Orgeln gab es bereits in der Antike. Erfunden wohl in Alexandrien (Ägypten), bezeugen Darstellungen aus römischer Zeit ihren Einsatz zur musikalischen Untermalung von Gladiatorenkämpfen. [1] Bald jedoch geriet das exotische Instrument im Abendland wieder in Vergessenheit, bis nach einer Überlieferung im Jahr 757 eine Delegation des byzantinischen Kaisers Konstantin V. dem Frankenkönig Pippin dem Kleinen eine Orgel als Gastgeschenk mitgebracht haben soll, die großes Aufsehen erweckte. Offensichtlich wurde das Instrument zu diesem Zeitpunkt als Kultinstrument für die kaiserlichen Zeremonien verwendet – in der Folgegeneration führte eine byzantinische Delegation eine Orgel mit sich, um Pippins Nachfolger Karl dem Großen zu huldigen. Nicht viel später finden sich bereits im kirchlichen Kontext Beschreibungen von Orgeln. Das Old Minster in Winchester etwa soll kurz vor der Wende zum zweiten Jahrtausend eine gewaltige Orgel besessen haben, für deren Betrieb an Bälgen und Klaviatur mehr als 70 kräftige Männer nötig waren. [2] Sicher sind die Beschreibungen symbolisch überhöht – sie unterstreichen aber, dass die Orgel als außergewöhnliches Instrument angesehen wurde, das außergewöhnlichen Zeremonien angemessen schien. So konnte die „wundersame Maschine“ allmählich auch in die Liturgie einziehen, in der bis dahin nur Vokalmusik geduldet war.
Bis zur Reformation im 16. Jahrhundert und noch einige Zeit darüber hinaus dürfte die Orgel vornehmlich für Vorspiele („Präludien“) vor einzelnen liturgischen Stücken eingesetzt worden sein, zum Alternieren (d. h. zur wechselweisen Ausführung von Psalmversen oder Liedstrophen) mit dem Priester, dem Chor oder bisweilen auch der Gemeinde, zur Begleitung des Chores und unter der Kommunion, der Austeilung des Abendmahls. Mit Luthers Reformen hielt das deutschsprachige Kirchenlied Einzug in die Liturgie und ersetzte einzelne liturgische Stücke: den Eingangspsalm durch ein Psalmlied (einen „deutschen Psalm“), das solistisch gesungene Graduale durch ein nach dem Kirchenjahr wechselndes Lied, das vormals „gregorianische“ Credo durch ein Glaubenslied. Damit war die Gemeinde stärker am Gottesdienst beteiligt. Dem Organisten fiel die Aufgabe zu, die Lieder mit Choralbearbeitungen einzuleiten oder einzelne Strophen selbst zu übernehmen. Erst ab 1700 kam allmählich eine weitere Aufgabe hinzu: die Begleitung des Gemeindegesangs, der um diese Zeit so gemächlich (und vermutlich laut) war, dass die Gemeinde zwischen den einzelnen Choralzeilen verschnaufen und die Organisten Zwischenspiele einfügen mussten. An einigen Orten konnten um diese Zeit im Gottesdienst bereits selbstständige Orgelstücke vorgetragen werden, etwa in der Hamburger Sonnabendvesper, in der Organisten Choralfantasien von bis zu 20 Minuten Länge spielten.
Wenngleich seit dem 15. Jahrhundert ein reichhaltiges, stetig wachsendes Orgelmusik-Repertoire überliefert ist, ist doch davon auszugehen, dass die liturgische Orgelmusik bis um diese Zeit beinahe ausschließlich improvisiert wurde. Führten zunächst, d. h. im 15./16. Jahrhundert, Fundamentbücher mit einfachen Regeln in die Kunst des (improvisierten) Orgelspiels ein, so geben anschließend die erhaltenen Sammlungen mit Orgelmusik Aufschluss darüber, wie diese Improvisationen gestaltet werden sollten: Sie dienten in der Regel als „Musterbücher“. [3] Auch zu den – wenigen – konzertanten Anlässen in Kirchen dürften es sich die Organisten nicht haben nehmen lassen zu improvisieren: Das Abspielen von zuvor komponierter Literatur (ob auswendig oder nach Noten) galt als verpönt.
Nachdem Orgeln bis zum Ende des 17. Jahrhunderts bis in die kleinsten Dorfkirchen Verbreitung gefunden hatten, fehlte es für all diese Instrumente an geeigneten, vor allem an gut ausgebildeten Spielern. In Dörfern übernahmen vielfach Lehrer (Küster- und) Orgeldienste. Zur Erfüllung ihrer Aufgabe benötigten sie leicht spielbare Musik: kleine freie Stücke und vor allem Choralbearbeitungen sowie Orgelchoräle zur Begleitung des Gemeindegesangs. Die komponierte Musik nach 1700 dürfte einerseits zwar immer noch dem Unterricht im Orgelspiel und in der Komposition gedient haben, war aber zunehmend selbst zur Darbietung in Liturgie und Konzert vorgesehen.
„Orgelfeierstunden, Matineen und Orgelvespern, Orgelkonzerte zu besonderen Anlässen, vor allem aber die gut besuchten sommerlichen Konzertreihen in den großen Kathedralen ziehen Jahr für Jahr tausende begeisterte Orgelmusik-Liebhaber an.“
Dabei bildeten konzertante Anlässe, die Orgel zu spielen, nach wie vor die Ausnahme. Beschränkten sie sich zunächst auf Orgeleinweihungen, so sind bis ins frühe 18. Jahrhundert nur wenige weitere Anlässe bekannt, die mit heutigen Konzertveranstaltungen zu vergleichen wären, etwa in Lübeck das Spiel zur Börse und in den Abendmusiken oder im reformierten Amsterdam nach den Gottesdiensten, in denen selbst keine Orgelmusik erlaubt war, dargeboten von städtisch angestellten „Stadsorganisten“. Auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind die Zeugnisse konzertanter Anlässe für Orgelmusik rar: So hat sich Johann Sebastian Bach einige Male an Silbermannorgeln in Dresden hören lassen, vor allem in der Sophienkirche, an der sein Sohn Wilhelm Friedemann von 1733 an als Organist wirkte. Ein eigentliches Konzertwesen in Kirchen etablierte sich erst im späteren 18. Jahrhundert und nahm dann vor allem im 19. Jahrhundert stark zu.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden repräsentative Orgelneubauten nicht mehr nur in Kirchen, sondern auch in Konzertsälen vorgenommen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die mit vier Manualen und über 60 Registern stattliche Orgel, die Aristide Cavaillé-Coll anlässlich der Weltausstellung 1878 im Pariser Trocadéro-Palast aufstellte; 35 Jahre später baute Paul Walcker (W. Sauer Orgelbau Frankfurt/Oder) für die Breslauer Jahrhunderthalle gar eine Orgel mit fünf Manualen und 200 Registern. Heute verfügen nahezu alle großen Konzertsäle und Philharmonien über große Konzertorgeln, auch wenn die Akustik ihre Wirkung gegenüber dem halligeren Kirchenklang häufig einschränkt. Stattdessen bieten sie die räumlichen und klanglichen Möglichkeiten für die Aufführung der Konzertliteratur für Orgel und großes Orchester, die in den allermeisten Kirchen kaum gespielt werden kann.
Im Laufe der letzten 100 Jahre hat sich aber auch in den Kirchen auf breitester Basis ein reger und beständiger Konzertbetrieb etabliert: Orgelfeierstunden, Matineen und Orgelvespern, Orgelkonzerte zu besonderen Anlässen (etwa an Weihnachten oder zum Jahresausklang), vor allem aber die gut besuchten sommerlichen Konzertreihen in den großen Kathedralen ziehen Jahr für Jahr tausende begeisterte Orgelmusik-Liebhaber an.
Die Orgel im Gottesdienst
Nach wie vor wird die Orgel heute hauptsächlich in Gottesdiensten eingesetzt. In den Kirchen der beiden großen westlichen Konfessionen haben sich die Traditionen diesbezüglich weitgehend gefestigt und unterscheiden sich kaum voneinander: Orgelmusik leitet die katholische Messe ebenso wie den evangelischen Gottesdienst ein und schließt sie ab, gelegentlich in besonders feierlicher Form als Ein- bzw. Auszugsmusik, sie bereitet die Lieder der Gemeinde vor und begleitet sie, und sie unterstützt die Gesänge der Liturgie. Gerade hier haben sich in den Konfessionen entsprechend der unterschiedlichen liturgischen Traditionen die Anforderungen ausdifferenziert. Während in katholischen Kirchen ein Schwerpunkt auf der Begleitung der Altargesänge liegt, die Gemeinde aber zumeist nur wenige Liedstrophen singt, haben evangelische Organistinnen und Organisten häufig ganze Lieder (per omnes versus – mit allen Strophen) zu begleiten, was eine Abwechslung in Spielweise und Registrierung erfordert. Liturgische Gesänge gibt es dagegen weniger, in der reformierten Tradition überhaupt nicht. An der Ausführung mehrstrophiger Lieder wirken häufig musikalische Gemeindegruppen (Kantorei, Bläser- und Kinderchor) mit und füllen damit die nachreformatorische Alternatim-Praxis mit neuem Leben. Raum für selbstständige Musik im Gottesdienst bleibt – abgesehen von Vor- und Nachspiel – bei der Musik während der Kommunion: Zur Austeilung (sub communione) erklingt häufig improvisierte oder komponierte Orgelmusik, mancherorts im Wechsel mit gesungenen Liedern.
Überhaupt die Improvisation: Sie ist – seit alters her – das tägliche Brot der Organistinnen und Organisten, nicht nur der hauptberuflich tätigen. Während zum Vor- oder Nachspiel häufig Literatur gespielt wird, werden die Liedintonationen, die Begleitsätze und die Musik sub communione in der Regel improvisiert. Dies gibt den Organistinnen und Organisten die Möglichkeit, nicht nur auf den zeitlichen Rahmen zu reagieren (und z. B. das Orgelspiel unverzüglich zu beenden, sobald die Austeilung beendet ist), sondern auch auf die Atmosphäre, den liturgischen Kontext, das Kirchenjahr oder andere Gegebenheiten individuell und mit je anderen musikalischen Mitteln einzugehen. Je nach Ausbildung und Neigung kommen dabei sowohl barocke Techniken (etwa in fugierten Choralvorspielen) zum Einsatz als auch Satzmodelle der Romantik (Cantilene) und das Spiel nach Vorbildern aus der symphonischen Orgelmusik.
Auch wenn der Gebrauch der Orgel und ihrer Musik heute bisweilen in Frage gestellt und durch Popularmusik mit Band und Solisten ersetzt wird, hat sie doch von ihrer Faszination nichts eingebüßt. Ein Grund dafür mag darin bestehen, dass die breite Palette der Möglichkeiten, die Fülle von Klangfarben, musikalischen Stimmungen und Wirkungen an der Orgel von einem einzigen Spieler, einer einzigen Spielerin erzielt werden kann; damit bietet sich die Möglichkeit, mit musikalischen Mitteln direkt und spontan zur Verkündigung beizutragen. Dies unterscheidet die Orgel nicht nur von anderen Instrumenten, sondern auch von den am Gottesdienst beteiligten Ensembles.
Die Orgel als Konzertinstrument
Der Einsatz von Orgeln erschöpft sich in der jüngeren Geschichte nicht in den liturgischen Aufgaben, sondern erstreckt sich immer häufiger auch auf konzertante Anlässe. Das betrifft die großen (alten und neuen) Orgeln an zentralen Orten ebenso wie historische Instrumente in kleinen Dorfkirchen. Ursprünglich allein für den liturgischen Dienst erbaut, erhielten sie in den letzten Jahrzehnten häufig neue Wertschätzung, wurden „wiederentdeckt“ und sachgerecht restauriert. Nicht selten bildeten sie anschließend – vor allem im Sommer – den Kristallisationspunkt für besondere Konzertreihen, zu denen Zuhörer aus Nah und Fern anreisen.
Dass für dieses Erbe auf breitester Basis ein Bewusstsein geschaffen und erhalten wurde, ist nicht zuletzt das Verdienst der 1951 gegründeten Gesellschaft der Orgelfreunde e. V. (GdO), die sich mit heute rund 5.500 Mitgliedern in Publikationsreihen, auf regelmäßigen Tagungen und Interpretationskursen für die Belange der Orgel einsetzt. Gewachsene Erkenntnisse über den historischen Orgelbau sowie die systematische Erforschung und Dokumentation historischer Orgeln, greifbar etwa im Internationalen Arbeitskreis für Orgeldokumentation (IAOD), angestoßen und begleitet durch Forschungsprojekte wie das Göteborger Organ Art Center (GOArt), kommen der Pflege des Kulturguts Orgel zugute.
Die neue Wertschätzung der Orgel und ihrer Kulturgeschichte führte in der jüngsten Vergangenheit wie kaum jemals zuvor zu einer breiten Restaurierungswelle historischer Orgeln. Private Spender und Mäzene, Fördervereine und Stiftungen zeigen ein außergewöhnliches Engagement für die Erhaltung der historischen Orgellandschaften. So konnten etwa mit Unterstützung der ZEIT-Stiftung allein in Ostdeutschland 36 historische Orgeln restauriert werden; ein umfangreiches Denkmalschutz-Sonderprogramm der Bundesregierung fördert seit 2007 die Erhaltung zahlreicher Orgeln; und die Stiftung Orgelklang der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) trägt ihrerseits zur Restaurierung von wertvollen Orgeln bei – seit 2007 im Umfang von insgesamt etwa 1,3 Millionen Euro – und kürt regelmäßig die „Orgel des Monats“. Freilich hat die Restaurierungswelle manche kleineren Instrumente vor neue Herausforderungen gestellt: Bisweilen sollten sie nach der Wiederherstellung über ihre ursprünglichen Aufgaben hinauswachsen und auch für die Wiedergabe größerer Konzertliteratur zur Verfügung stehen. Denjenigen, die sich an diesen Orgeln hören lassen, fällt also zu, den Spagat zwischen der Bewunderung für das Instrument einerseits und der Auswahl angemessener Literatur (oder entsprechender Improvisationen) andererseits zu meistern, um sie gut zur Geltung zu bringen und weder klanglich noch mechanisch zu überfordern. Auch darf nicht aus den Augen verloren werden, dass jede Restaurierung zeitlichen und damit vergänglichen Prämissen unterliegt.
Auch jenseits historischer Instrumente hat sich im Raum der Kirche seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein breit aufgestellter Konzertbetrieb etabliert, bei dem Orgeln solistisch und in Verbindung mit anderen Instrumenten (Trompete, Flöte) oder Gesang eingesetzt werden. An den zentraleren Orten (z. B. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, Kölner Dom, Dresdner Kreuzkirche, Freiburger Münster) stehen heute große Universalorgeln, mit denen – zumindest beinahe – das gesamte Orgelrepertoire von den Anfängen bis in unsere Tage dargestellt werden kann: von der Orgelmusik der Renaissance über norddeutsche Toccaten und Choralfantasien, italienische Canzonen und spanische Tientos zu den Präludien, mehrmanualigen Choralbearbeitungen und Triosonaten von Johann Sebastian Bach, von den Sonaten der deutschen Romantik, den Symphonien des französischen Impressionismus und Phantasien eines Max Reger bis zur zeitgenössischen Musik in all ihren Ausprägungen.
In ihrer Eignung für das Orgelrepertoire unterscheiden sich die Instrumente der großen Dome kaum von den Orgeln in Konzertsälen, lediglich ihre Intonation und die Gestaltung der Pfeifenmensuren muss im Blick auf den jeweiligen Raum mit mehr oder weniger Hall differenziert werden.
Orgeln dieses modernen Universaltyps verfügen für die deutsche, französische oder englische Musik der Spätromantik über reich besetzte Schwellwerke, mit denen stufenlose dynamische Übergänge erzeugt werden können. Für die klanglichen Besonderheiten der Musik der Orgelbewegung (Aliquot-Register) sowie die musikalische Avantgarde der 1960er Jahre (für die etwa eine Tastenfessel oder ein variabler Winddruck sowie verschiedenartige Steuerungsmöglichkeiten für die Orgelregister erforderlich sind) bieten allerdings nur wenige Orgeln geeignete Voraussetzungen, und zur angemessenen Darstellung älterer Musik (besonders vor 1700) fehlt es an historischen Stimmungen und Mensuren. So haben sich aus dem älteren Repertoire im allgemeinen Konzertrepertoire nur einige „Highlights“ behaupten können, deren Wirkung auch auf modernen Instrumenten ungebrochen ist.
Daneben ist in den letzten Jahren ein Trend aufgekommen, Orgeln in ihrer Bauweise wieder stärker zu differenzieren – auf die Musik einer bestimmten Epoche und die Typologie einer konkreten Orgellandschaft: Disposition (Registerauswahl), Pfeifenmensuren und Stimmung spielen für die adäquate Wiedergabe der Musik eine ebenso wichtige Rolle wie die Konstruktion der Traktur, die Windversorgung und weitere Parameter. Je enger die Anlehnung eines solchen Instruments an den historischen Typus, nach dem es gestaltet ist, desto näher ist das klangliche Resultat an der ursprünglich dafür vorgesehenen Musik – und desto weniger eignet sich dieses Instrument häufig für die Musik anderer Epochen – ein Dilemma, das den Musikbetrieb vor große Herausforderungen stellt. In dieser Beziehung hat sich auch im Bereich der zeitgenössischen Musik die Orgel ein Terrain erobert. In St. Peter in Köln beispielsweise wurde eine Orgel gezielt auf die Bedürfnisse der zeitgenössischen Musik abgestimmt. Sie wird nicht nur in Konzerten, sondern auch im Rahmen einschlägiger Festivals zum Einsatz gebracht. Ein vergleichbares Instrument ist 2017 in St. Martin, Kassel, eingeweiht worden; mit umfangreichen Möglichkeiten – von der stufenlosen Regulierung des Winddrucks einzelner Werke über die Speicherung der Stellung von Registerzügen bis hin zu einem Viertelton-Klavier dient sie konsequent der Interpretation und Weiterentwicklung neuer Orgelmusik. Auch der Orgelprospekt geht neue Wege – nicht der Werkaufbau des Instruments ist an ihm ablesbar, sondern die Aktivität des Pfeifenwindes, der über eine ausgeklügelte Steuerung den Klang der Pfeifen in eine sichtbare Bewegung transformiert.
In Konzertsälen ist dieser Trend bislang kaum zu beobachten: Konzertsaalorgeln müssen sich in der Regel optimal mit dem modernen Orchester kombinieren lassen. Dies schränkt Ausflüge in die ältere Orgelgeschichte bezüglich Stimmungssystem und Stimmton stark ein, zumal der Schwerpunkt dieser Orgeln auf der Orchesterliteratur mit Orgel seit dem 19. Jahrhundert liegt. Im Übrigen ist das Konzertrepertoire – abgesehen von seiner historischen Schichtung – breit aufgestellt und schließt weltliche Musik, Virtuosenstücke und symphonische Werke ein. Immer beliebter werden Bearbeitungen von Orchesterwerken auf der Orgel. Ähnlich den Konzertreihen an großen Kirchen werden auch in einigen Konzertsälen regelmäßig Orgelkonzerte angeboten. Dies hat im Gewandhaus Leipzig bereits eine längere Tradition; später kamen Orgeln wie diejenigen im Audimax Bochum und in der Kölner Philharmonie hinzu, schließlich in den letzten Jahren in der Hamburger Elbphilharmonie und im Konzertsaal des Dresdner Kulturpalasts.
Orgellandschaften in Deutschland
Orgeln unterscheiden sich nicht nur aufgrund unterschiedlicher räumlicher und akustischer Verhältnisse: Neben der Individualität jedes einzelnen Instruments haben sich seit dem 16. Jahrhundert regionale Traditionen gebildet und mehr oder weniger einheitliche Orgellandschaften begründet. Solche Traditionen führten zur Typenbildung, etwa der norddeutschen Barockorgel mit dem „Hamburger Prospekt“, bei der die einzelnen Orgelwerke, die am Spieltisch den Manualen und dem Pedal zugeordnet sind, am Orgelgehäuse ablesbar und räumlich voneinander getrennt sind. In Sachsen entstanden demgegenüber in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gottfried Silbermanns Werkstatt grundtönigere Instrumente, die auf Klangverschmelzung angelegt sind und vornehmlich in einem Gehäuse stehen; Gottfrieds älterer Bruder Andreas Silbermann wiederum baute von Straßburg aus einen französischen Orgeltyp mit klar voneinander getrennten Werken (Hauptwerk, Rückpositiv, bisweilen Brustwerk sowie Pedal) und charakteristischen, kräftigen Klangfarben (Grundstimmen, Zungen, Aliquot-Register, Mixturen).
Diesen Orgeltypen entspricht jeweils ein eigenes, konkretes Orgelmusik-Repertoire; im Gegenzug hat die Musik einer Region häufig die Entwicklung des Orgelbaus nachhaltig beeinflusst. So nehmen die mehrteiligen norddeutschen Präludien und Toccaten mit ihren ausgedehnten Pedalsoli nicht nur auf die reich ausgebauten Pedalwerke, sondern auch auf die räumliche Anordnung der einzelnen Orgelwerke Bezug, während in Mitteldeutschland der kompaktere musikalische Satz eine weitaus geringere Tendenz zum Manualwechsel besitzt. In Frankreich beherrschen melodiöse, farbenreiche Versetten das Bild, die mit typisierten Registrierungen die Klangfarben der einzelnen Stimmen wirkungsvoll zur Geltung bringen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts flossen die regionalen Typen zu größeren Einheiten zusammen. Bedeutsam sind um 1900 die Unterschiede der spätromantischen Orgeltraditionen in Frankreich und Deutschland: auf der einen Seite die von Aristide Cavaillé-Coll in Paris entwickelte (mechanische) Orgel mit einem normierten Spieltisch, an dem die Organisten Manuale (Grand Orgue, Positif, Récit), Register und Bedien-Tritte für die Sperrventile zum Ein- und Ausschalten ganzer Registergruppen jeweils am selben Platz vorfanden, auf der anderen Seite der deutsche Typus von Firmen wie Walcker und Sauer mit pneumatisch (durch Winddruck) gesteuerten, dynamisch abgestuften Manualen, deren Register mittels freier Kombinationen und einer Crescendo-Registerwalze geschaltet werden. Der im Elsass geborene und aufgewachsene Organist, Theologe und Philosoph (und spätere Urwaldarzt in Lambaréné) Albert Schweitzer, der bei Charles-Marie Widor in Paris Orgelunterricht hatte, versuchte mit seiner Schrift Deutsche und Französische Orgelbaukunst und Orgelkunst (1906) zwischen den beiden Typen zu vermitteln. Gleichwohl setzten die großen Orgeln der Nachkriegszeit zunächst die nationalen Typologien fort, klanglich in Rückbesinnung auf Ideale der Barockzeit („Orgelbewegung“), die bis zur Unkenntlichkeit übersteigert wurden. Von den 1980er Jahren an wurde der grundtönigere Klang der spätromantischen Orgeln wieder „salonfähig“, zugleich verschmolzen in Großorgel-Projekten Elemente aus den deutschen und französischen Orgelbautraditionen.
Orgelfestivals, Orgelwettbewerbe und Museen
Die Zahl der Festivals rund um die Orgel hat in den letzten Jahren immens zugenommen. Neben einigen traditionsreichen Festivals, zu denen etwa das 1951 gegründete International Organ Festival Haarlem rund um die Christian-Müller-Orgel (1738) der St.-Bavokerk gehört, sind immer neue Festivals gegründet worden, oft in Verbindung mit Wettbewerben, Meisterkursen, Exkursionen oder Ausstellungen. Einzelne Wettbewerbe sind berühmten Komponisten oder Orgelbauern gewidmet (z. B. der Buxtehude-Orgelwettbewerb Lübeck, der Internationale Orgelwettbewerb um den Bachpreis der Landeshauptstadt Wiesbaden und der Gottfried-Silbermann-Wettbewerb in Freiberg/Sachsen), andere stellen die Improvisation in den Vordergrund (u. a. auch der von den katholischen Ausbildungsstätten für Kirchenmusik ausgelobte Wettbewerb Orgelimprovisation im Gottesdienst).
Einige neue Initiativen fokussieren auf die musikalische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, unter denen hier stellvertretend die Orgelakademie Stade sowie die Orgelentdeckertage der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers genannt werden sollen.
Knapp ein Dutzend Orgelmuseen stellen das Instrument als technisches Bauwerk und in seiner Geschichte vor. Entsprechende Ausstellungen sind etwa in Borgentreich, Malchow, Ostheim vor der Rhön und Schloss Valley zu finden. In der museumspädagogischen Aufarbeitung zeigt sich die reizvolle Vielfalt der Orgel, als technisches Wunderwerk ebenso wie als wandlungsfähiges Musikinstrument (Blas- und Tasteninstrument), das auch heute noch zu faszinieren vermag. Nach dem »Orgeljahr 2019«, in dem in Hamburg mit zahlreichen Veranstaltungen und Formaten des 300. Todesjahrs des Orgelbauers Arp Schnitger gedacht wurde, präsentiert sich Hamburg weiter als Orgelstadt.
Einige Zahlen und Fakten sowie ein Ausblick
Verlässliche Zahlen über Instrumente, Erbauer und Spieler gibt es im Bereich Orgel nur partiell. So sind in der katholischen und evangelischen Kirche aktuell über 3.300 Organistinnen und Organisten hauptamtlich beschäftigt. Sie dürften allerdings nur etwa zehn Prozent aller Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker ausmachen, denn hinzu kommt eine weitaus größere Zahl an neben- und ehrenamtlich Tätigen. Allein für den Bereich der katholischen Kirche ist nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft der Ämter und Referate für Kirchenmusik der Diözesen Deutschlands für das Jahr 2019 von rund 12.700 nebenamtlich oder ohne Vertrag Engagierten auszugehen, die das Gemeindeleben in vielfältiger Weise prägen (vgl. auch die Statistik „Haupt- und nebenamtliche Kirchenmusiker*innen in der katholischen Kirche“). Die Anzahl der in Deutschland existierenden Orgeln wird nach Angaben, die 2011 im Vorfeld des Kongresses „Orgel Orgue Organo Organ 2011“ erhoben worden sind, auf etwa 50.000 geschätzt. [4] Für die Pflege und den Unterhalt der Instrumente sorgen bundesweit rund 280 Orgel- und Harmoniumbaubetriebe, die sich in nationalen und internationalen Organisationen wie dem Bund Deutscher Orgelbaumeister e. V. (BDO) und der International Society of Organbuilders (ISO), zusammengeschlossen haben. [5] Ihre Aktivitäten erstrecken sich, wie bereits dargelegt, neben dem Neubau von Orgeln inzwischen gleichberechtigt auf den Erhalt, die Restaurierung und die Rekonstruktion des reichen Bestands an historischen Orgeln aus allen Epochen der Orgelgeschichte. Auf Initiative der Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands (VOD) wird seit 2010 an vielen Orten der Tag des Offenen Denkmals mit dem "Deutschen Orgeltag" verbunden: neben musikalischen Beiträgen werden vielerorts auch Orgelführungen angeboten.
Seitdem die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland zurückgeht und Kirchen verkauft und umgewidmet oder gar abgerissen werden, ist auch ein Handel mit gebrauchten Orgeln aufgekommen, die in andere Landschaften vermittelt werden. In Projekten wie dem Orgelpark Amsterdam (Parkkerk) und der KunstKlangKirche Zürich-Wollishofen werden bedeutende, aber funktionslos gewordene Orgeln als Denkmäler gesammelt und für pädagogische Zwecke genutzt. Der hohe Stand der Orgelkultur in Deutschland hat 2014 die Kultusministerkonferenz der Länder veranlasst, die Orgel in die nationale Liste des immateriellen Kulturguts aufzunehmen. Im Dezember 2017 nahm der Zwischenstaatliche UNESCO-Ausschuss zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit Orgelbau und Orgelmusik in die UNESCO-Liste auf; die Auszeichnung wurde im September 2018 in Berlin überreicht. [6]
Fußnoten
Ein Beispiel findet sich in dem erhaltenen Fußbodenmosaik einer Villa bei Nennig/Mosel aus der Zeit um 230/40 n. Chr.; vgl. Matthias Schneider: Zum Orgelspiel in der Liturgie, in: Albert Gerhards/Matthias Schneider (Hrsg.):Der Gottesdienst und seine Musik, Bd. 2: Liturgik. Gottesdienstformen und ihre Handlungsträger (Enzyklopädie der Kirchenmusik 4), Laaber 2014, S. 59–69.
Kees Vellekoop: Die Orgel von Winchester: Wirklichkeit oder Symbol?, in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis VIII (1984), S. 183–196.
Matthias Schneider: Die Visbyer Orgeltabulatur – ein „Musterbuch“ der liturgischen Orgelkunst?, in: Acta Organologica 34, Kassel 2015, S. 357–368.
Vgl. Michael Kaufmann: Länderbericht Deutschland, in: Bernhard Billeter, Markus T. Funck, Michael G. Kaufmann: Orgel Orgue Organo Organ 2011. Internationales Symposium zur Bedeutung und Zukunft der Orgel, Zürich 2011, S. 128–133.
Vgl. auch die Liste des miz. In einer etwas weiter gefassten Schätzung wird davon ausgegangen, dass darüber hinaus weitere ca. 100 Kleinstunternehmen existieren, über deren handwerkliche Ausrichtung und Auftragsvolumen jedoch keine Angaben vorliegen.
Vgl. die Pressemitteilung der Deutschen UNESCO-Kommission vom 7. Dezember 2017.