Foto eines Flurs im oberen Stockwerk eines Gefängnisses mit hellgelb gestrichenen Türen
Gang mit Zellentüren in der JVA Lübeck.  
Foto:  Lübecker Nachrichten, Wolfgang Maxwitat
Inhaftierte Menschen je nach Situation bei ihren musikalischen Vorlieben und Fähigkeiten abzuholen, ist das Ziel von Stephan Fleck. Annette Ziegenmeyer und Julia Peters sprachen mit dem Musiker über seine Erfahrungen als Chorleiter in der Justizvollzugsanstalt Lübeck und darüber, wie er Menschen ermutigt, Neues zu wagen. 

ANNETTE ZIEGENMEYER UND JULIA PETERS: Lieber Stephan, vielen Dank, dass Du Dir für das heutige Interview Zeit genommen hast. Möchtest Du Dich zu Beginn einmal kurz vorstellen?

STEPHAN FLECK: Ich bin Stephan Fleck, Jahrgang 1964. An der Musikhochschule Lübeck habe ich Instrumentalpädagogik studiert. Seit 1997 betreibe ich eine private Musikschule. Darüber hinaus bin ich Chorleiter. Seit 2019 bin ich in dieser Funktion in der Justizvollzugsanstalt Lübeck tätig, zunächst als Chorleiter für den Männer- und seit 2022 auch für den Frauenchor. Mittlerweile biete ich ebenfalls Instrumentalunterricht, vornehmlich für Gitarre und Klavier und Keyboard an.

ZIEGENMEYER: Kannst Du uns einen Einblick in deine musikpädagogische Arbeit an der JVA Lübeck geben? Wie arbeitest Du mit den Chören?

FLECK: Die Proben finden, wie bei vielen anderen Chören auch, zu festen Terminen statt. Begleitet werde ich dabei von der Pastorin der JVA. Lieder werden sowohl von mir als auch von den Sängerinnen und Sängern der Chöre vorgeschlagen. In der Regel wird einstimmig gesungen, nur selten wird ein Lied mit einer Begleitstimme unterlegt. Wichtig ist, ein Gefühl für die Gemeinschaft zu erlangen, also im wahrsten Sinne des Wortes mit einer Stimme zu singen. Und wie in jeder anderen Singgemeinschaft gibt es auch hier Menschen, die „Ämter“ übernehmen, beispielsweise das Verwalten der Noten.

ZIEGENMEYER: Was sind für Dich die größten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten in Bezug auf Deine Tätigkeit als Chorleiter „drinnen“ und „draußen“?

FLECK: Im Grunde genommen sehe ich ganz viele Gemeinsamkeiten. Die Leute, die in der JVA zu den Chorproben erscheinen, kommen mit der Absicht zu singen und nicht einfach nur herumzusitzen und zuzuhören. Die einen singen lauter, die anderen singen leiser, die einen singen ganz richtig, die anderen singen etwas „kreativer“. Und je nachdem, wie es der Sache dient, kann man das akzeptieren, oder man kann damit arbeiten und dies als Herausforderung sehen.

PETERS: Inwieweit arbeitest Du im Kontext des Strafvollzugs didaktisch anders als im freien Kontext?

FLECK: Wichtiger Part einer Chorprobe ist das Einsingen. Diesen praktizieren wir gerne mit einfachen Liedern. Es versteht sich natürlich, dass diese Lieder von den meisten gekannt und vor allen Dingen gemocht werden. Beispielsweise das Lied „Aloha He“ von Achim Reichel hat sich bei den Teilnehmenden etabliert.

Um sie dort abzuholen und sich dann später ein bisschen differenzierter der Sache zu nähern, arbeite ich gerne mit Dynamik (laut, leise), sodass sie auch hier die Unterschiede in ihrer Stimme erfahren können. Dann kann ich sagen: „Für dieses Problem gibt es einen kleinen Trick!“ und habe sie dann in der Übung drin. Die Reihenfolge ist manchmal sehr spontan. Deswegen ist, wie immer, eine strukturierte Vorbereitung wichtig, damit ich innerhalb dieses Plans, wenn nötig, improvisieren kann. Die Sängerinnen und Sänger fordern von mir eine Struktur, die sie ggf. auch selbst mitbestimmen können.

„Die einen singen lauter, die anderen singen leiser, die einen singen ganz richtig, die anderen singen etwas ‚kreativer‘.“
Autor
Stephan Fleck

PETERS: Kannst Du uns etwas von den Liedern erzählen, die ihr singt?

FLECK: Das Liedrepertoire ist so vielfältig und unterschiedlich wie die Sängerinnen und Sänger. Das fängt bei den „Moorsoldaten“ an, geht weiter mit der Moritat von „Mackie Messer“ und beinhaltet neben Schlagern und Rockballaden auch Titel anglo-amerikanischer Singer-Songwriter und deutschsprachiger Liedermacher. Mittlerweile entstehen auch persönliche Top-10-Listen. Das hilft natürlich auch bei der Liedauswahl, und es ist gut zu sehen, wie die Teilnehmenden sich organisieren und andere Mitgefangene dazu motivieren mitzusingen.

ZIEGENMEYER: Wie wählst Du die Lieder aus?

FLECK: Ich suche die Lieder vor allen Dingen danach aus, inwieweit die Sängerinnen und Sänger angesprochen werden und sich ansprechen lassen. Das kann themengebunden sein, folgt gerne auch persönlichen Wünschen und spontanen Eingebungen. Auch wenn es vielleicht schwer vorstellbar ist, herrscht in den Proben eine Atmosphäre der gegenseitigen Achtung und Aufmerksamkeit, die sehr inspirierend sein kann, vor allem auch für die Auswahl der Lieder. Wichtig ist für mich der Aspekt, dass die Musik von den Gefangenen in den Alltag getragen werden kann und sie bestenfalls durch den Alltag trägt. Nicht als Trost, das wäre scheinheilig, aber vielleicht als eine gesungene Idee für etwas Neues. Die Gefangenen berichten mir sogar von Alltagserlebnissen, wo sie dann die Lieder mal gesungen haben oder sagen z. B.: „Mensch, lass uns mal dieses Lied singen! Das hab' ich neulich in der Wäscherei oder in der Tischlerei gehört, alle haben dieses Lied mitgesungen.“

ZIEGENMEYER: Neben den Zielen, die Du schon angesprochen hast: Welche Aspekte sind Dir als Chorleiter in deiner Arbeit wichtig und welche Haltung hast Du dabei?

FLECK: Erst einmal gehe ich mit der Haltung da hinein, dass ich den Menschen auf Augenhöhe begegne. Auch in dem Wissen, dass es sich hier um Straftäter handelt, die nicht nur wegen Schwarzfahrens dort sitzen, sondern ganz im Gegenteil durch alle Strafmaße gehen. Da muss ich meine eigenen Vorurteile völlig zurückstellen. Mir helfen zwei Ansatzpunkte: Erstens sind diese Menschen verurteilt und sitzen dort eine Strafe ab. Diese Strafe kann ich gutheißen oder auch für zu gering erachten oder für zu hoch, aber sie sitzen dort eine Strafe ab, es ist also nicht mehr an mir, das zu bewerten. Ein anderer Gedanke, der von meiner Kollegin, der Pastorin, kommt, ist: „Kein Mensch ist als Mörder geboren. Der hat auch noch eine Vorgeschichte, die davorsteht. Und wenn wir ihn da kriegen, dann erleben wir einen ganz anderen Menschen.“

Ich muss nicht jeden gleich gerne haben. Es gibt Menschen, die sind mir sehr sympathisch. Es gibt Menschen, die sind mir weniger sympathisch, im Grunde genommen wie im richtigen Leben. Man nimmt sie mit ins Boot, man verteilt Aufgaben, sucht Lieder raus, stellt Dinge zusammen.

ZIEGENMEYER: Inwiefern spielt die Musik oder das Musikerleben im Chor auch jenseits des Chores eine Rolle für die Insassen? Überträgt sich das auch auf die Bediensteten in der JVA, oder ist das eine Sache, die nur unter den Gefangenen stattfindet?

FLECK: Der Gesang trägt sich, und somit auch die Gefangenen in und durch die restlichen Tage der Woche, und insofern spielt er eine ganz große Rolle.

Ich habe einmal einen Weihnachtsgottesdienst begleitet. In diesem Fall wurde ich gefragt, ob der Chor auch singen kann, zwei drei Lieder, und auch den Song „Halleluja“ von Leonard Cohen. Das war das letzte Lied, was in diesem Gottesdienst gesungen wurde, und es war auch der letzte von den drei Gottesdiensten am Heiligabend, die dort abgehalten wurden. Bevor wir das Lied gesungen haben, habe ich zu den Sängern gesagt: „So, Jungs, ich möchte jetzt mit euch das Lied ‚Halleluja‘ von Leonard Cohen singen. Wir haben einen Vorsänger, der das macht und ich möchte, dass der Refrain von allen gesungen wird.“ Im Refrain überrollte mich plötzlich eine wahre stimmliche Wucht. Alle sangen mit: Bedienstete, Psycholog*innen, Pastor*innen, Gefangene. Einer der Gefangenen hatte Tränen in den Augen und lachte dabei. Da musste ich dann doch einmal schlucken. Ich möchte jetzt nicht sagen, für den Moment waren die Schranken aufgehoben, aber es war ein besonderer Moment. So wie von E.T.A. Hoffmann beschrieben: „Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.“

Anderes Beispiel: Weihnachtskonzert. Einer der Sänger sagt: „Ich singe nicht mit. Ich habe Angst, mich da zu blamieren.“ Ein guter Sänger und intelligenter Mann, textsicher, melodiesicher, alles, was man eigentlich braucht, um eine gute Gesangsleistung im Chor hinzukriegen. Da habe ich zehn Minuten lang versucht ihn vom Gegenteil zu überzeugen, und er wurde immer fester. Drei Wochen vor diesem Konzert habe ich dann gesagt: „Gut, dann singst du nicht mit, ist völlig in Ordnung. Ich akzeptiere das.“ Dennoch wollte ich, dass er in der Gemeinschaft bei den anderen dabei ist und auch ein Chorhemd trägt, denn dieses war ja auch extra für ihn angeschafft worden. Fünf Minuten vor dem Auftritt sagte er zu mir: "Ich sing‘ doch mit.“  Im Stillen hab‘ ich mir das gewünscht, aber nicht gefordert. Ich habe mich bei ihm für sein Vertrauen mir gegenüber bedankt. Vielmehr beeindruckt hat mich aber sein Mut und auch das Vertrauen, was er sich selbst gegenüber aufgebracht hat. Er war völlig beseelt und sagte: „Mensch, das war ja ganz toll, hätte ich nicht gedacht.“ Das war ein großer, sehr großer Schritt. Da hatte er für sich ein Problem, ist da durchgegangen und ist daran gewachsen.

Wenn bei einem Chorkonzert der Gefängnischor gemeinsam mit einem von außen auftretendem Chor singt und die dort stehen, also mit den anderen Chorsängern zusammen, dann hat es etwas Großes, wenn die Chorsänger auf einmal zu diesem Konzert auch noch ein extra Hemd bekommen. Das ist für sie ganz wichtig. Sie fühlen sich zu einer Sache zugehörig hier drinnen akzeptiert, so harte Männer und Frauen das auch mitunter sind.

PETERS: Du hast jetzt viel erzählt von den positiven Aspekten, die das Musizieren hat. Welche Situationen sind schwierig? Wo sind besondere Herausforderungen in der musikalischen Arbeit?

FLECK: Der Chor setzt sich zusammen aus sehr unterschiedlichen Bildungsniveaus. Und Musikalität und Intelligenz sind zwei Sachen, die sich nicht immer unbedingt ausschließen. Ich rede jetzt nicht unbedingt von der kognitiven Intelligenz, sondern auch von der Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und sich in Beziehung zu setzen. Das bedarf schon einiger Leistung. Manchmal habe ich Menschen in meiner Gruppe, die sind ein bisschen einfacher gestrickt. Manche von denen kriegen es mit, die sind dann eher ein bisschen leiser und zurückhaltend und freuen sich über ihre kleinen Erfolge. Andere kommen vielleicht aus der Hooligan-Szene und pöbeln erst einmal laut herum. Das muss man auch mit Freundlichkeit einfangen. Das, was nachher als Gruppe dabei rauskommt, ist eine ganz andere Geschichte und bestimmte gruppendynamische Prozesse entwickeln sich natürlich daraus, wie ich musikalisch darauf eingehe. Ein Kritikpunkt, der immer gerne kommt, ist: „Sing nicht so viele englische Sachen, wir können nicht so gut Englisch.“

Einige der Singenden haben gar kein Englisch gelernt und auch sonst bisher nur eine sehr rudimentäre Schulbildung genossen. Es frustriert, wenn Menschen etwas machen sollen, was sie nicht leisten können, oder das Gefühl haben, sie könnten es nicht. Manchmal gelingt es mir, diese Sängerinnen und Sänger vom Gegenteil zu überzeugen, manchmal gehe ich aber auch einen Schritt zurück. Letztendlich steht die Freude am gemeinsamen Singen im Vordergrund.

PETERS: Was können die Sänger*innen in Deinem Chor vielleicht auch in Bezug auf das Erreichen des Vollzugsziels der Resozialisierung lernen bzw. mitnehmen für später?

FLECK: Einer der Gefangenen hatte kurze Zeit bei mir im Chor mitgesungen, der sitzt jetzt im offenen Vollzug. Er kann sich also schon draußen bewegen, um beispielsweise zu arbeiten. Der singt meines Wissens in einem Chor mit. Wenn es so laufen kann, dann hat das Singen in diesem Fall nachhaltig geprägt und zur Resozialisierung beitragen.

ZIEGENMEYER: Was für Fähigkeiten bzw. Voraussetzungen und welche Haltung muss man selbst mitbringen, wenn man im Kontext des Strafvollzugs musikpädagogisch arbeiten möchte, z. B. als Chorleiter*in oder Instrumentalpädagog*in?

FLECK: Also, ich denke, man muss sich von diesem Vorurteil lösen. Du darfst keine unbegründeten Ängste haben. Jedes Chormitglied, das dort mitsingt und auf die Idee käme, mich irgendwie als Geisel zu nehmen, um irgendwas zu erpressen, würde nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mitgefangenen ins eigene Fleisch schneiden, und das würde keine guten Kritiken geben von den Kollegen. Die stützen sich untereinander ziemlich stark. Da passiert nicht viel und wenn ich mal ein Wort des Unmutes höre, da geht man darauf ein. Es steht mir nicht zu, in dem Moment da irgendwie autoritär zu sein. Man muss Ängste überwinden und man muss wissen, dass die Leute, die dort leben, ihre Haft verbüßen. Die haben eine Straftat begangen. Ich frage nicht nach der Straftat, manchmal erzählen die Gefangenen von selbst, oder sie lassen es bleiben. Die meisten erzählen es mir irgendwann. Auch so etwas muss sich entwickeln.

Und wenn ich sehe, da kommt eine Sängerin an oder ein Sänger, die/der zwar hochmotiviert ist, aber überhaupt nicht das stimmliche Rüstzeug mitbringt, ja, auch das muss ich irgendwie auffangen, und das kleinste Bisschen so werten und so einordnen, dass sie/er eine wahrnehmbar wichtige Rolle im Chorgeschehen hat. Viel Geduld und Freundlichkeit …

Ich fühle mich diesen Menschen gegenüber auch verpflichtet. Und dann ist es eigentlich egal, ob ich beispielsweise mit Gefangenen oder Menschen in Freiheit zusammenarbeite – die Menschen wollen etwas von mir, und wenn sie etwas nicht können, was ich vielleicht von ihnen erwarte oder sie von sich erwarten, dann muss ich ihnen das auch irgendwann gegenüber kommunizieren, aber immer auf eine Art und Weise, welche ermutigt, Neues zu wagen.

PETERS: Das heißt, Du schaffst innerhalb der JVA einen Raum, in dem die Gefangenen positive Erfahrungen machen können, im Sinne eines Ermöglichens, richtig?

FLECK: Richtig. Und darüber hinaus gelingt es mir manchmal, auch kleine Ziele zu stecken. Es dauert sehr lange, bevor sich etwas im Rahmen des Strafvollzugs manifestieren kann. Ich kann nicht ankommen und sagen: „Ich habe diese Idee für Freitag, weil ich in zwei Wochen jenes machen möchte.“ Ich kann mit denen nun mal nicht so ohne Weiteres auf Tournee gehen ... Dennoch würde ich mir wünschen, dass ich in absehbarer Zeit vielleicht mal einen Podcast erstelle mit dem Chor. Generell haben wir unser Programm und arbeiten auf eine Veranstaltung hin. Ich plane jetzt, vielleicht in dem kommenden Jahr, ein Konzert mit dem Chor zu machen, innerhalb der Anstalt oder mit den beiden Chören. Und da kann man dann natürlich auch darauf hinarbeiten. Kleine Ziele, die man sich stecken kann, sind immer eine ganz tolle Sache.

Das Gespräch wurde am 28. März 2023 im Auftrag des Deutschen Musikinformationszentrums geführt. 

Stephan Fleck studierte an der Musikhochschule Lübeck Instrumentalpädagogik und betreibt eine private Musikschule. Er leitet den Frauen- und den Männerchor an der Justizvollzugsanstalt Lübeck und gibt dort auch Instrumentalunterricht.

Annette Ziegenmeyer ist Professorin für Musikpädagogik an der Musikhochschule Lübeck, wo sie auch das Zentrum für Lehrkräftebildung leitet. Neben der aktiven Mitarbeit in Verbänden (z. B. Bundesverband Musikunterricht) ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift „Diskussion Musikpädagogik“.

Julia Peters studierte Violine mit instrumentalpädagogischem Schwerpunkt in Hamburg und Lübeck. Nach Aufenthalten in Südafrika und Chile arbeitete sie u. a. als Dozentin in Hamburg und am Birklehof. Seit 2020 ist sie in der Stabsstelle für Qualitätsmanagement und Studiengangentwicklung an der Musikhochschule Lübeck tätig.