Der Islam ist neben dem Judentum und dem Christentum eine der drei großen abrahamitischen Buchreligionen und bildete sich im 7. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung auf der arabischen Halbinsel heraus. Er bezeichnet sowohl die Glaubensgemeinschaft als auch den Kulturraum der Völker, die der Lehre des Propheten Mohammed folgen. Der Koran gilt den Muslimen als die zuverlässigste Quelle religiösen Wissens. Nach Mohammeds Tod (632 n. Chr.) kam es in Folge eines Erbfolgestreits zu einer Spaltung der Muslime in die Gruppe der Sunniten und die der Schiiten. Unter Sunniten versteht man diejenigen Muslime, die den Nachfolger des Propheten traditionell aus dem Stamm Mohammeds bestimmten und den Islam im Lichte der Sunna, der Lebenspraxis des Propheten, als die gelebte Ausdeutung der Offenbarung, verstehen. Die Schiiten hingegen folgten der „Partei“ (arab. „Schia“) des Cousins und Schwiegersohns von Mohammed, dem vierten Kalifen ʿAli bin Ebutalip.
Diese zwei Hauptströmungen wiederum haben eine Reihe von Ausrichtungen und Untergruppen gebildet. Innerhalb der Sunniten sind es die Richtungsschulen, wie Hanefiten in der Türkei, Hanbaliten in Saudi-Arabien, darunter Wahhabiten/Salafisten, Malikiten in Nordwestafrika oder die Schafiiten in Südostasien. Innerhalb der Schiiten haben sich die Zwölferschia im Iran, die Siebenerschia (Ismaeliten), die Fünferschia im Jemen und die Alawiten in Syrien abgespalten. Weitere religiöse Ausformungen sind entstanden, wie etwa der einer islamischen Mystik zuzuordnende Sufismus ab dem 9. Jahrhundert mit einer Reihe von sufischen Ordensbildungen, die von Nordafrika bis Südostasien verbreitet sind. Die Bekanntesten sind die Mevlevî, („Tanzende“ oder „Drehende“ Derwische), Bektaşî, („Singende“ Derwische) und die Naqshbandi, die ein stilles und stummes Gottesgedenken vorziehen und Musik und Tanz zum Lobe Gottes teilweise ablehnen, wie z. B. im heutigen Afghanistan und Pakistan. Die Ideenwelt des Sufismus ist über islamische Länder hinaus weltweit verbreitet.
Eine weitere Gruppe bilden solche Religionsgemeinschaften, in denen sich indigene Glaubenstraditionen mit islamischen vermischten, wie die aus Indien stammende Ahmadiyya, die zusätzlich noch einen Propheten verehrt. In der Türkei hat sich, teils aus Riten alter Nomadenstämme, teils aus Verehrung zum vierten Kalifen ʿAli die Richtung der Aleviten entwickelt. Sie haben ein eigenes Glaubensbuch und Glaubensbekenntnis sowie eigene Versammlungshäuser und praktizieren im Kultus keine Geschlechtertrennung, wie sie größtenteils im sunnitischen und schiitischen Islam der Brauch ist. Sowohl die Anhänger der Ahmadiyya, und auch die Aleviten, wie auch einige weitere hier nicht genannte, z. B. die Bahai-Sekte aus dem schiitischen Umfeld, werden nicht von allen Muslimen als zur Umma, der Gemeinschaft aller Muslime, zugehörig angesehen. Sunniten (weltweit geschätzt ca. 85 Prozent der Gläubigen, in der Türkei ca. 75 Prozent), Schiiten (weltweit ca. 15 Prozent) und Aleviten (in der Türkei ca. 25 Prozent) betrachten sich größtenteils wechselseitig als häretische Gruppierungen. Insgesamt verzeichnet der Islam weltweit rund eine Milliarde Anhänger.
Islam in Deutschland
Mit der Einwanderung zahlreicher Menschen aus islamisch geprägten Ländern ab Mitte des letzten Jahrhunderts hat die Bedeutung des Islam in Deutschland zugenommen. Die Bundesrepublik Deutschland (alte Länder) hatte nach einem Anwerbeabkommen mit einigen Ländern aus dem Mittelmeerraum seit Mitte der 1950er-Jahre so genannte „Gastarbeiter“ aufgenommen. Aus islamisch geprägten Regionen kamen zunächst Muslime aus Gebieten des ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland, ab 1964 dann auch Immigranten aus der Türkei.
Die Anzahl der Musliminnen und Muslime wird hierzulande derzeit auf ca. vier Millionen geschätzt. Die türkischstämmige Bevölkerung macht mit rund 2,5 Millionen den größten Anteil aus, wobei ein Teil ursprünglich aus der Türkei nach Deutschland eingewandert, ein anderer bereits hier geboren worden ist. Zu den übrigen 1,5 Millionen gehören Muslime aus Ländern in Nordafrika, dem Nahen Osten und der Arabischen Halbinsel, des Weiteren dem süd- bis südöstliches Asien (Iran bis Indonesien) und zuletzt aus Zentralasien. [1] Mit den aktuellen Flüchtlingsbewegungen seit dem Sommer 2015 kommen größere Gruppen z. B. aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und aus nordafrikanischen Ländern nach Deutschland, um Asyl zu beantragen. Man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil der inzwischen auf rund eine Million bezifferten Gruppe muslimischen Glaubens ist, genaue Zahlen jedoch fehlen bislang.
Seit etwa 1970 bedienen sich Muslime in Deutschland Organisationsformen und -strukturen, die den deutschen Verwaltungsanforderungen entsprechen. Die meisten Moscheen und Gebetsräume werden von Vereinen getragen. Zusammenschlüsse von muslimischen Gemeinden auf Landes- und auf Bundesebene entstanden um das Jahr 1985. Hierzu zählt die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB), die als Dachverband die religiösen, sozialen und kulturellen Aktivitäten in vielen türkisch-islamischen Moscheegemeinden koordiniert. Sie vertritt jedoch nur einen Teil der in Deutschland lebenden Muslime sunnitischen Glaubens. Neben der DİTİB existieren noch zahlreiche andere Vereine, wie z. B. die Alevitische Gemeinde Deutschland oder das Muslimische Forum Deutschland, um nur zwei zu nennen.
Musik im Islam – Formen und Wesenszüge religiöser Musik
In einigen Ausprägungen des orthodoxen Islam existiert eine kritische Haltung gegenüber Musik und Tanz, die bis zum völligen Verbot reicht; diese kann sich auch auf den säkularen Kontext erstrecken – beispielsweise unter der Taliban-Herrschaft in Afghanistan – , obwohl im Koran und seinen Auslegungen direkt keine entsprechend ablehnend interpretierbaren Aussagen enthalten sind. Das Verständnis von Musik und der Musikbegriff im Allgemeinen im Islam unterscheidet sich in einigen Aspekten erheblich von dem westlich/abendländischen; dies betrifft vor allem die Bereiche Mikrotonalität, komplexe rhythmische Zyklen (bis weit über 100 Zählzeiten) und spezielle Strukturen der Aufführungspraxis mit strengem Regelwerk einerseits und großen interpretatorischen Freiräumen andererseits. In arabischsprachigen Ländern wird das Wort mūsīqā für musiktheoretische Abhandlungen (z. B. über Tonsysteme, Musikinstrumente, Musikästhetik) verwendet. Musik oder Musikausübung ist aus traditioneller Sicht in erster Linie Gesang verbunden mit Freude tarab. Im osmanisch-türkischsprachigen Raum wurde das aus dem Arabischen entlehnte Wort musiki für Tonkunst allgemein verwendet, später durch das aus dem Französischen entlehnte Wort müzik ersetzt. Letzteres ist heute hauptsächlich für den Begriff Musik in Gebrauch, mit verschiedenen Attributen (z. B. türk halk müziği = türkische Volksmusik).
Begriffe wie kultische, liturgische, geistliche und weltliche Musik, wie sie für die christliche Religionsgemeinschaften annähernd definiert werden können, sind in den muslimischen Kulturbereich nur bedingt zu übertragen. In der Türkei können zwar religiöse und nicht religiöse Musikbereiche unterschieden werden, doch ebenso wie in den arabischsprachigen Ländern sind die Grenzen auch hier nicht immer klar. Im Zentrum der religiösen Musik steht das „gesungene“ Wort. Andererseits werden eine Reihe von religiösen Festen und Feierlichkeiten mit Gesang, Instrumentalmusik und Tanz begleitet. Insbesondere interpretierten verschiedene mystische Bruderschaften den Ausspruch Mohammeds, dass die menschliche Stimme den Koran verzieren soll, als eine Erlaubnis, das Singen mit in die Gottesverehrung einzubeziehen, und nahmen darüber hinaus instrumental begleitete und tänzerische Darbietungen in ihre religiösen Zeremonien auf. Neben den häufig als elitär empfundenen und teils auch in diesem Verständnis geführten Ordensgemeinschaften haben sich in einzelnen ethnischen Gruppen, auch über größere Regionen hinweg, Strömungen entwickelt, die regionale (Musik-)Traditionen miteinbeziehen. Hierzu zählen die Verehrung von regionalen Heiligen und Heiligtümern mit ihren entsprechenden Wallfahrtsorten (z. B. Heiligengräber, im Türkischen türbe genannt) oder beispielsweise das Schmücken von so genannten „Wunschbäumen“.
Der orthodoxe Kultus in der Moschee
Die große Mehrheit der Sunniten und Schiiten praktiziert den Kultus in der Moschee mit den arabischsprachigen Koranrezitationen sowie einem formalisierten ebenfalls arabischsprachigen Muezzin-Ruf, was auch für die im immer noch als Diaspora empfundenen Deutschland lebenden Muslime gilt. Aus musikalischer Sicht vereint diese muslimische Mehrheit die Ausübung auf der Basis des maqām (oder auch Makam), einem modal/tonskalenbasierten Konzept mit den Kirchentonarten-ähnlichen Verschiebungen von Ganz- und Halbtönen mit mikrotonalen bis zu Viertelton-Intervallschritten, das auf einem System von Tetra- und Pentachorden (Vier- und Fünftongruppen) aufbaut. Wie bei den in der europäischen Musik gebräuchlichen Tonleitern handelt es sich bei den maqām-en um siebenstufige Skalen. Trotz der unterschiedlichen Entwicklungen ist der maqām der wichtigste Grundbaustein sowohl der arabischen, persischen wie auch der osmanisch/türkischen traditionellen Kunstmusik sowie einzelner Genres religiöser Musik.
Im Kultus in der Moschee ist in der Regel nur die menschliche Stimme zugelassen. Koran-Rezitation und der Gebetsruf des Muezzins werden jedoch von den muslimischen Geistlichen nicht als „Musik“ oder „Gesang“ bezeichnet, sondern als „Lesen mit schöner Stimme“ umschrieben. Die Lesung des Koran ist die „Kunst der Rezitation des heiligen Buchs nach feststehenden Regeln für Aussprache, Intonation und Zäsuren“ [2], vom Propheten selbst aufgestellt und von Generation zu Generation weitertradiert. Die Lesung des Korans hat eine liturgische und sakrale und sogar mystische Funktion. Sie findet im Allgemeinen freitags statt – in der Moschee während des Gottesdiensts, zu Hause bei religiösen Feierlichkeiten im Familienkreis, aber auch in Fernsehübertragungen.
Gebetsrufe
Der Gebetsrufer Muezzin ruft vom Minarett mit dem Gebetsruf aḏān/ezan die Gläubigen zum Freitagsgottesdienst und zu den fünf für diesen Tag und auch die übrigen Wochentage vorgeschriebenen Gebeten – am Morgen, am Mittag, am Nachmittag, bei Sonnenuntergang und am Abend. Das Pflichtgebet ist für jeden volljährigen Muslim fünfmal am Tag zu verrichten und gehört zu den fünf Hauptpflichten des Islam.
Gebetsrufe werden von einem männlichen Muezzin – Frauen sind bisher nicht für dieses Amt zugelassen – live vorgetragen und aus einem Moscheeraum über ein Mikrophon in Lautsprecher, die in den vier Himmelsrichtungen am Minarett angebracht sind, übertragen. In früheren Zeiten, in denen diese Technik noch nicht zur Verfügung stand, bestieg der Muezzin fünfmal am Tag das Minarett oder das Dach der Moschee, um den Gebetsruf nacheinander in den vier Himmelrichtungen zu verkünden. Der Muezzin muss eine schöne und auf alle Fälle weitreichende Stimme haben. Zur Gesangstechnik und zum Gesangsstil gehört der Vortrag mit einer gepressten Stimme, bei der der gesamte Atmungsapparat in Anspannung versetzt ist, um recht lange singen zu können; der Sänger schöpft für einen Atemzug Luft, presst und staut sie an, bis die Halsadern schwellen, das Gesicht rot anläuft und auf der Stirn über der Nasenwurzel steile senkrechte Falten entstehen. Für den nächsten Melodiezug beginnt der Zyklus von vorn. Bei einem feierlichen Anlass ist es üblich, dass zwei Muezzins singen, zum Teil im Wechsel, zum Teil sich überlappend.
Der Text des Gebetsrufs, der auch teilweise als Glaubensbekenntnis verstanden wird, umfasst in der Regel sieben Formeln:
- Allah ist groß.
- Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah.
- Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist.
- Kommt zum Gebet.
- Kommt zum Heil.
- Allah ist groß.
- Es gibt keinen Gott außer Allah.
Der Ruf kann durch tageszeitliche Zusätze ergänzt werden und zu besonderen Festen und Feiertagen Sonderformen enthalten. Der Gebetsruf, wie er in Abbildung 1 gezeigt wird, entspricht zwar nicht der üblichen Textversion, wurde jedoch an dem Tag der Aufnahme in dieser Form gesungen. Es ist zudem ein Beispiel dafür, dass die Ausführungen von Muezzin zu Muezzin, von Region zu Region und von Land zu Land zuweilen stark abweichen können. Das betrifft besonders Muezzins aus solchen Regionen, in denen das verwendete Tonsystem, wie z. B. in Indonesien mit seinen teils sechsstufigen Tonleitern, von dem arabischen siebenstufigen maqām-System stark abweicht.
Die sieben Formeln des Gebetsrufs werden nach festgelegten Regeln einmal oder mehrmals wiederholt, wobei nach jeder Formel eine längere Gesangspause folgt. Die musikalische Struktur wird dadurch bestimmt, dass beim ersten Auftreten einer Formel der Melodiezug mit wenigen Verzierungen in einem geringen Tonumfang vorgetragen wird. Bei der Wiederholung wird der Melodiezug dann melismatisch reich verziert, und der Tonumfang kann sich bis über eine Oktave ausdehnen. Die insgesamt zwölf Melodiezüge bauen auch auf dem maqām-Prinzip auf. Der Gebetsruf wird ohne rhythmische Formeln frei metrisch, in langsamem Tempo, lang ausgehaltenen Tönen und mit Melismen sowohl auf Vokalen wie auch Konsonanten ausgeführt.
Auf eine klangliche Besonderheit soll an dieser Stelle noch hingewiesen werden. Nicht jeder Muezzin beginnt den Gebetsruf auf den Bruchteil einer Sekunde genau auf dem für den Moschee-Ort ausgerechneten Zeitpunkt. So fügt sich in Orten mit mehr als einer Moschee ein Zusammenklang besonderer Art, der nicht mit einem polyphonen Klang zu verwechseln ist. Es entsteht das, was man unter heterophoner Musikpraxis versteht, ein Vielklang, bei dem es zu individuellen Abwandlungen des gleichen vorgedachten Melodiezugs durch die einzelnen Ausführenden kommt, mit Varianten und Verzierungen, teilweise auch improvisatorischen Einschüben. Es schwillt an und entwickelt sich zu einem musikalischen Höhepunkt, der meist auf den erreichten höchsten Ton der Skala fällt, um dann wieder bis zum Ausgangston, dem Basiston der maqām-Skala abzusteigen und auszuklingen. In sehr großen Städten, wie Kairo oder Istanbul, kann man einen Eindruck von diesem Phänomen gewinnen.
Koran-Rezitationen
Die Koranlesungen werden während des Freitagsgottesdiensts abgehalten, der in der Regel um die Mittagszeit stattfindet. Der Imam (arab. Vorsteher, Vorbild) liest jeweils ein Kapitel des Koran – vollständig oder in Auszügen – vor. Auch hier ist es eine männliche Person, die dieses Amt innehat, jedoch können sich inzwischen Frauen zu Religionsgelehrten ausbilden lassen, dürfen aber nicht als Vorbeterin praktizieren. Diese öffentlich vorgetragenen Koranlesungen werden nach den Regeln wie für den Gebetsruf beschrieben, d. h. solistisch in melismatischer Ausarbeitung ausgeführt. Sie erfordern vom Imam die Beherrschung des maqām-Repertoires und der Leseregeln für den Korantext sowie die Voraussetzung einer klangvollen Stimme in hoher Tonlage.
Die Formen des religiösen Kultus zeichnen sich durch folgende Wesenszüge aus: Texte aus dem Koran werden aus musikalischer Sicht, wie schon erwähnt, auf der maqām-Basis vorgetragen, mit speziellen Diktionsregeln im Korantext in Form von Zeichen, z. B. Kreisen, die auf das richtige Aussprechen und Verschmelzungen von Konsonanten hindeuten. Diese Zeichen weisen jedoch nicht – wie z. B. Neumen oder die Teamin im Alten Testament der Bibel – auf melodische Wendungen oder musikalische Schilderungen hin, wohingegen in den Ausführungen der traditionellen weltlichen Kunstmusik die maqām-Darstellung mehr einen Ton bzw. eine Tonebene umspielt. Dieser Hauptunterschied bleibt als Kern in der weltlichen sowohl arabischen, persischen wie auch türkischen Kunstmusik trotz unterschiedlicher Ausprägungen erhalten. In der Praxis der religiösen Musikformen werden die Melodiezüge auswendig – ohne schriftliche Notationen – nach vorgedachten Regeln und überlieferten Vorbildern memoriert und je nach Genre mit oder ohne metrische Bindung improvisiert.
Musiktraditionen zu religiösen Festen, Feierlichkeiten und Zeremonien
Der Jahreslauf enthält im arabischsprachigen Ursprungsland sowie in den verschiedenen islamischen Kulturräumen eine Reihe von religiösen Festen, Feierlichkeiten und Zeremonien, die mit Gesängen, Instrumentalmusik und Tanz begleitet werden.
Das Islamische Jahr richtet sich nach dem Mondwechsel und ist folglich kürzer als das Sonnenjahr. Man nennt es das „Hidschrajahr“, benannt nach der Emigration (hiǧra) des Propheten Mohammed und der muslimischen Gemeinde von Mekka nach Medina im Jahr 622 unserer Zeitrechnung, dem ersten Jahr der muslimischen Zeitrechnung. Es besteht ebenfalls aus zwölf Monaten, die jedoch jeweils nur 29 bis 30 Tage umfassen. Das hat zur Folge, dass die islamischen Feste, die auf bestimmte Mondtage im Jahr festgelegt sind, sich im Laufe der Zeit über den ganzen Zyklus des nach christlicher Zeitrechnung gebräuchlichen Sonnenjahrs verschieben. Zudem beginnt der neue Tag am Abend mit dem Sonnenuntergang und umfasst Nacht und Tag. Der Wochenruhetag ist der Freitag. Aufgrund der weltweit unterschiedlichen Ausprägungen soll sich die nachfolgende Darstellung der religiösen Feste auf die Länder des Nahen und Mittleren Ostens konzentrieren.
Zu den sunnitischen Festen zählt an erster Stelle das Opferfest, das höchste islamische Fest. Es wird im letzten Monat des Jahres, dem Pilgermonat, gefeiert. In jedem Jahr findet die Pilgerfahrt nach Mekka statt, die jeder Muslim, dessen Gesundheit und ökonomische Situation es erlaubt, mindestens einmal im Leben unternehmen sollte. Im Fastenmonat Ramadan oder Ramazan, dem neunten Monat, haben die Nächte für die Gläubigen eine besondere Bedeutung. Hervorgehoben wird die 27. Nacht, die „Nacht der Bestimmung“; ihr ist eine ganze Sure im Koran gewidmet.
Eine hervorgehobene Stellung hat nach dem Ende des Fastenmonats das drei Tage währende Fest des Fastenbrechens, das Zuckerfest. Es gilt als Familienfest, bei dem man sich gegenseitig, und besonders die Kinder (vergleichsweise zum christlichen Weihnachtsfest) beschenkt. Der Geburtstag des Propheten Mohammed wird am ersten Tag des dritten Monats mit einer öffentlichen Aufführung der Geburtsgeschichte Maulid/Mevlît (heute im Türkischen weitestgehend durch Mevlût ersetzt) des Propheten gefeiert. An diesem Tag kommen Gläubige zur Moschee, um die Maulid-Geschichte zu hören. Der Maulid kann auch auf besonderen Wunsch eines Gläubigen im häuslichen Rahmen vorgetragen werden.
Von den speziellen Feierlichkeiten schiitischer Muslime sind die ersten zehn Tage des ersten Monats Muḥarram/Muharrem zu nennen; sie gelten für irakische und iranische Schiiten als Trauerperiode. Besonders am zehnten Tag beklagen sie den Jahrestag des Märtyrertods von Husain (türkisch Hüseyin), dem Sohn des vierten Kalifen ʿAli, der bei Karbalā’ im Irak in der so genannten „Ashura-Nacht“ ermordet worden war. Gleichfalls betrauert wird sein Tod von der alevitischen Glaubensgemeinschaft in der Türkei, deren Mitglieder ebenfalls Anhänger ʿAlis sind. Darüber hinaus gedenken die Aleviten wöchentlich über das ganze Jahr in der Cem-Zeremonie an diese Leidensgeschichte, den Märtyrertod ihres Glaubensstreiters ʿAli und seiner Söhne Hasan und Hüseyin.
Zeremonien zur Anbetung Allahs, die so genannten Dhikr- oder auch Zikr-Zeremonien, werden besonders in vielen der islamischen Mystik zuzuordnenden sufischen Orden praktiziert. In Deutschland hat als erstes Bundesland Hamburg im Jahr 2012 das Opferfest, das Fest des Fastenbrechens und das Ashura-Fest, als Feiertage anerkannt.
Die Formen der Ausgestaltung religiöser Feierlichkeiten reichen von a cappella und instrumental begleiteten Gesängen über rein instrumentale Gattungen bis hin zu Tänzen zur Musik der vorgenannten Besetzungen. Die A‑cappella-Gesänge können solistisch als auch chorisch ausgeführt werden. Zu den solistischen A‑cappella-Gesängen können die Koranrezitationen, gesungene Gebete zum Geburtstag des Propheten gezählt werden. Als außerkultische Begleitung kann – neben Body-Percussion – die einfellige Rahmentrommel mit oder ohne eingelagerte Cymbeln fungieren, z. B. beim Dhikr. Solistische Instrumentalpartien können ebenfalls Teil einer Zeremonie sein. Die dafür verwendeten Soloinstrumente gelten häufig als „heilig“. Begleitet ein Ensemble, besteht dies häufig aus Instrumententypen wie in den jeweiligen Regionen in der Kunstmusik oder auch Volksmusik üblich.
Die Tänze werden in offener und geschlossener Kreisform sowie frei im Raum drehend ausgeführt. Zeremonien mit ausschließlich männlicher Beteiligung werden z. B. bei den Mevleviyye besonders im Stammkloster zelebriert, in jüngster Zeit gibt es auch gemischtgeschlechtliche Darbietungen von Sängern, Instrumentalisten, Tänzern, z. B. im Mevlevî-Kloster in Istanbul. Ein gemischtgeschlechtlicher Ritus gilt von jeher in der alevitischen Cem-Zeremonie. Diese rituelle Erinnerung wird von Sängern, Instrumentalisten, Tänzern ausgestaltet. Passionsspiele zum Trauermonat Muharram der irakischen und iranischen Schiiten repräsentieren das ursprüngliche Geschehen in szenischen Darstellungen und unter Beteiligung von Teilen der Bevölkerung.
Praxis religiöser Musik von Muslimen in Deutschland
Alle hier aufgeführten religiösen Praktiken werden, wenn auch in Abwandlungen und unterschiedlichen Gewichtungen – mit wenigen Ausnahmen – auch in Deutschland praktiziert.
Die islamischen Gebetsrufe des Muezzins sind hier durch die Religionsfreiheit geschützt. Es gibt ungefähr 30 Moscheen in Deutschland, in denen der Muezzin – teilweise ohne, teilweise mit Lautsprecher – die Gläubigen zum Gebet ruft. Die Fatih-Moschee in Düren war die erste, die sich dieses Recht im Jahr 1985 erstritten hatte. Die meisten Moscheen mit Gebetsruf befinden sich in Nordrhein-Westfalen; weitere sind in anderen Bundesländern, wie z. B. in drei Städten in Schleswig-Holstein zu finden. In Hamburg, wo vor 50 Jahren die erste schiitische Moschee Europas eingerichtet wurde, verkündete ein Muezzin im Jahr 2012 zum ersten Mal den Gebetsruf vom Minarett. Der Zeittakt der Rufe wird unterschiedlich gehandhabt, von einmal pro Woche bis zu fünfmal am Tag. Die vorgeschriebene maximale Lautstärke gibt die DİTİB mit 55 Dezibel an, wodurch sich die Hörbarkeit des Rufs auf eine Entfernung von ca. 150 bis 200 Meter auswirkt. Sollte die Lautstärke für die Nachbarschaft zu hoch sein, kann der Ruf untersagt werden.
Im Fastenmonat Ramadan wird das Fastenbrechen in speziellen türkischsprachigen Radioprogrammen für jeweilige Regionen und Zeitzonen berechnet den Hörern mitgeteilt, auch mit musikalischen Einspielungen und Koranzitaten verbunden. In Berlin-Neukölln, einem Bezirk mit einer besonders hohen Anzahl von arabischen und türkischen Muslimen, wird seit einigen Jahren das Ende des Fastenmonats mit einem öffentlichen Straßenfest und allen Anwohnern gemeinsam gefeiert. Darüber hinaus hat sich seit einigen Jahren das Programm des Kulturfests Die Nächte des Ramadan am Museum für Islamische Kunst Berlin etabliert.
Die zehntägige Periode des Monats Muharrem und speziell den zehnten Tag begehen die Aleviten mit Trauerfeiern und Klagegesängen, z. B. den mersiye. Sie finden im nicht öffentlichen Raum, in Versammlungsräumen der Gemeinden oder religiösen/sozialen Vereinen statt. In Süd-Brandenburg gibt es seit 1992 ein mevlevihane (Ordenshaus) mit einem Lehr- und Lernbetrieb sowie umfangreichen Seminar- und Kursangeboten, des Weiteren den Kubrevi-Mevlevî-Orden mit einem Bildungs- und Sozialwerk als gemeinnützigem Verein sowie eine interkulturelle und interreligiöse Bildungseinrichtung und Beratungsstelle. Der Kubrevi-Mevlevî Orden ist eine vom Ausland unabhängige Ordensgemeinschaft mit sowohl ordinierten als auch nicht ordinierten (Laien-)Geschwistern (Frauen und Männer). Er praktiziert die Dhikr-Zeremonie und auch den semâ-Tanz.
Die Aleviten, die prozentual einen größeren Anteil an der Gesamtheit der türkischen sunnitischen Muslime in Deutschland haben als in der Türkei, sind sehr gut organisiert. Für die Cem-Zeremonie stehen ihnen zahlreiche Cemevi (Bethäuser) zur Verfügung, darüber hinaus betreiben sie eine Reihe von Kultur- und Sozialvereinen. Besonders alevitische Jugendliche sind stark in die Gemeinde eingebunden und erhalten dort nicht nur Religionsunterricht, sondern auch Unterricht im bağlama-Spiel. Im außerzeremonialen Kontext integrieren Mitglieder z. B. ihre rituellen semah-Tänze in Konzertaufführungen und Bühnenpräsentationen; es können auch mehrstimmige Bearbeitungen von traditionellen Liedern der Cem-Zeremonie nach abendländischer Kompositionstechnik zur Aufführung kommen. Vertonungen von Gedichttexten aus der Mevlevî-Zeremonie liegen in Kompositionen zeitgenössischer klassischer abendländischer Musik vor.
Auf dem Gebiet der Popularmusik haben sich europaweit Genres eines so genannten „Pop Islam“ und „Islam Rap“ entwickelt; die Protagonisten, meist aus der Gemeinschaft der jungen Muslime Europas, verarbeiten besonders englischsprachige, aber auch arabische, pakistanische, türkische, deutsche Singtexte.
Ausbildung, Berufspraxis, Unterricht
Ausbildung zum Muezzin und Koranrezitator
Der Muezzin selbst ist zwar kein Geistlicher, trägt jedoch entscheidend zur täglichen Ausübung der religiösen Pflichten bei. Er ist am ehesten mit einem Glöckner zu vergleichen. In der Türkei ist er Staatsbeamter. Eine konkrete, musikalische Ausbildung, um als Muezzin tätig sein zu können, existiert in der Türkei allerdings nicht. Es ist jedoch von Vorteil, eine Gesangsausbildung zu haben und sich mit dem Koran auszukennen. Ein Muezzin muss auch nicht zwingend ein Geistlicher sein. Aufgrund der mäßigen Bezahlung sind viele Muezzins auf ein Nebeneinkommen angewiesen, welches z. B. in Form von privaten Koranlesungen oder der Beiwohnung von Begräbnissen bestritten wird. In der Türkei erfolgt die Auswahl des Muezzins durch die DİTİB. Dabei spielt die Stimmlage und die Beherrschung der unterschiedlichen maqām‑e eine entscheidende Rolle. Mittlerweile gibt es in der Türkei, aber auch in Deutschland und dem restlichen Europa, so genannte Muezzin-Wettbewerbe, welche es den Interessenten ermöglichen, sich als Muezzin zu qualifizieren. Hohe Männerstimmen sind dabei von Vorteil, denn sie gelten als geeignet.
Die Ausbildung zum Koranrezitator ist Teil der Ausbildung zum Imam; diese bieten verschiedene Institutionen an. Die DİTİB beispielsweise schickt in der Türkei ausgebildete Imame nach Deutschland, was allerdings insofern zu Problemen führen kann, als dass sie (anfangs) nur türkisch sprechen. Die Imamausbildung in Deutschland findet in hier ansässigen muslimischen Vereinen bzw. Kulturzentren seit den 1980er-Jahren statt, wie im Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). In Berlin existiert die Buhara-Imamschule, ein Privatinstitut sufischer Ausrichtung in Berlin-Karlshorst. An den drei deutschen Universitäten Tübingen, Münster und Osnabrück werden seit dem Wintersemester 2010/11 ebenfalls Imame ausgebildet. Zudem plant die DİTİB, in Berlin eine Imamausbildung zum Wintersemester 2017/18 zu beginnen.
Ausbildung an einzelnen Instrumenten
Mittlerweile gibt es auch in Deutschland eine breite Palette an Ausbildungsmöglichkeiten für Instrumente aus dem islamischen Kulturraum. Neben einer professionellen Ausbildung an staatlichen und privaten Instituten existiert auch im Bereich des Laienmusizierens ein vielfältiges Unterrichtsangebot, etwa an den öffentlichen Musikschulen. Nach Angaben des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) erhalten hier bundesweit derzeit über 1.300 Schülerinnen und Schüler Unterricht an Instrumenten wie bağlama oder saz. [3]
Ab dem Wintersemester 2016/17 ist es an der Berliner Universität der Künste möglich, für das Studium Lehramt-Musik die bağlama als Hauptfach-Instrument zu wählen. Ebenfalls seit kurzer Zeit bietet die Orientalische Musikakademie Mannheim Unterricht auf Instrumenten der traditionellen arabischen und türkischen Kunstmusik an; dazu zählen die Kurzhalslaute oud/ûd und die becherförmige Trommel darabukka/darabuka. Darüber hinaus werden dort Gesang und Instrumente der traditionellen türkischen Kunst- sowie Volksmusik unterrichtet, darunter ney, tanbûr, rebȃb, kanûn, kemençerumî, santûr und saz/bağlama.
Das Private Konservatorium für türkische Musik und die Deutsch-türkische Musikakademie, beide mit Sitz in Berlin, bilden bereits seit fast 20 Jahren in Gesang und Instrumenten der traditionellen türkischen Kunst- und Volksmusik sowie an den Instrumenten aus, die auch an der Orientalischen Musikakademie Mannheim gelehrt werden. Beide Institute bieten zudem Unterricht in Klavier- und Gitarrenspiel, jedoch können keine für Deutschland zertifizierten Diplome ausgestellt werden.
Besondere Verbreitung findet die Ausbildung des bağlama-Spiels in alevitischen Gemeinden, in denen eine besondere Förderung des eigenen Nachwuchses stattfindet, denn gut ausgebildete bağlama-Spieler werden für den Ritus benötigt. Viele alevitische Familien achten zudem darauf, dass die Traditionen des bağlama-Spiels auch in der Diaspora aufrecht erhalten werden. Hierfür bieten auch private Kultur- und Sozialvereine und auch Musikalienhandlungen entsprechenden Unterricht an. In regelmäßigen Abständen zeigen sie in Konzerten ihr Können, meist vor einem familiären Publikum. Darüber hinaus ist die bağlama seit 2001 als Bewertungskategorie in den Wettbewerb „Jugend Musiziert“ des Deutschen Musikrats aufgenommen worden. Nach anfänglichen Beteiligungen in Regional- und Landeswettbewerben gehört die bağlama inzwischen auch zum Fächerkanon des Bundeswettbewerbs. Hier zeigen muslimische Kinder und Jugendliche (Sunniten und Aleviten) ihre Fähigkeiten in der Öffentlichkeit bundesweit nun einem größeren Publikum. Es ist zu hoffen, dass die Anzahl der Bewerber weiter anwächst und dass zudem für weitere Instrumente, wie z. B. die Kurzhalslaute oud/ûd, Bewertungskategorien im Wettbewerb in Zukunft eingerichtet werden können.
Fazit
Die muslimische Welt ist aus mannigfaltigen Gründen im Umbruch, und so sind auch Entwicklungen der Musiktraditionen und Musikkulturen verschiedensten globalen Einflüssen und Veränderungen unterworfen. Hieraus haben sich verschiedene hybride Mischformen, veränderte Musikpraktiken bis hin zu kreativen Neuschöpfungen entwickelt, wie etwa bei den sozialkritischen Liedtexten der Liedermacher, den âşık oder in den Rapgesängen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden auch westliche Einflüsse immer stärker; in der Türkei ist seit Bildung der Republik in den 1930er-Jahren die erste Komponistengeneration entstanden, mit Kompositionstechniken nach abendländischen Vorbildern, mit Reformierungsvorschlägen des musikalischen Lebens nach Paul Hindemith. Diese Modernisierungen haben auch teilweise die religiöse Musik erreicht, setzen sich besonders in den Ländern fort, die als Diaspora empfunden werden und zu denen auch Deutschland zählt.
Die gesamte moderne Musiktechnologie bis hin zur Digitalisierung von Musikkonserven hat auch die islamische Welt erfasst und zu nahezu unübersehbaren Produktionen im Alltags- und Unterhaltungsbereich geführt. So können in einzelnen Ländern und Regionen Produktionen von Musikstücken für nur ein spezielles Musikgenre in die Hunderttausende gehen. Aus diesem Grunde ist die Erhaltung und Pflege der traditionellen Musikkulturen in allen muslimischen Ländern von größter Bedeutung, zumal sie in ihrer jeweiligen Komplexität in vielen Regionen im Rang eines Weltkulturerbes zu sehen sind.
Fußnoten
Ergebnisse aus der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herausgegebenen Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (Zugriff: 27.09.2016)
Habib Hassan Touma: Die Musik der Araber (=Taschenbuch zur Musikwissenschaft 37). Erweiterte Neuausgabe, Wilhelmshaven 1989.