164 Uraufführungen in fünf Jahren: Musiktheater und Festivals in Deutschland halten die Gattung Oper lebendig und entwickeln sie stetig weiter – mit neuen Stücken, Dramaturgien und Spielformen. In den fünf Spielzeiten 2014/15 bis 2018/19 wurden nahezu so viele nach 1945 entstandene Opern gespielt wie vorher entstandene. Dennoch werden die wenigsten zu Repertoirestücken – insbesondere von den nach 1980 komponierten Werken wird nicht eines regelmäßig an Opernhäusern inszeniert. Und nur 7,7 Prozent der Besuche entfielen auf die nach 1945 entstandenen Werke.
Geschmack und Musikverständnis des Opernpublikums sind durch das Kernrepertoire von Mozarts „Le nozze di Figaro“ bis Puccinis „Turandot“ geprägt. Der Wunsch nach Neuem muss im Opernbereich aktiv geweckt werden. Dafür geben viele Bühnen in Deutschland eigenständig Werke in Auftrag. Um für das Publikum attraktiv zu sein, kommen bekannte Stoffe aus Politik, Geschichte, Literatur oder lokale Themen auf die Bühne: Beispiele sind etwa „Falscher Verrat“ von Marco Tutino 2018 am Theater Kiel über die Matrosenaufstände nach dem Ersten Weltkrieg oder „Marx in London“ 2018 am Theater Bonn anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx. Zusätzlich produzieren Mehrspartentheater multimediale, spartenübergreifende Stadtprojekte. Viele dieser Uraufführungen werden durch Förder-Institutionen unterstützt. So stellt der Fonds Experimentelles Musiktheater des Landes Nordrhein-Westfalen nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch dramaturgisches Know-how zur Verfügung, und der „Doppelpass“-Fonds der Kulturstiftung des Bundes führt freie Künstler mit Tanz- und Theaterhäusern zusammen. Die so entstehenden, oft ästhetisch innovativen Produktionen sind jedoch meist nicht als Aufführungsmaterial für Neuinszenierungen konzipiert, nicht zuletzt, weil sie sich vielfach der Aufführung auf der Guckkastenbühne entziehen, da sie Parameter wie Multiperspektive oder elektronisch verstärkten und bearbeiteten Raumklang verlangen.
Dennoch bleibt es wichtig, neue Stücke zu spielen, sich mit aktuellen gesellschaftlichen und ästhetischen Entwicklungen auch auf der Musiktheaterbühne auseinanderzusetzen. Die Arbeit am zeitgenössischen Musiktheater setzt Impulse, für das Musikverständnis jedes einzelnen, nicht zuletzt auch für die szenische und musikalische Arbeit an den etablierten Repertoire-Stücken. Wie wesentlich diese Impulse werden können, zeigt sich da, wo die zeitgenössische Musik organischer Teil im Gesamtprogramm eines Hauses ist. So kuratiert Anselm Dalferth am Staatstheater Mainz seit Jahren die „Hörtheater“-Reihe, bei der die zeitgenössische Musik als eine Art Zugmaschine spartenübergreifender, von der Hörerfahrung her gedachten Stückentwicklungen fungiert. Und an der Oper Halle hat das Team um Intendant Florian Lutz in zwei kompletten Spielzeiten das Theater zur Raumbühne umgestaltet, um (nicht nur) der zeitgenössischen dramatischen Musik ein angemessenes Bühnenumfeld zu bieten.
Bei Festivals kann aufgrund des Event-Charakters und der räumlichen Gegebenheiten häufig mit ästhetischen Experimenten als prominenten Programmpunkten geplant werden. In den gewaltigen Fabrikhallen der Ruhrtriennale etwa versuchte Heiner Goebbels während seiner Intendanz von 2012 bis 2014, Werke von John Cage, Louis Andriessen und Harry Partch für das Opernrepertoire zu gewinnen. Auch etliche kleinere Festivals setzen sich intensiv für eine zeitgenössische Musikdramatik ein. Die Schwetzinger SWR Festspiele etwa programmieren seit Langem jedes Jahr ein für das historische Schwetzinger Rokoko-Theater maßgeschneidertes musikdramatisches Experiment – mit großer Publikumsresonanz.
Es steht also nicht schlecht um das zeitgenössische Musiktheater, auch wenn es ein wenig an auf Repertoiretauglichkeit ausgerichteten Konzepten fehlt. Dies wird sich auch durch die Corona-Pandemie und ihre Folgen für das Theater und ihre Spielpläne kaum ändern. Dabei ist die zeitgenössische Musikdramatik eigentlich durch viele Parameter – von Zuspielungen vom Band bis zu meist wenig Personal auf der Bühne – prädestiniert für die Krisen-Spielpläne. Vorläufig schlägt sich dies jedoch vor allem durch die Programmierung von Pasticcios mit zeitgenössischen Anteilen oder neuen Überschreibungen bekannter Opern nieder, weniger durch Wiederbegegnungen mit Werken, die in den letzten Jahren uraufgeführt wurden. Dabei liegt hier eine große Chance für die öffentlich geförderten Theater, die immerhin 73,8 Prozent der Uraufführungen von 2014/15 bis 2018/19 ermöglicht haben – und das nicht nur finanziell. Das eine oder andere dieser Stücke dürfte sich bei einer Wiederbegegnung aus anderem Blickwinkel als Schatz erweisen.