haben wir „The Medium“ von Menotti mit konzertanten Ergänzungen gebracht und im Oktober einen Pergolesi-Abend mit „La serva padrona“ und „Stabat mater“. „La serva padrona“ haben wir mit einem Ehepaar besetzt, sodass sich Sänger und Sängerin durchaus nahekommen konnten.

Statt Umberto Giordanos „Fedora“ wird Christof Loy einen Abend mit Liedern von Tschaikowsky inszenieren, nur mit Klavier auf der Bühne. „Fedora“ werden wir dann mit denselben Sängern konzertant geben. Außerdem haben wir einen Wechsel von „Aida“ zu „Luisa Miller“, bei dem die Besetzung wie bei „Aida“ bestehen bleibt und wir mit weniger Orchester und kleinerem Chor eine gute musikalische Qualität erzielen können. Und so geht das weiter bis zum Ende der Spielzeit.

„Wir wollen immer wieder zeigen, dass die Oper als Gattung eine lebendige Gattung ist.“
Autor
Bernd Loebe

MIZ: Sie mussten also stark improvisieren. Wie lang ist denn normalerweise der Vorlauf bei einem Spielplan?

LOEBE: Drei bis vier Jahre. Manchmal hatten wir uns schon die Chance erträumt, auch mal improvisieren zu dürfen, um zu zeigen, dass die sogenannten schwerfälligen Tanker in Deutschland, die großen Opernhäuser, dazu auch fähig sind. Jetzt können wir unter Beweis stellen, dass wir aus dem Moment heraus agieren können und alle Abteilungen in einem Haus dabei mitziehen.

MIZ: Wenn Sie an die Zeit vor Corona denken: Von welchen künstlerischen und sicher auch wirtschaftlichen Erwägungen lassen Sie sich normalerweise leiten?

LOEBE: Wir wollen immer wieder zeigen, dass die Oper als Gattung eine lebendige Gattung ist. Das bedeutet, wir graben selten gespielte Werke aus, und wir machen darüber hinaus Uraufführungen – im Schnitt pro Spielzeit mindestens eine. Unser Publikum ist sehr neugierig und willig mitzuziehen. Und natürlich sind wir in der Lage, die Kernwerke des Repertoires, durch die man mit vollem Haus andere Werke erst finanzieren kann, immer wieder zur Diskussion zu stellen. Es kann spannend sein, diese Meisterwerke zu präsentieren, wenn ein Regisseur interessante Aspekte aus einem solchen Werk filtert und eine gute musikalische Leistung dazukommt.

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Szene aus "Le vin herbé" von Frank Martin an der Oper Frankfurt.
"Le vin herbé" von Frank Martin an der Oper Frankfurt.  
Foto:  Barbara Aumüller

MIZ: Wir haben untersucht, welche Bedeutung dem Kernrepertoire bei den Besuchszahlen zukommt: In den Spielzeiten 2014/15 bis 2018/19 sorgten die 20 beliebtesten Opern für 45 Prozent des Publikums. Wie kommt es zu dieser Dominanz? Sicher wird es auch in Frankfurt bei Aufführungen von bekannten Werken mehr Publikum geben als bei neueren Stücken, oder?

LOEBE: Wir merken das vor allem bei den Wiederaufnahmen. Selbst ein „Schlaues Füchslein“ oder „Die Sache Makropulos“ von Janáček –  bei uns ein durchgesetzter Komponist, dessen Qualität unbestritten ist – wird bei einer Wiederaufnahme in Frankfurt nur zu einer Auslastung von 50 bis 60 Prozent führen. Das ist für unsere Verhältnisse sehr, sehr niedrig, denn aufs Jahr gesehen haben wir normalerweise eine Auslastung von 88 Prozent. Es bereitet mir Kopfschmerzen, warum es diese Werke – die Stücke von Benjamin Britten gehören auch noch dazu – so schwer haben, sich beim großen Opernpublikum durchzusetzen. Dennoch müssen wir sie immer wieder bringen.

Bei Uraufführungen haben wir kein Problem bei einer ersten Serie von sieben, acht Vorstellungen – „Der Mieter“ von Arnulf Herrmann oder „Lost Highway“ von Olga Neuwirth waren beispielsweise beide bombenvoll. Würden wir davon eine Wiederaufnahme machen, gerieten wir in Schwierigkeiten. Im Idealfall brauchen wir den langen Atem, diese Werke trotzdem aufzuführen.

Man gerät als Intendant, der künstlerische Ideen und Utopien hat und gerne sehr wagemutig wäre, immer wieder an die Grenzen der finanziellen Realisierbarkeit. Doch aufs Jahr gerechnet muss der finanziell Verantwortliche eines Hauses seinem Arbeitgeber einen ausgeglichenen Etat präsentieren. Das kann nur gelingen, indem auch populäre Werke wie „Rigoletto“ oder die Da Ponte-Opern von Mozart angesetzt werden.

MIZ: Wie lange laufen die Produktionen bei Ihnen durchschnittlich?

LOEBE: Neuproduktionen haben zwischen sieben und 14 Aufführungen im Jahr. Es gibt Inszenierungen, die 10, 15 Jahre im Repertoire sind, aber natürlich nicht jedes Jahr gespielt werden, und es gibt Werke, die man nach zwei Serien und nach vielleicht insgesamt 15 Vorstellungen schon wieder absetzen muss.

MIZ: Das kommt auf den Publikumszuspruch an?

LOEBE: Ja, leider. Wir hatten aber in den letzten Jahren eine große Ausnahme. Wir halten unsere „Frau ohne Schatten“, die Christof Nel 2003 gemacht hat, für eine maßstäbliche Inszenierung. Bei jeder Wiederaufnahme sagen wir uns, das ist das letzte Mal, weil eine „Frau ohne Schatten“ in Frankfurt kein Kassenschlager ist. Wenn wir dann aber sehen, wie begeistert das Publikum ist, bringen wir es nicht übers Herz, die Produktion einzustampfen und zeigen sie doch nach drei Jahren noch einmal. Da fällt der künstlerische Intendant dem Geschäftsführer – diese Funktionen sind in Frankfurt in meiner Person vereint – auch mal ins Wort und sagt, das ist eine Qualität einer Deutung, die man nicht vom jeweiligen Abendverkauf abhängig machen darf.

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Szene aus Pergolesis "Stabat mater" 2020/21 an der Oper Frankfurt.
Pergolesis "Stabat mater" 2020/21 an der Oper Frankfurt.  
Foto:  Barbara Aumüller

MIZ: Welche Rolle spielen das Ensemble und die Verpflichtung internationaler Gäste in Frankfurt?

LOEBE: Frankfurt hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten dahingehend einen Namen gemacht, dass wir mit den finanziellen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, sehr gute Besetzungen machen. Dabei haben wir immer ein Auge und ein Ohr für den Nachwuchs – einen Nachwuchs, den wir durch unser Opernstudio z. T. selbst heranziehen. Wir haben inzwischen 30 Prozent unseres Ensembles mit ehemaligen Opernstudio-Mitgliedern besetzt.

Das Ensemble kann sehr viel eigenständig leisten; eine Mozart-Oper können wir sehr gut dreifach besetzen. Aber wenn es um die Spinto-Partien bei Verdi geht oder um Tristan und Co. bei Wagner, sind wir auf Gäste angewiesen. Durch gute Kontakte gelingt es uns, sehr etablierte Sängerinnen und Sänger zu unseren finanziellen Konditionen zu gewinnen. Das freut mich natürlich, weil es zeigt, dass Frankfurt mittlerweile einen solchen Ruf hat, dass Gäste ihren Auftritt nicht allein von der Gage abhängig machen, sondern auch nach Regie, Dirigat und Kollegen fragen. Wenn ein Sänger oder eine Sängerin dann das Gefühl hat, in ein spannendes Gesamtprojekt eingebettet zu werden, kann man durchaus über die Gage verhandeln.  

Manche Sängerinnen und Sänger sind natürlich außerhalb unserer Möglichkeiten, aber wir wollen auch nicht unbedingt diesen Starkult betreiben. Bei uns zählt die Bereitschaft des Ensembles und der Sänger, auf der Bühne aufeinander zu reagieren und miteinander etwas zu kreieren. Die Situation, dass sich ein Sänger an die Rampe stellt und den Starkult auf Kosten eines Werkes und einer Ensemblequalität auslebt, ist glücklicherweise auch von unserem Publikum gar nicht mehr so gewünscht.

Sängerinnen und Sänger sind bei uns ein Kundenbindungsinstrument. Wir ziehen unser Publikum durch hochwertige Ensemblemitglieder ins Haus, die drei, vier, fünf, manchmal sogar zehn Jahre bei uns bleiben, bevor sie sich entscheiden, freiberuflich zu sein. Wir vergessen manchmal, dass Sänger ein Zentrum jeder Aufführung sind und ohne sie Musiktheater nicht stattfinden könnte – ein Aspekt, den ich manchmal in den Musikkritiken vermisse.

MIZ: Wählen Sie auch manchmal Stücke danach aus, dass sie besonders gut zum Ensemble passen?

LOEBE: Natürlich. Ich habe zwar eigentlich immer schon eine Idee von einer neuen Spielzeit, aber wir haben jetzt z. B. einen neuen Bariton im Ensemble, bei dem ich überlege, welchen langfristigen Plan ich ihm präsentieren kann, damit es für ihn Sinn ergibt, vier, fünf, sechs Jahre fest in Frankfurt engagiert zu sein. Das kann man natürlich nicht bei jeder Sängerin und jedem Sänger machen, denn dann würde man den roten Faden verlieren, aber man muss Sängern, Dirigenten oder Regisseuren eine Chance geben.

MIZ:  Wohin entwickelt sich das Musiktheaterrepertoire durch die Corona-Krise? Erwarten Sie eine langfristige Veränderung des Repertoires? Oder sogar eine Chance für das zeitgenössische Musiktheater?

LOEBE: Ich befürchte fast das Gegenteil. Ich sorge mich, dass wir finanziell alle so am Boden liegen werden, dass wir erst einmal angehalten sind, besonders populäre Spielpläne zu machen. Ich habe meine Pläne zwar schon bis fast 23/24 gemacht und werde sie mit Haut und Haaren verteidigen. Es kann aber durchaus sein, dass mit Blick auf die Finanzen gefordert wird, statt acht Premieren nur sechs zu machen oder bei acht Premieren zwei Titel hineinzunehmen, die ein volles Haus garantieren.

Wir werden wahrscheinlich durch Corona enorm in die Schulden geraten und müssen anschließend erst einmal die Scherben zusammenkehren. Wir wissen nicht, ob uns die Stadt Frankfurt, wenn es hart auf hart kommt, unter die Arme greift. Tendenziell ist die Losung ausgegeben worden, dass wir selbst mit dem Problem fertigwerden müssen. Das können wir gewährleisten, solange die Pandemie das normale Arbeiten verhindert und damit automatisch die Möglichkeit besteht, Kurzarbeit anzumelden. Damit können wir einen Großteil der Mindereinnahmen wettmachen. Gleichwohl, aufs Jahr betrachtet wird die Oper Frankfurt ein Defizit von neun oder zehn Millionen haben. Bei dieser Zahl wird mir etwas mulmig.

Es wird also dauern, bis alles wieder gerichtet ist und die Chance zurückkehrt, über die hochintellektuellen Spielpläne nachzudenken, die einem Intendanten viel mehr Spaß machen, als die 20 bekanntesten Opern auf die Bühne zu bringen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview fand am 2. November 2020 statt. Die Fragen stellte Karin Stoverock.

Bernd Loebe ist seit 2002 Intendant der Oper Frankfurt und Geschäftsführer der Städtischen Bühnen. Seit März 2009 hat er das Amt des Vizepräsidenten der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste inne. Im Juni 2010 wurde er zum Vorsitzenden der Deutschen Opernkonferenz gewählt.
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