Man kann schreien, ohne laut zu sein. Den eindrucksvollen Beweis dafür liefern die Schüler*innen des Bildungs- und Beratungszentrums Stegen, kurz BBZ, die im vollen Konzertsaal Teile aus Ludwig van Beethovens „Heiligenstädter Testament“ vortragen. In diesem erschütternden Dokument vom Oktober 1802 offenbarte der Komponist seinen Brüdern in bewegenden Worten den Beginn seiner Ertaubung. Der Vortrag der Jugendlichen geht vor allem deshalb unter die Haut, weil sie nicht nur die Laut-, sondern auch die Gebärdensprache nutzen. Wie es ist, mit schwer eingeschränktem Gehör zu leben, wissen sie als Schüler*innen einer sonderpädagogischen Schule für Hörgeschädigte sehr gut. Dass sie nun vor Publikum auf einer Bühne stehen, auf der sich alles um die Aufführung von Musik dreht – und zwar gemeinsam mit dem Bundesjugendorchester (BJO), Deutschlands bestem und bekanntestem Klangkörper für Menschen unter 20 –, ist nicht nur für sie etwas Neues.
„Alle Welt bildet sich ein, Musik wäre nur für die ‚Hörenden‘ da. Dass man Klänge auf unterschiedliche Weise wahrnehmen kann, wird dabei völlig ausgeblendet.“
„Alle Welt bildet sich ein, Musik wäre nur für die ‚Hörenden‘ da. Dass man Klänge auf unterschiedliche Weise wahrnehmen kann, wird dabei völlig ausgeblendet. Das ist schade, denn man enthält hörgeschädigten Menschen damit den ganzen Reichtum der Musik vor“, sagt Christine Löbbert, die entscheidend dazu beigetragen hat, das Konzertprojekt „zusammen(ge)hören“ auf den Weg zu bringen. Als erste und bislang einzige Musiklehrerin am BBZ Stegen hatte die ausgebildete Cellistin, die nach einer Erblindung heute selbst mit einem Handicap lebt, schon früher musikalische Projekte in ihrem Unterricht durchgeführt. Möglich war dies auch deshalb, weil ihre Schüler*innen mit Cochlea-Implantaten ausgestattet sind, einer speziellen Innenohrprothese, die akustische Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad wieder möglich macht. Auch die von Musik, wenngleich, nach den Maßstäben eines unbeeinträchtigten Gehörs, auf etwas ungewöhnliche Weise.
„Für die allermeisten war mein Unterricht die erste Begegnung mit Musik überhaupt“, sagt Christine Löbbert, die bei ihrer Arbeit mit den Jugendlichen mit dem emeritierten Freiburger Schlagzeugprofessor Bernhard Wulff zusammenarbeitete. Er war es auch, der den Kontakt zum BJO herstellte und das Programm für „zusammen(ge)hören“ in seinen wesentlichen Teilen entwickelte. Dass das „Heiligenstädter Testament“ dabei als thematische Brücke dienen sollte, war von Anfang an gesetzt, ebenso die „Eroica“, Beethovens zeitgleich entstandene 3. Sinfonie, als musikalisches Zentrum des Programms. Darin eingebettet ist Brett Deans Orchesterkomposition „Testament“ und zwei weitere zeitgenössische Werke, die neben den BJO-Mitgliedern auch die BBZ-Schüler*innen aktiv ins musikalische Geschehen mit einbinden: Bernhard Wulffs „Carillon“ und „the weight of ash“, das der in Berlin lebende US-Amerikaner Mark Barden eigens für das Projekt komponiert hat. Der Clou dieser um elektronische Zuspielungen und choreografierte Lichtstimmungen erweiterten Partitur: Trotz überdurchschnittlich ausgebildeter Fähigkeiten mussten sich die BJOler die unbekannten Klänge darin ebenso neu und grundsätzlich erobern wie die wenig musikerfahrenen Stegener.
„In Mark Bardens Stück wimmelt es nur so von ungewöhnlichen Spielanweisungen, die völlig im Kontrast zu dem stehen, was die meisten BJO-Mitglieder bislang kennengelernt haben. Allerdings war ich mir sicher, dass sie sich, als Quasi-Profis, schnell hineinfinden würden“, sagt Christoph Altstaedt, der Dirigent des Projekts. In Erstaunen hingegen versetzte ihn, wie professionell sich die Stegener mit ihrem gleichsam präzis ausnotierten, hauptsächlich perkussiven Part ins Kollektiv mit einbrachten. „Die Proben verliefen viel reibungsloser als erwartet. Christine Löbbert hat bei der Einstudierung wirklich eine großartige Arbeit geleistet“, sagt Christoph Altstaedt über seine Projektpartnerin, die das Kompliment nur zurückgeben kann: „Das BJO und die Organisatoren im Hintergrund haben alles getan, um die Kommunikation mit den Implantat-Träger*innen komplett barrierefrei zu gestalten“, sagt sie, „das erlebt man tatsächlich nicht alle Tage.“ Jedenfalls hatten die Jugendlichen aus dem Orchester und die vom BBZ so beste Voraussetzungen, sich während der intensiven Probenphase Anfang 2023 aneinander zu gewöhnen, zusammenzuwachsen – und in eine Welt einzutauchen, die ihnen zuvor verschlossen war.
„Als wir Mitgliedern des BJO einen Teil unserer Gebärdensprachenkomponente beibringen sollten, meinte eines der Mädchen, dass das für sie eine neue Sprache sei“, sagt Maren Waldvogel, eine der beteiligten BBZ-Schüler*innen. „Da wurde mir bewusst, dass wir gerade dabei sind, uns gegenseitig eine neue Sprache beizubringen.“ Ihre Mitschülerin Noemi Gruttke ergänzt: „Das Ganze ist wie ein Puzzle – jedes Teil darin hängt von den übrigen Teilen ab.“ Gemeinsam mit anderen an einem sinfonischen Endergebnis zu arbeiten, war eine Erfahrung, die sie sichtlich begeistert hat. Dass man aufeinander hören kann, ohne ausschließlich seine Ohren zu benutzen, war wiederum eine wertvolle Erkenntnis für die jungen Orchestermusiker*innen. Von der Fruchtbarkeit des Austauschs in beide Richtungen schließlich konnte sich das Publikum im April 2023 ein Bild machen: Durch insgesamt sechs Städte führte die „zusammen(ge)hören“-Tournee, u. a. an so bedeutende Konzerthäuser wie die Philharmonien in Köln und Berlin. Dass der Weg dorthin steiniger verlaufen war als gedacht, lag weniger an den Beteiligten als an den äußeren Umständen.
Bereits drei Jahre eher, im Frühjahr 2020, hätte „zusammen(ge)hören“ der Öffentlichkeit präsentiert werden sollen, was ein allzu bekanntes Virus jedoch vereitelte. Für Christine Löbbert eine Katastrophe. Nicht nur sie, sondern auch die meisten der beteiligen Schüler*innen hatten das BBZ in der Zwischenzeit verlassen. Eine Nachbesetzung, die die Neueinstudierung hätte übernehmen können, gab es nicht, denn nach Löbberts Wechsel an die Musikhochschule Freiburg wurde ihre Stelle mit dem Argument nicht neu besetzt, dass es wichtigere Fächer für Hörgeschädigte gebe als Musik. „Diese Einstellung finde ich fatal“, sagt Christine Löbbert, „und gerade deshalb lag mir dieses Projekt auch so am Herzen: Ich wollte zeigen, dass Menschen wie diese Jugendlichen von Musik sehr profitieren können.“ Christoph Altstaedt, der neben seiner Dirigentenlaufbahn auch approbierter Arzt ist und sich schon während seiner Ausbildung an der Essener Uniklinik mit Cochlea-Implantaten beschäftigt hat, pflichtet ihr bei: „Es gibt so viele unterschiedliche Arten, Musik zu hören, und jede davon hat das Potenzial, sich zu entwickeln. Auch Menschen ohne Hörschädigung und ohne Implantate müssen das Hören lernen. Wieso sollten wir einer bestimmten Gruppe von Menschen diese Möglichkeit von Anfang an verwehren, indem wir ihnen keinen Zugang zu Musik bieten?“
Dem Engagement des Deutschen Musikrats, der großen Bereitschaft und Offenheit des BJO-Orchesterdirektors Sönke Lentz, und seinem Team, dieses Projekt mit viel Umsicht zu realisieren, und der Zähigkeit von Christine Löbbert ist es zu verdanken, dass „zusammen(ge)hören“ dennoch zustande kam. Gemeinsam mit ehemaligen Schüler*innen nahm sie die Arbeit an dem Projekt wieder auf, holte neue mit ins Boot und klopfte gemeinsam mit Sönke Lentz den Terminkalender nach freien Kapazitäten ab. Mit Vehemenz gelang es ihr zudem, auch einen Auftritt in der südbadischen Heimat der Stegener zu erwirken, im Konzertsaal der Freiburger Musikhochschule. Sie findet es wichtig, dass die Jugendlichen auch vor Ort ihre Botschaft verbreiten können. Maren Waldvogel bringt sie in einem
Statement auf den Punkt: „Wir möchten allen zeigen, dass es verschiedene Menschen gibt, verschiedene Wege zu hören. Selbst wenn man medizinisch gesehen einen gleichen Hörstatus hat, ist Hören eine Sache der Wahrnehmung, und alle Menschen nehmen unterschiedlich wahr. Es ist schön, das in die Welt tragen zu können.“