MIZ: Das MIZ hat gerade ein neues Überblickwerk vorgelegt: „Musikleben in Deutschland“. Herr Eckhardt, Sie haben den Begriff „Musikleben“ damals als Generalsekretär des Deutschen Musikrats für die Arbeit des Musikinformationszentrums eingeführt. Könnten Sie uns den Terminus einmal näher erläutern?
ECKHARDT: Als wir 1983 den Musik-Almanach, der ja retrospektiv gesehen eine Art Vorstufe des MIZ darstellte, gegründet haben, wurde über den Begriff "Musikleben" intensiv diskutiert. Schließlich ist er nicht klar definiert und auch in keinem Sachlexikon als Stichwort verzeichnet. Allerdings ist er seit über einhundert Jahren in der Literatur greifbar, und man hat sich darauf geeinigt, ihn zu verwenden, wenn man sich auf die Fakten, Daten, Strukturen der Musik in ihrer Gesamtheit konzentriert und nicht auf die Inhalte. Wenn die Inhalte hinzutreten – musikästhetische Fragen oder kompositionsbezogene, die Inhalte von Musikpädagogik, von Ausbildung, von Fortbildung – spricht man von Musikkultur.
LEONHARD: Für mich ist das Kompositum „Musikleben“ besonders reizvoll, weil ich es gerne zerlege in „Musik“ und „Leben“. „Musikkultur“ assoziiert bei vielen Menschen eine gewisse „höhere Kultur“ und würde nicht das einbeziehen, was Hilmar Hoffmann einmal so treffend als „Kultur für alle“ bezeichnet hat. Insofern verweist der Begriff darauf, dass Musik ein lebendiges Gut unserer Gesellschaft ist, das sich stetig weiterentwickelt.
„Institutionen führen immer auch Menschen zusammen.“
MIZ: Das MIZ beschreibt das Musikleben immer auch von seinen Institutionen her. Wie kam es dazu, und ist dieser Ansatz heute noch aktuell, wenn Sie die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre bedenken?
KRÜGER: Im Grundsatz ja, denn das Mosaik der Institutionen der verschiedenen Bereiche, der Theater, der Orchester, der Pädagogik, der Musikschulen, auch der Verbände, ergibt im Kern das Musikleben. Gleichzeitig sind natürlich Entwicklungen einer Individualisierung im Gange – z. B. im Musikmarkt. Es gibt ja heute viele Komponisten und Arrangeure, die sich selbst vermarkten, als Mini-Verleger oder im Selbstverlag.
Auf der anderen Seite besteht eine immer stärkere Tendenz und auch Notwendigkeit, sich in größeren Zusammenhängen zusammenzuschließen, um politisch überhaupt Wirksamkeit erzeugen zu können. Jetzt im Moment haben wir gerade das ganz prominente Beispiel, dass die beiden Dachverbände des Amateurmusizierens, der Vokal- und der Instrumentalverband, sich zu einem großen Dachverband zusammenschließen.
Die Gesamtstruktur lebt nicht nur aus den einzelnen Institutionen, aber die Institutionen in ihrer Summe bilden das Musikleben schon zu einem ganz großen und zentralen Teil ab – übrigens durch das MIZ ganz herausragend dargestellt auch durch diese wunderbaren topografischen Karten.
LEONHARD: Institutionen führen immer auch Menschen zusammen, sie sprechen sie gezielt an und geben Anreize, sich für Musik zu interessieren. Über die Darstellung der Institutionen hinaus beschreibt das MIZ aber auch die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen des Musiklebens. Die Institutionen sind sozusagen das Gerüst, um das sich vieles rankt.
MIZ: In der Musiklandschaft ist seit einiger Zeit die Tendenz zu beobachten, dass sich gerade junge Menschen nicht mehr langfristig an Institutionen – z. B. einen Chor oder ein Ensemble – binden möchten, sondern sich eher kurzfristig in Projekten engagieren. Wie ist diese Entwicklung mit dem Begriff des „Musiklebens“ zu vereinbaren?
ECKHARDT: Im MIZ wird in den Themenportalen dargestellt, dass sich die Strukturen erweitert und verändert haben, dass es auch amorphe Strukturen gibt, die nicht so gebunden sind. Ich glaube nicht, dass das MIZ es leisten kann, alle Projektchöre aufzulisten. Aber diesen Wandel zu benennen und Wege aufzuzeigen, wie man sich informieren kann, das kann das MIZ leisten. Dafür gibt es beispielsweise die Fachbeiträge oder jetzt die neue Publikation, die genau diese Entwicklungen auf der Basis empirisch-statistischer Daten in den Blick nehmen.
LEONHARD: Wir haben uns bei der Gründung des MIZ überlegt, wie wir die Lebendigkeit und die Wechselhaftigkeit des Musiklebens abbilden können, sodass andere eine Gesamtschau bekommen. Wir haben aber auch immer daran gedacht, dass wir mit den Projekten ein Stück Politik- und Kulturberatung machen. Daher haben wir beides etabliert: die Institutionendatenbank und die Themenportale mit ihrer umfassenden musikstatistischen Datensammlung, dies gibt uns eine große Flexibilität in der Informationsvermittlung.
Das MIZ ist kein Ratgeber, aber es offeriert Grundlagen, damit andere, die in der Verantwortung der politischen und finanziellen Planung stehen, daraus so viel Wissen und Informationen zusammenstellen können, dass sie das Musikleben fördern können. Das MIZ ist so etwas wie ein elektronisches Kursbuch zum Musikleben in Deutschland.
MIZ: Das MIZ gibt es nun seit gut 20 Jahren. Wie ist es zu der Gründung gekommen?
ECKHARDT: Forderungen nach einer Dokumentationsstelle für das Musikleben bestanden schon seit den 1970er Jahren – mit vielen unterschiedlichen Konzepten. Zur Gründung des MIZ in seiner heutigen Form kam es dann über verschiedene Wege.
Ich bin 1980 zum Deutschen Musikrat gekommen und habe in den ersten drei Jahren festgestellt, dass wir auf viele Fragen aus der Politik, aber auch aus der Gesellschaft allgemein, unmittelbar keine Antwort geben konnten, und zwar hinsichtlich von Daten, Fakten, Adressen usw. Gleichwohl war klar, dass viele unserer damals fast 100 Mitgliedsverbände Statistiken und Adressenverzeichnisse hatten.
Über den Europäischen Musikrat habe ich dann erfahren, dass es in anderen Ländern zentrale Verzeichnisse gab, die allerdings eine andere Zielrichtung hatten, nämlich über die zeitgenössische Musik in ihrem Land informierten – was auch die Musikinformationszentren in diesen Ländern taten, die es dort vielfach schon seit Jahrzehnten gab. Insofern bestand auch im europäischen Vergleich die Notwendigkeit, eine Übersicht über die Struktur des Musiklebens zu schaffen.
So sind Eckart Rohlfs, Richard Jakoby und ich 1983 auf die Idee gekommen, die vorhandenen Verzeichnisse und Informationen zusammenzuführen und zu systematisieren. 1986 kam der erste Musik-Almanach heraus mit 700 Seiten im kleinen Taschenbuchformat. Daraus ist später ein größeres gesamtdeutsches Format geworden mit 1.500 Seiten in der 7. und letzten Druckausgabe von 2007/08 – heute wird das ja alles in der Institutionendatenbank des MIZ fortgeschrieben.
Die Gründung des Almanachs ist anfangs nicht von allen begrüßt worden. Manchen war etwas unwohl, dass der Musikrat als Organisation auf Bundesebene alles zusammenfasst und damit eine Steuerungsfunktion hinsichtlich der Darstellung und der Systematik erhielt. Das wurde gerade unter dem Aspekt des Föderalen recht skeptisch verfolgt, und es wurden Befürchtungen einzelner Länder laut, nicht angemessen berücksichtigt zu werden. Es war schon ein komplizierter Prozess und letztlich ein „Triumph einer Utopie über die politischen Gegebenheiten“, um ein Diktum von Max Frisch – leicht abgewandelt – zu zitieren.
Parallel zur Arbeit am Musik-Almanach haben wir 1993 mit der Überlegung begonnen, ins Internet zu gehen. Das war eine geradezu avantgardistische Tat, denn das Internet war in Deutschland überhaupt erst 1989/90 allgemein zugänglich.
1996 kam der Bonn-Berlin-Ausgleichsvertrag, und damit standen Finanzmittel zur Verfügung, die es uns ermöglichten, unsere Arbeit auszubauen und ein eigenes Musikinformationszentrum zu gründen. Anfang 1997 wurde dann das MIZ offiziell gegründet, und ein Jahr später fand die Eröffnung im Bonner Haus der Kultur statt.
KRÜGER: Ich darf noch etwas einwerfen: 1998 ist dasselbe Jahr, in dem auch das Amt der BKM, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, eingerichtet wurde, das heißt genau das Jahr, als erstmals der Bund die kulturpolitische Bühne offiziell betrat – das hat ja auch massivste Widerstände auf Länderseite hervorgerufen.
LEONHARD: Das Bekenntnis der Bundesregierung zur Kultur im gesamtstaatlichen Rahmen hat schon einen Schub gegeben. Aber wenn es den Almanach nicht gegeben hätte, wäre das MIZ bestimmt erst zehn Jahre später gegründet worden.
Befördert wurde die Gründung aber auch dadurch, dass weitere Partner hinzukamen. Ich vertrat einen solchen Partner, nämlich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Diese Partner haben den Gründungsprozess maßgeblich begleitet. Dazu zählten nicht nur die Rundfunkanstalten und die Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, sondern auch das Deutsche Musikarchiv und vor allem die Verwertungsgesellschaften GVL und GEMA, die uns über 20 Jahre sehr stark unterstützen und zwar sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der finanziellen Förderung. Mit der BKM als unserer wichtigsten Förderin sowie der Kulturstiftung der Länder und der Stadt Bonn ist es gelungen, Bund, Länder und Gemeinden in die Finanzierung des MIZ einzubinden. Dafür sind wir unseren Förderinstitutionen dankbar.
Bei der Gründungsveranstaltung in der Godesberger Stadthalle hatten wir eine sehr interessante Diskussion über die Frage, ob das MIZ jetzt eine Art Zentralinstrument werden solle oder sogar ein Institut, vor dem einige im föderalen Rahmen ihre Befürchtungen hatten, es würde zentralistisch werden. Das haben wir durch die Bildung des Netzwerkes der verschiedenen Partner aber von vorne herein ausgeschlossen.
„Parallel zur Arbeit am Musik-Almanach haben wir 1993 mit der Überlegung begonnen, ins Internet zu gehen. Das war eine geradezu avantgardistische Tat.“
MIZ: Bei der Gründung des MIZ gab es aber doch sicher auch besondere Interessen seitens der beteiligten Institutionen. Welche waren das?
ECKHARDT: Das Interesse an einer solchen übergreifenden Einrichtung, wie sie das MIZ darstellt, ergab sich aus der Einsicht, dass es an der Zeit war, das Musikleben einmal geschlossen darzustellen. Die Mitgliedsorganisationen des DMR wurden von ihren Mitgliedern, aber auch von der Politik kontinuierlich nach Daten und Fakten gefragt. Die großen Amateurmusikverbände hatten zwar ihre eigenen Statistiken, aber die Dignität und Bonität hat mit dem Musik-Almanach und später mit dem MIZ bei allen Zuträgern zugenommen, weil die Daten hier geprüft, zusammengeführt und aufeinander bezogen wurden. Die Verbände haben schnell erkannt, welche Vorteile es bringt, die Daten in der Form der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Sie konnten damit viel mehr Interessengruppen in der Bevölkerung erreichen. Das hätten sie alleine nicht geschafft. Deshalb war die Bereitschaft mitzuarbeiten von Anfang an relativ hoch.
MIZ: Dem MIZ steht seit seiner Gründung ein Beirat zur Seite. Sie, Herr Leonhard, haben dessen Tätigkeiten von Anfang als Beiratsvorsitzender mitgestaltet. Worin sehen Sie die zentralen Aufgaben des Beirats?
LEONHARD: Der Beirat des MIZ hat sich von Anfang an – und tut es bis heute – aus Fachvertreterinnen und -vertretern wichtiger Institutionen zusammengesetzt, die das Netzwerk des MIZ maßgeblich stärken. Wir haben dabei immer viel Wert darauf gelegt, dass Expertinnen und Experten aus allen für die Aufgaben des MIZ wichtigen Bereiche vertreten sind: aus Fachverbänden, den Verwertungsgesellschaften, der Musikwissenschaft, der Musikdokumentation und aus der Kulturpolitik. Wir verstehen uns als Weichensteller, wir unterstützen die Aktivitäten des MIZ und beraten bei speziellen Fragestellungen. Darüber hinaus unterstützt der Beirat intensiv die Bemühungen um die Finanzierung des MIZ, auf die wir ja sicher später noch zu sprechen kommen.
MIZ: Worin liegt die Bedeutung von Daten und Statistiken für kulturpolitische Entscheidungen?
KRÜGER: Die Bedeutung von Daten und Statistiken kann gar nicht überschätzt werden. Sie können überhaupt nichts in die Politik einspeisen – das betrifft nicht nur die Kulturpolitik –, ohne dass Sie sich auf ganz klare Datenlagen stützen. Angenommen es gäbe jetzt noch kein Bundesjugendjazzorchester, und wir würden ein solches gerne gründen. Das erste, was wir nachweisen müssten, wäre: Wie viele junge Leute spielen Jazz, wie viele junge Leute studieren Jazz, wie könnte die Interessenlage sein, wie sieht die Szene aus, braucht die Szene das? Dann müssten wir noch ergänzende Informationen darüber nachliefern, wie das von bedeutenden Persönlichkeiten der Szene gesehen wird und so weiter.
Aber ein weiterer, überhaupt nicht wegzudenkender Sinn ist die Grundlage für jede Art Forschung, Wissenschaft und Lehre. Ich erlebe das ja selbst – ich unterrichte an der Musikhochschule in München Kulturpolitik. Lehre funktioniert heute ganz anderes als früher. Früher lag das Wissensmonopol beim Professor, heute wollen die Studierenden mit dem Professor über das Wissen sprechen. Während der Sitzung recherchieren sie im Internet, und auch ich selber gehe mit Links in die Themen rein. Das, was früher der Professor an schierem Wissen vermittelt hat, steht heute jedem Studenten – und übrigens auch jedem Nicht-Studenten – innerhalb von Sekunden zur Verfügung. Dadurch hat sich die Lehre insgesamt stark verändert; sie ist viel diskursiver als früher.
LEONHARD: Wenn es das MIZ nicht gäbe, lägen die im MIZ verfügbaren Informationen und Daten – es gibt ja in Deutschland trotz vielfacher Bemühungen keine bundeseinheitliche Kulturstatistik – sehr verstreut bei verschiedenen Fachverbänden, Forschungsinstitutionen und offiziellen Stellen. Sie könnten nur in Ansätzen durch das Statistische Bundesamt erhoben werden, denn dort fehlt es an musikwissenschaftlicher Expertise, die für die Interpretation und Einordnung der Daten aber zwingend erforderlich ist. Daher stützt sich das Statistische Bundesamt heute ausdrücklich auf das MIZ und dessen sorgfältig aufbereitete und kommentierte Statistiken und Zeitreihen. Das MIZ bietet einen absoluten Mehrwert – auch hinsichtlich der besseren Auffindbarkeit von Daten, denn Sie müssen jetzt nicht in einer Unterkategorie des Statistischen Bundesamts suchen, sondern werden sofort auf den Internetseiten des MIZ fündig und finden nicht selten auch noch weitere relevante Informationen.
ECKHARDT: Ich darf eine kleine Anekdote einstreuen. Ich hatte mal ein Gespräch im Bundesjugendministerium, in dem ging es um einen Aufwuchs der Mittel für die Förderung von Bundesjugendorchester, Jugend musiziert und Bundesjazzorchester. Ich habe die Fakten dargestellt, wie wir sie im MIZ oder auch im Almanach präsentiert haben, und dann hat mich der Mitarbeiter nach einer Weile unterbrochen und gesagt: „Meine Meinung steht fest. Bitte irritieren Sie mich nicht durch Fakten.“ Ich habe mich dadurch natürlich nicht beirren lassen. Am Ende hat er sich der Faktenlage gebeugt, und ich habe meinen Antrag durchbekommen.
KRÜGER: Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt hinweisen: Das MIZ stellt auch Entwicklungen dar. Was ich immer ganz hervorragend finde, sind die Statistiken, die in Jahres- oder Fünfjahresschritten aufgebaut sind. Da sehen sie zum Beispiel, wie sich die Zahl der Kirchenchöre entwickelt hat oder wie sich die Zahl der hauptamtlichen Kirchenmusiker verändert hat. Wenn ich Zahlen brauche, schaue ich immer erst einmal ins MIZ. Das Wissen ist dort unglaublich schnell zugänglich, und sie können durch Zwischenzugriffe permanent valide Daten in Diskurse einfließen lassen. Ich finde diese Art des Arbeitens, die auch eine Freiheit hervorbringt, ganz hervorragend.
ECKHARDT: Das hat aber zur Voraussetzung, dass das MIZ sich den Ruf erworben hat, sehr verlässliche Daten zu liefern. Mittlerweile wird auch in Artikeln der überregionalen Presse, der FAZ oder der Süddeutschen, das MIZ zitiert. Das ist eine Leistung, die über all die Jahre erbracht worden ist, und das ist heute ein Gütesigel. Wenn Daten aus dem MIZ bekannt gegeben werden, können die politisch durchaus heikel sein. Man begibt sich damit in einen öffentlichen Diskurs und manchmal sogar in eine Auseinandersetzung. Aber die Werte, die das MIZ zur Debatte stellt, sind anerkannt.
KRÜGER: Das MIZ gilt übrigens auch ausdrücklich als wissenschaftlich voll zitierfähig.
„Unter den großen Nationen ist Deutschland in der Breite, was Musik angeht, mit Abstand am stärksten aufgestellt.“
MIZ: Ich komme noch einmal auf ein anderes Thema, und zwar die internationale Vernetzung. Das MIZ war von Anfang an Teil der IAMIC, also des internationalen Zusammenschlusses der mittlerweile rund 40 Musikinformationszentren weltweit. Wie wichtig schätzen Sie den internationalen Austausch ein?
KRÜGER: Ich halte das für absolut bedeutsam und bekomme das auch immer wieder im Rahmen des International Music Council mit, in der die IAMIC Mitglied ist. Das MIZ genießt dort ein außerordentliches Ansehen. Es gibt keine Generalversammlung des International Music Council, ohne dass Menschen auf mich zukommen und mir vorschwärmen, wie wichtig es für andere Länder ist, auf das MIZ zurückgreifen zu können.
Deutschland muss sich klar sein, was es mit dem MIZ für ein ungeheures Instrument für die Darstellung des musikalischen Reichtums hat. Ich sage das fast ungern, denn wir weisen auf der anderen Seite ja auch immer wieder darauf hin, dass es eine Gefährdung des musikalischen Lebens und insbesondere der musikalischen Bildung gibt. Aber wenn man die Zahlen mit anderen Ländern vergleicht – soweit sie bei den anderen Ländern vorhanden sind – muss man sagen, dass Deutschland in seiner Gesamtheit geradezu überwältigend vielfältig mit Musik ausgestattet ist und dazu hervorragend organisiert. Alles strukturiert und organisiert sich hier. Dies macht bestimmte Formen des Zusammenlebens und der Politik überhaupt erst möglich, weil es immer Ansprechpartner für alles gibt. Das Ausland betrachtet das mit großer Bewunderung, manchmal auch mit Neid, manchmal auch mit ein bisschen Resignation. Es gibt natürlich auch andere gut strukturierte Länder. Aber unter den großen Nationen ist Deutschland in der Breite, was Musik angeht, mit Abstand am stärksten aufgestellt.
LEONHARD: Ich kann auch aus meiner Zeit als Generalsekretär des Goethe-Instituts berichten, dass das MIZ dort eine große Rolle gespielt hat. Wenn es um Beiträge zur internationalen Kulturpolitik ging, konnten sich die Institute beim MIZ informieren und die Sachverhalte einordnen.
MIZ: Neben der internationalen Einbindung ist auch der Föderalismus für das MIZ bedeutsam. Nun ist von Seiten der Landesmusikräte der Wunsch an das MIZ herangetragen worden, Länderportale aufzubauen. Wie sehen Sie da die Chancen?
LEONHARD: Das Projekt wird es erstmals möglich machen, die föderale Struktur des Musiklebens in Deutschland innerhalb der gesetzten Parameter umfassend abzubilden und dabei den unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern Rechnung zu tragen. Im Ergebnis profitieren kulturpolitische Institutionen, Ministerien und Landtage ebenso wie die musikwissenschaftliche und -politische Forschung und der Fachjournalismus. Auch unter dem Praxisaspekt wird das neue Portal einen deutlichen Mehrwert bieten, etwa wenn Studierende und Musikschaffende auf der Suche nach individuell passenden Förderungsmöglichkeiten oder geeigneten beruflichen Aktionskreisen sind. In unserer letzten Beiratssitzung haben wir das Interesse der Landesmusikräte an diesem Vorhaben sehr positiv aufgenommen. Wir erarbeiten derzeit in einer Arbeitsgruppe mit Vertretern der Länder ein umfassendes Konzept, um zu sehen, wie man das Projekt in das MIZ integrieren könnte.
KRÜGER: Es muss genau betrachtet werden, wodurch ein Mehrwert entsteht. Es gibt ja schon diese enorme Datengrundlage im MIZ. Wir überlegen also sehr genau, welche Informationen bisher nicht aus dem MIZ herzuleiten sind, weil sie bisher aus der Bundessicht dargestellt sind, und welche zusätzlich im Interesse der Länder wären.
Grundsätzlich ist es eine hochinteressante Sache, die auch das Zusammenwirken der Länder stärken würde. Es setzt allerdings voraus, dass es eine Bereitschaft aller Länder gibt, auf einer gemeinsamen Grundlage Daten zu erheben und herauszugeben. Die Herausforderungen sind: gemeinsame Standards, ein gemeinsamer Wille auch zur Mitfinanzierung und das Bewusstsein, dass damit ein Ländervergleich entsteht – denn das ist ja gerade der Sinn der Sache.
ECKHARDT: Wir haben ja einen kooperativen und zugleich konkurrierenden Föderalismus. Und dieser besonderen Konstruktion in Deutschland muss diese Novität im MIZ auch zugeordnet werden. Da braucht man wirklich eine lange und ganz detaillierte Vorarbeit. Einen Datenvergleich hinzubekommen über den Willen, sich kulturell zu engagieren – auch im Haushalt – wäre natürlich eine ganz wichtige Sache. Das würde den Kultur- und Musikpolitikern enorm helfen.
MIZ: Wir haben über die Relevanz von Daten gesprochen. Vor einiger Zeit haben wir ein neues Portal „Musik und Integration“ online gestellt. Wie wird dieses Portal in der Kulturlandschaft angenommen?
LEONHARD: Musik ist – wie im Übrigen auch der Sport – ein einzigartiges Mittel, um Integration voranzubringen und zu erleichtern. Die Idee zu einem Portal ist schon weit vor 2015 da gewesen, sie hat sich nur erheblich verstärkt, als das Thema Flüchtlinge und Asylsuchende in der Gesellschaft mit voller Breite angekommen ist. Wir haben im Beirat damals auch die Diskussion eingebracht, die seit 2001/2002 lief, ob Deutschland eine Zuwanderungsgesellschaft ist oder nicht. Ich selbst war im Integrationsbeirat der Hessischen Landesregierung und habe immer wieder auf die Funktion von Musik hingewiesen und auch darauf, dass wir im MIZ etwas zu dem Thema planen. Das ist von der Politik sehr gut angenommen worden. Wir wollten damit Dinge antreiben, die in der Gesellschaft lange liegen geblieben sind. Wenn bei uns in der zweiten und dritten Generation Leute leben, die nicht integriert sind, haben wir wichtige Aufgaben zu lösen. Wir machen im MIZ keine Politik, aber wir stellen Informationen bereit und schieben etwas an.
KRÜGER: Mit dem Portal haben wir sehr schnell auf die Situation 2015 reagiert. Damals gab es Hunderte von Privatinitiativen. Der Gedanke der Plattform war, dass sich all diejenigen, die sich engagieren, ein Bild machen konnten: Was ist möglich? Was machen andere, und mit wem könnte ich mal Kontakt aufnehmen? Es ist auch für die politische Seite sehr wichtig, sich auf die Weise informieren zu können. Das Portal ist nicht in erster Linie statistisch-wissenschaftlich ausgerichtet, sondern unmittelbar politisch und praxisnah auf die Szene bezogen im Sinne einer schnellen Hilfestellung.
ECKHARDT: Das Portal ist übrigens ein schönes Beispiel, dass einmal eine offene Darstellungsform gewählt worden ist. In der ersten Phase unseres Gespräches haben Sie gefragt, wie Projektchöre und andere offene Zusammenschlüsse widergespiegelt werden können. Das hier ist so etwas. Hier kann sich jede Privatinitiative melden und einbringen. Das ist eine Form, die über die Institutionen hinausgeht.
MIZ: Ich darf zum Schluss noch das Thema Finanzierung des MIZ ansprechen. Wie sehen Sie hier die Entwicklungen?
KRÜGER: 2018 hat es eine vorübergehende Entspannung in der lange Jahre geradezu prekären Finanzsituation gegeben, wofür wir der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien und ihrem Haus sehr dankbar sind, aber das muss fortgeschrieben werden. Es ist jetzt schon absehbar, dass die Mittel nicht ausreichen werden, die nächsten Jahre auch nur auf einer auskömmlichen Höhe zu bestreiten. Daher müssen wir dranbleiben im Dialog mit unseren Geldgebern. Die Stadt Bonn hat ihre Zuschüsse gesenkt, und die GEMA ist inzwischen aus der grundständigen Finanzierung des MIZ ausgestiegen und bietet nur noch projektbezogene Einzelförderungen an.
Natürlich hoffen wir, dass sich das wieder ändern wird. Es muss erkannt werden, welch große Chance das MIZ für alle darstellt, die am Musikleben Anteil haben. Die öffentliche Hand wird eben auch zur Unterstützung motiviert, wenn sie sieht, dass diese Unterstützung auch von Seiten der Betroffenen kommt. Daher ist es so wichtig, dass wir private Partner haben – und da muss man vor allem die GVL hervorheben, die ein herausragender Partner ist.
LEONHARD: Das MIZ hat immer wieder das Problem des Absicherns des gerade Erreichten im Blick haben müssen. Wenn wir nicht mit sehr viel Engagement seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Leitung von Stephan Schulmeistrat und zuvor von Margot Wallscheid hätten arbeiten können, mit Erfindungsreichtum, mit viel Innovation und intrinsischer und extrinsischer Motivation – dazu zählt übrigens auch der Beirat –, hätten wir diesen Stand nicht erreicht.
Wir sind jetzt an einem Punkt, wo es um die sogenannte grundständige Verstetigung eines Etats geht. Ich bin froh und dankbar, dass es im letzten Jahr gelungen ist, durch die Gespräche mit der BKM und verschiedenen Bundestagsgremien, auch dem Haushaltsausschuss, eine temporäre Entspannung der Situation zu erreichen, aber wir müssen eine mittelfristige Planung und auch Planungssicherheit haben, um die Dinge, die wir antizipieren, umsetzen zu können, damit sie dann, wenn sie gebraucht werden, auch da sind.
Zudem möchten wir die Professionalität von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stabil halten. Das MIZ ist ein sehr personalintensives Projekt, und die Kontinuität des Personals ist ein hohes Gut im MIZ. Wir müssen ja nicht nur das Vorhandene aktuell halten und fortschreiben – und hier sprechen wir allein von etwa 11.000 Datensätzen in der Institutionendatenbank des MIZ –, sondern müssen auch in der Lage sein, neue, drängende Themen zu bearbeiten. Zu Beginn unseres Gespräches haben wir darüber gesprochen, dass sich das Musikleben mehr und mehr ausdifferenziert. Diese Entwicklung abzubilden, wird zu Recht vom MIZ erwartet. Wir als Beirat weisen seit Jahren darauf hin, dass das MIZ, auch im internationalen Vergleich, auskömmlich finanziert werden muss. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass jetzt nach 20 Jahren auch der Zeitpunkt für eine solche Konsolidierung gekommen ist.
MIZ: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview fand am 28. März 2019 statt. Die Fragen stellte Karin Stoverock.