Auch wenn der Begriff Amateurmusizieren auf den ersten Blick nahezu selbsterklärend zu sein scheint, offenbart er beim genaueren Hinsehen doch einige Fragen: Zwar lässt sich relativ einfach erklären, was unter „Amateuren“ zu verstehen ist – gemeint sind Menschen, die aus Liebe und Leidenschaft eine bestimmte Tätigkeit regelmäßig und aktiv ausüben, dies aber nicht beruflich tun. Was hingegen „Musizieren“ bedeutet, kann durchaus unterschiedlich beantwortet werden: Ist damit schon das rudimentäre Mitsingen eines gerade im Radio laufenden Hits gemeint oder behält man es eher langfristigeren Tätigkeiten vor, die womöglich sogar mit einschlägigem formalem Unterricht verbunden sind? Diese Unschärfe erklärt zumindest teilweise, warum in einer aktuellen Studie [1] der Anteil der Menschen, die angeben, „täglich oder jede Woche Musik zu machen“, höher ist als der Anteil jener Personen, die von sich sagen, dass sie „aktiv […] singen oder ein Instrument […] spielen.“ [2] Das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) hat in einer Erhebung all jene Personen als „Hobby-, Amateur- oder Freizeitmusiker“ erfasst, die „regelmäßig, gelegentlich oder zumindest selten ein Instrument spielen, digital musizieren oder singen“. [3] Nach dieser Definition bezeichnen sich in der Erhebung rund 19 Prozent der Bevölkerung ab 6 Jahre als Amateurmusizierende [4] – ein Anteil, der in den vergangenen 20 Jahren insgesamt weitgehend stabil geblieben zu sein scheint. Im Kern ist diese Definition des beruflichen und hobbymäßigen Musizierens wesentlich auf die Frage des Gelderwerbs bezogen; ein Niveauunterschied ist damit nicht angesprochen. So können Jugendliche, die im Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ einen 1. oder 2. Preis belegen, von ihrer Leistung her in vielen Fällen durchaus nach professionellen Maßstäben beurteilt werden, auch wenn sie später nicht in einem Musikerberuf arbeiten.
„Die Entscheidung zum aktiven Musizieren ist individuell. Sie wird aber zum wesentlichen Teil durch Orte und Anlässe gestiftet.“
19 Prozent aktiv musizierende Menschen innerhalb der Gesamtbevölkerung: Ist das eigentlich viel oder wenig? Im Vergleich mit sportlichen Aktivitäten („Sport treiben“), denen 58 Prozent der Bevölkerung nachgehen, scheint das Musizieren zunächst deutlich im Rückstand zu liegen; auch mit einer Tätigkeit wie „Lesen eines Buches“ (ca. 75 Prozent) kann es rein zahlenmäßig nicht mithalten. [5] Ein etwas anderes Bild ergibt sich allerdings, wenn man die Häufigkeit und Intensität untersucht, in der verschiedene Freizeitbeschäftigungen ausgeübt werden. Bei Aktivitäten wie „Fußball spielen“, „Fahrrad fahren“ oder „Schwimmen“ gibt es deutlich mehr Menschen, die diese Tätigkeiten nur sporadisch (z. B. einmal pro Monat oder noch seltener) ausüben, als solche, die dies in engeren Zeitabständen tun. Ebenso sieht es beim Lesen aus: Die Gruppe derjenigen, die gar nicht lesen oder höchstens einmal im Monat (oder seltener) zu einem Buch greifen, übersteigt die Zahl der regelmäßig Lesenden deutlich. [6] Wird hingegen aktiv musiziert, scheint dies weitgehend kontinuierlich zu erfolgen: In der Studie des miz bezeichneten sich 15,7 Prozent der Befragten ab 16 Jahre als Amateurmusizierende; von diesen (absolut ca. 10,8 Millionen Menschen) sind es 83 Prozent, die mindestens mehrmals monatlich aktiv sind; unter den Kindern und Jugendlichen im Alter von 6-15 Jahre waren es 96 Prozent. [7] Im Hinblick auf die Regelmäßigkeit, in der das Musizieren aktiv ausgeübt wird, nimmt es daher vielleicht eine durchaus führende Rolle unter den Freizeitaktivitäten ein.
So vielseitig die Aktivitäten der Hobbymusikerinnen und Musiker sind, so vielfältig sind auch die Genres, die sie pflegen. Diese müssen allerdings nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den individuellen Hörpräferenzen sein. Wenn beispielsweise neun Prozent der musizierenden Jugendlichen zwischen 6 und 15 Jahren angeben, im Rahmen einer „Kapelle“ oder eines „Spielmannszuges“ ihr Instrument zu spielen, [8] so bedeutet das nicht automatisch, dass das dort gepflegte Repertoire auch das rezeptive Hörverhalten der Befragten dominiert. Zweifellos favorisieren die Orte, an denen musiziert wird (z.B. [Kirchen]chöre, Vereine, Orchester und Brauchtumsveranstaltungen), bestimmte Genres und Stile und blenden andere, die von den ausübenden Personen hörend womöglich deutlich häufiger rezipiert werden, eher aus. So tritt beispielsweise der Rap, der in Hinblick auf das Musikhören bei den Jugendlichen das eindeutig beliebteste Genre darstellt, an den genannten Musizierorten eher unterrepräsentiert in Erscheinung.
Als zentrales Charakteristikum des Amateurmusizierens lässt sich zudem festhalten: Die Entscheidung zum aktiven Musizieren ist zwar auf der einen Seite eine individuelle, die Auskunft über persönliche Neigungen und Präferenzen gibt. Zum anderen wird sie aber zu einem wesentlichen Teil durch Orte und Anlässe gestiftet. Je zahlreicher die Gelegenheiten sind, an denen Menschen zum gemeinsamen Musizieren zusammenkommen, umso größer ist die Chance für die Einzelnen, zu Amateurmusizierenden zu werden. Insofern ist die infrastrukturelle Dichte der Musiziergelegenheiten – Musikschulen, Musikvereine, Chöre, Laienorchester etc. – von allergrößter Bedeutung für die Entwicklung der Amateurmusik. Dass diese Dichte in Deutschland besonders ausgeprägt ist, hängt historisch mit den kleinstaatlichen Strukturen zusammen, die zu einer Vielzahl kultureller Zentren führte, deren jedes eine eigenständige Ensemblelandschaft und oftmals auch eigene Ausbildungsinstitutionen ausprägte, die noch heute weit in den Bereich des Amateurmusizierens hineinstrahlen und zugleich den Nährboden für dessen permanente Weiterentwicklung bilden. Diese Dichte kann als Spezifikum des deutschsprachigen Raums gelten und erklärt, wieso das instrumentale Laien- und Amateurmusizieren 2016 in das bundesweite Verzeichnis „immaterielles Kulturerbe“ der UNESCO aufgenommen wurde. [9]
Aktive
Altersgruppen
Der größte Anteil musizierender Menschen findet sich bei den Kindern und Jugendlichen. [10] Hier zeigt sich der bedeutende Einfluss der formalen und non-formalen Bildungsinstitutionen, durch die weit mehr als die Hälfte dieses Personenkreises mit dem aktiven Musizieren in Kontakt kommt. Initiativen wie „JeKi“ bzw. dessen Nachfolgeprogramm „JeKits“ oder „Musikalische Grundschule“, aber auch die zahlreichen Streicher- und Bläserklassen, die – oftmals im Rahmen von Kooperationsprojekten zwischen Schulen und Musikschulen – mittlerweile in fast allen Städten und Regionen zu finden sind, haben diese Entwicklung nachhaltig gefördert. Nach wie vor stellt die Pubertät eine Zeit dar, in der es zu zahlreichen Abbrüchen der Musizierlaufbahn kommt. Eine weitere Hürde scheint das 30. Lebensjahr zu markieren, das für viele Menschen mit dem endgültigen Einstieg in das Berufsleben und der Phase der Familiengründung zusammenfällt. Wer danach noch musiziert – laut miz-Studie 13 Prozent der Bevölkerung – wird es dann in aller Regel bis ins hohe Alter tun.
Doch es wäre falsch, einseitig von einem kontinuierlichen Schwund ausgehen zu wollen. Denn es gibt eine durchaus bedeutende Gruppe von Menschen, die im höheren Alter entweder eine zuvor abgebrochene Instrumentalkarriere wieder aufnehmen oder sich sogar gänzlich neu auf das Abenteuer des Instrumentalspiels bzw. des Singens einlassen. Diese Entwicklung wird durch Tendenzen wie eine zunehmend frühe Entberuflichung und eine erhöhte Lebenserwartung verstärkt. [11] Während das Musizieren von erwachsenen Amateuren oder von Senior*innen (Stichwort: Musik-Geragogik) früher allenfalls ein Randthema war, stellt dieser Personenkreis mittlerweile eine durchaus relevante Gruppe dar, die in der Praxis eine zunehmend wichtige Rolle spielt. An vielen Orten sind in den letzten Jahren verschiedenste Musiziergelegenheiten für Senior*innen entstanden. Vom Ensemble für ältere Musikvereins-Mitglieder, die aus persönlichen Belastungs- oder Geschmacksgründen nicht mehr im Hauptorchester ihres Vereins mitspielen wollen, über spezielle Orchester für ältere Menschen, die in späten Jahren ein Instrument erlernen möchten, bis hin zu Senioren-Bigbands und semi-professionellen Vereinigungen (beispielsweise dem Senioren-Orchester Karlsruhe) hat sich hier eine vielfältige Musizierlandschaft herausgebildet, die sich in Zukunft vermutlich noch weiter ausdifferenzieren wird.
Einkommen, Bildung und Einstellungen
Trotz zahlreicher Bemühungen von Musikalisierungsinitiativen, welche die Chancen für kulturelle Teilhabe von benachteiligten Familien steigern sollen, fällt aktives Musizieren weiterhin häufig mit einem hohen sozioökonomischen Status zusammen. Einschlägige Studienergebnisse zeigen, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status häufiger musizieren als der Nachwuchs aus Familien mit niedrigerem Status. Die Trennlinie zur Nicht-Aktivität verläuft dabei tendenziell eher zwischen dem mittleren und höheren Status. [12] Daher stellt die Frage nach Teilhabegerechtigkeit nach wie vor einen zentralen und bislang nicht vollständig gelösten Aspekt des Amateurmusizierens dar.
Der sozioökonomische Status erfasst nicht nur die finanziellen Spielräume, sondern auch kulturelle Präferenzen. An diesen entscheidet sich, ob das aktive Musizieren von Kindern und Jugendlichen innerhalb einer Familie als etwas Willkommenes oder eher Störendes aufgefasst wird. Dieser Aspekt ist wichtig, weil der Familien- oder Freundeskreis für viele Kinder und Jugendliche ein zentraler Musizierort ist, der noch vor dem Spielen oder Singen in schulischen oder musikschulischen Ensembles rangiert. Wo dieser familiäre Musizierraum nicht vorhanden ist, sind die instrumentalen oder gesanglichen Entfaltungsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt. Das Musizieren von Jugendlichen scheint aber nicht allein vom Sozialstatus der Familien, sondern auch von der persönlichen Weltsicht abhängig zu sein. Eine „traditionell bürgerliche“ Einstellung, bei der Werte wie „Gemeinsamkeit“, Harmonie“ oder die „Beherrschung etablierter ästhetischer Normen“ eine große Rolle spielen, begünstigt das aktive Musizieren. Dasselbe gilt für eine „postmaterielle“ Einstellung, bei der es vorrangig um das Erreichen persönlicher künstlerischer Ziele geht, was nicht selten mit einem häufigen Ein- und Aussteigen aus dem formalen Unterricht und dem verstärkten Ausprobieren einer Vielzahl von Instrumenten verbunden ist. Bei Jugendlichen, die zu den Gruppen der „Prekären“ oder der „Konsum-Materialisten“ zählen, findet sich hingegen kaum ein aktives Musizier-Engagement. [13]
Im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Aspekten bzw. der Teilhabegerechtigkeit muss auch gefragt werden, ob und inwieweit sich eine Benachteiligung von Personen mit Migrationshintergrund erkennen lässt. Obgleich diese Frage aufgrund von Datenlücken und definitorischen Unschärfen nicht einfach zu entscheiden ist, kann generell festgestellt werden, dass es in Familien mit Zuwanderungsgeschichte überdurchschnittlich zahlreiche Musizieraktivitäten gibt. [14] Angesichts der Vielfalt an kulturellen Prägungen und Präferenzen, lassen sich die Musizieraktivitäten von Menschen mit Migrationshintergrund kaum auf eine bündige Formel bringen. Gerade die Institutionen des non-formalen Bildungsbereichs bemühen sich mittlerweile verstärkt darum, die Musikpraxen migrantischer Herkunftsländer zu berücksichtigen. Während Instrumente wie Baglama oder Oud früher fast ausschließlich im Rahmen der türkischen Kulturvereine erlernt werden konnten, gehören sie mittlerweile – vor allem in städtischen Ballungsgebieten – zum Standard-Angebot vieler Musikschulen; die Baglama ist auch im Wettbewerb „Jugend musiziert“ vertreten. Im JeKits-Projekt werden ebenfalls traditionelle Instrumente aus migrantischen Herkunftsländern berücksichtigt. Obwohl Jugendliche mit Migrationshintergrund vergleichsweise selten in Orchestern und Chören musizieren, sind sie, gemessen an der Gesamtgruppe von Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, in Bands oder anderen Musikgruppen prozentual häufiger zu finden als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. [15] Auch liegt der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte in den Chören prozentual immer noch höher als in der Gesamtbevölkerung. [16] Insgesamt lässt sich festhalten, dass hinsichtlich einer Sichtbarmachung migrantischer bzw. postmigrantischer Lebens- und Musizierwelten noch ein großer Bedarf an einschlägiger Forschung besteht.
Geschlecht
Bei der Frage, für welche konkrete Musiziermöglichkeit sich eine Person entscheidet, spielt das Geschlecht eine wichtige Rolle. Pauschal lässt sich sagen, dass das Singen eher eine Frauendomäne ist, während musizierende Männer häufiger ein Instrument spielen. Innerhalb der unterschiedlichen Instrumentengruppen lassen sich wiederum Geschlechtervorlieben erkennen: Während Frauen eher Blockflöte, Klavier und Streichinstrumente (mit Ausnahme des Kontrabasses) spielen, so sind das Gitarrenspiel, der Bereich der elektronischen Instrumente (elektrisches Klavier, Keyboard, Synthesizer) sowie die Mitwirkung in einer Band eine männliche Domäne. [17] Über die Gründe derartiger Gewichtungen lässt sich nur spekulieren. Eine mögliche Erklärung für die weibliche Dominanz in Bezug auf das Singen könnte in der Tatsache liegen, dass der hier in Erscheinung tretende unmittelbare Selbstausdruck mit männlichen Klischees wie „Coolness“ in Konflikt steht und daher bei Männern eher mit Angst oder Scham verbunden sein kann als dies bei Frauen der Fall ist. Auch der Einfluss medialer Vorbilder und der durch sie transportierten Geschlechterrollen spielt hier vermutlich eine Rolle.
Es ergäbe dennoch ein falsches Bild, die verschiedenen Bereiche des Amateurmusizierens einseitig unter dem Blick festgefügter Geschlechterzuordnungen zu begreifen, denn es ist unübersehbar, dass viele Klischees in jüngerer Zeit aufgelöst worden sind. Während beispielsweise das Musizieren in einem Blasmusikverein früher eindeutig eine Männerdomäne war, besteht in einigen Regionen mittlerweile fast die Hälfte der Orchestermitglieder aus Frauen. [18] Auch die Instrumentenzuordnungen innerhalb dieser Ensembles sind in Bewegung geraten: Während Frauen früher vorwiegend in den Holzblasinstrumenten zu finden waren, spielen sie heute auch Instrumente wie Horn und Trompete, die bislang als männliches Aktionsfeld galten. [19]
Musizieren in städtischen und ländlichen Räumen
Hinsichtlich der Quantität des Musizierens lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen feststellen. [20] Allerdings ist deutlich zu erkennen, dass Musizierbiografien in Dörfern anders verlaufen als in urbanen Ballungsgebieten. Als tragender Pfeiler des Musiklebens sind hier die Musik- und Gesangsvereine zu nennen, die neben den Musikschulen nicht nur das kulturelle Leben der Gemeinden prägen, sondern darüber hinaus auch wichtige Teile der Ausbildungsarbeit übernehmen. [21] Die Bedeutung von Musikvereinen in peripheren ländlichen Räumen ergibt sich daraus, dass anderweitige Kultur- und Freizeitangebote häufig fehlen und ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es sich hier oftmals um eine generationsübergreifende Praxis handelt, in vielen Fällen sogar innerhalb der Familien von Generation zu Generation tradiert. Die Angebote der Vereine setzen bei Kindern an und erstrecken sich über die gesamte Lebensspanne. [22] Oft wird die Ausbildungsarbeit von vereinsinternen Kräften geleistet, die in einschlägigen Lehrgängen qualifiziert werden. Fehlt es an entsprechenden Ausbilder*innen, so wird diese Aufgabe auch von professionellen Lehrkräften der Musikschulen übernommen. [23] Kooperationen zwischen diesen zentralen Akteuren des dörflichen Musiklebens sind durchaus gängig, müssen aber immer wieder ausbalanciert werden, da es trotz vieler Übereinstimmungen durchaus Unterschiede in Bezug auf das eigene Selbstverständnis gibt. Während die soziale Komponente – z. B. geselliges Zusammensein nach der Probe, gemeinsame Feste und Ausflüge – bei den Mitgliedern der Musikvereine neben der rein musikalischen Tätigkeit eine gewichtige Rolle spielt, orientieren sich die Musikschulen tendenziell eher an einem übergeordneten Begriff kultureller Bildung, der die gemeinschaftsbildenden Kräfte der Musik vor allem im Musizieren selbst sieht und die eigenständige Rolle sozialer Faktoren (Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft) in dieser Form nicht kennt. [24] Diese unterschiedlichen Akzentuierungen können aber durchaus auch ein Element sein, das die verschiedenen Lernwelten des musikschulischen Unterrichts und des Musikvereins produktiv bereichert. [25] Auch hier gibt es großen Forschungsbedarf: Während die Kooperationen von schulischen und außerschulischen Institutionen (z. B. von Musikschule und Schule) vielfältig untersucht sind, besteht ein Mangel an Studien, die das Verhältnis zwischen den außerschulischen musikalischen Institutionen genauer beleuchtet.
So schwierig es ist, angesichts großer regionaler Differenzen generelle Aussagen über ländliche Räume treffen zu wollen – der Südwesten mit seiner reichen Vereinskultur lässt sich kaum mit dem Nordosten vergleichen, der Derartiges nicht kennt –, lässt sich doch sagen, dass der demografische Wandel für ländliche Regionen eine besondere Herausforderung darstellt. Der zahlenmäßige Schwund der jungen Generation führt hier, verbunden mit einem Wandel an Freizeitinteressen, zu spezifischen Problemlagen, die in urbanen Räumen, in denen neuartige Musizierkulturen viel leichter entstehen können, in dieser Form nicht existieren. Für den städtischen Raum ist kennzeichnend, dass sich hier in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an alternativen Musiziergelegenheiten herausgebildet hat, die sich nicht mehr ohne weiteres in bestehende Verbandsstrukturen einfügen lassen. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich des Chorsingens: Allein in Köln sind im Zeitraum 2000–2018 63 neue Chöre entstanden, von denen nur 13 dem Chorverband NRW zugehören. [26] Viele Aktivitäten dieser neuen Chorszene zielen nicht mehr auf regelmäßige Teilnahme oder feste Mitgliedschaften ab, sondern sind offen strukturiert. Mit Veranstaltungsformaten wie „Public Singing“ oder „Rudelsingen“ und alternativen Veranstaltungsorten (Kneipenchöre) weisen sie eine große Schnittstelle zum Bereich der „Community Music“ auf: Diese versteht sich, dem Ideal einer „kulturellen Demokratie“ folgend, als eine voraussetzungsoffene Zugangsform zum Musizieren, in der an die Stelle klassischer Leitungs- und Leistungsstrukturen die Idee „sicherer Räume“ (safe spaces) tritt, für die „das Wohlbefinden der Teilnehmenden […] mindestens genauso wichtig [ist], oft sogar wichtiger als das Meistern musikalischer Fertigkeiten bzw. Perfektion im Spiel.“ [27]
Strukturen
So wertvoll und befruchtend der „bottom up“-Ansatz der Community Music für das Amateurmusizieren zweifellos ist, so problematisch wäre es doch, ihn gegen die kontinuierliche Arbeit bestehender Institutionen und Verbände ausspielen zu wollen. Diese setzen sich mit hohem – oftmals ehrenamtlichem – Engagement für die Belange des Amateurmusizierens ein und leisten eine unschätzbare Arbeit für dessen Erhalt und Ausbau. [28] Zu nennen ist hier als Dachverband der Amateurmusik der Bundesverband Chor & Orchester (BMCO), in dem insgesamt 21 Einzelverbände zusammengeschlossen sind, darunter der Deutsche Chorverband und der Bund Deutscher Blasmusikverbände. Der BMCO unterstützt seine Mitglieder durch zahlreiche Weiterbildungsformate sowie durch verschiedene Förderprogramme und ist auch Partner im Bundesprogramm „Kultur macht stark“ (2. Programmphase: 2017–2022).
Ein wesentlicher Träger für die Amateurmusik sind nach wie vor auch die Kirchen. Während sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche seit Jahren einen kontinuierlichen Mitgliederschwund zu beklagen hat, ist die Zahl der im kirchlichen Rahmen musizierenden Laien relativ stabil geblieben. Von den gegenwärtig ca. 3,5 Millionen verbandlich organisierten Amateurmusizierenden ist knapp ein Viertel in kirchliche Verbände eingebunden. Während es im kirchlichen Raum ein deutliches Übergewicht an vokalen Aktivitäten gibt, ist im weltlichen Bereich ein leichtes Übergewicht zugunsten der Instrumentalmusik zu erkennen.
Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten, Begegnungen
Im weltlichen Bereich gewährleisten etwa 21.000 verbandlich organisierte Amateurchöre und fast ebenso zahlreiche Instrumentalensembles eine beeindruckende Vielfalt an Musiziermöglichkeiten (vgl. Abb. 1) und sorgen über eigene Ausbildungsstrukturen auch für die Nachhaltigkeit ihrer Aktivitäten. Als Beispiel sei die Deutsche Bläserjugend genannt, die als Jugendorganisation der Bundesvereinigung deutscher Musikverbände die Rahmenrichtlinien für die Ausbildung von Jugendleiter*innen im Bereich der Blasmusik festlegt. Mit Lehrgängen und Prüfungen (deren erfolgreiches Bestehen zu Bronze-, Silber- und Goldabzeichen führt) sollen Qualitätsstandards geschaffen, über Mentorschaftsprogramme für ausgewählte Schüler*innen ab dem 16. Lebensjahr die vereinsinterne Ausbildungsarbeit gestärkt werden. [29] Zugleich organisieren die Verbände auch Treffen ihrer Mitglieder und richten Begegnungen und Wettbewerbe aus. Durch Nachwuchsprogramme wie „Die Carusos!“, durch die das kindgerechte Singen in Kindertagesstätten gestärkt werden soll, oder durch die Förderung von Jugendorchestern auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene wird eine an Langfristigkeit orientierte Nachwuchsförderung betrieben, die für den Fortbestand des Amateurmusizierens lebenswichtig ist. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass viele Verbandsaktivitäten auf ehrenamtlicher Basis erfolgen und insofern als lebendiger Ausweis bürgerschaftlichen Engagements gelten können.
Anerkannter Qualifizierungs- und Beratungspartner der Musikverbände ist seit fast 50 Jahren die Bundesakademie für musikalische Jugendbildung in Trossingen. Als Fort- und Weiterbildungszentrum für Dirigent*innen, Jugendleiter*innen und Ausbilder*innen wie auch als Tagungsort für leitende Mitarbeitende der Musikverbände spielt die Akademie eine unverzichtbare Rolle für die Qualitätsentwicklung des verbandlich organisierten Musizierens.
Damit das ehrenamtliche Engagement der in den Verbänden tätigen musikalischen Leitungen auf einem qualitativ hochwertigen Rahmen erfolgen kann, sind finanzielle Entlastungen und fachliche Unterstützung notwendig. Mit der Übungsleiterpauschale sind ehrenamtlich arbeitende Künstler*innen für ihr Vereinsengagement bis zu einer gewissen Vergütungsgrenze steuer-und sozialversicherungsbefreit. Weitere Fördermaßnahmen sind etwa die vom BMCO ausgerichtete Initiative „Vereinspilot*innen“ mit vielfältigen Weiterbildungsangeboten für das Ehrenamt in der Musik oder das vom Deutschen Musikrat durchgeführte Projekt „Landmusik“, das Unternehmungen unterstützt, die Musik im ländlichen Raum erlebbar machen wollen.
Auswirkungen der Corona-Pandemie
Dass es eine dringliche Aufgabe der Politik ist, diese zentralen Pfeiler des Musiklebens nicht verkümmern zu lassen, hat sich im Lauf der Corona-Pandemie sehr deutlich gezeigt. Zwar lassen die bislang zu Corona erhobenen Zahlen nicht unbedingt den Schluss zu, dass es durch die Pandemie generell zu einem dramatischen Rückgang des Musizierens gekommen ist – von den über 16-Jährigen gaben in der Befragung des Musikinformationszentrums 34 Prozent an, sie würden seltener musizieren als früher, 21 Prozent äußerten das Gegenteil. Aber es gilt zu bedenken, dass ein verstärktes häusliches Musizieren nur denjenigen möglich war und ist, die bereits vor der Pandemie mit dem Musizieren begonnen haben. [30]
Da die Pandemie die Chor-, Orchester- und Vereinskultur besonders getroffen hat, müssen die Verbände nun auf politischen Weg für den Reichtum und die Vielfalt der bisherigen Angebote kämpfen. Mit der Initiative „Neustart Amateurmusik“ hat der BMCO ein vom Staatsministerium für Kultur und Medien gefördertes Programm zur Erhaltung und Wiederbelebung der Amateurmusik in Pandemiezeiten auf den Weg gebracht. Dieses Kompetenznetzwerk hat die Aufgabe, die Basis der Amateurmusizierenden bedarfsgerecht über die jeweils aktuelle Rechtslage und die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen zu informieren.
Fazit
Wenn man Musizieren im Sinne des Soziologen Hartmut Rosa als eine Möglichkeit versteht, mit anderen Menschen in eine „Resonanzbeziehung“ zu treten, dann kann es als eine starke und wichtige Antwort auf gesellschaftliche Entfremdungsprozesse gesehen werden. [31] Voraussetzung ist allerdings, dass sich in dieser Resonanz beide Seiten nicht lediglich verstärken, sondern sich mit je eigener Stimme wechselseitig anregen. Ein so verstandenes Musizieren wäre nicht der Ort unklarer und manipulierbarer Kollektivgefühle, sondern könnte gerade in der Öffnung zu anderen Menschen zu einer Stärkung des Ichs beitragen. Vor diesem Hintergrund bildet das Amateurmusizieren gerade auch dort, wo es sich scheinbar unpolitisch wähnt, einen Faktor, der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von unschätzbarem Wert ist.
Fußnoten
Bertelsmann-Stiftung (Hrsg): Jugend und Musik. Tabellen und Grafiken zu den Ergebnissen der Studie im Überblick. Chartbook. September 2017. Online unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/jugend-und-musik-2 (Zugriff: 13. Oktober 2021).
Andreas Lehmann-Wermser, Valerie Krupp-Schleußner: Jugend und Musik. Eine Studie zu den musikalischen Aktivitäten Jugendlicher in Deutschland. Abschlussbericht. Bertelsmann Stiftung 2017. Online unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/jugend-und-musik-1 (Zugriff: 13. Oktober 2021).
Ebd.
Beide Werte in: Konsumenten im Fokus. Basisinformation für fundierte Mediaentscheidungen. VuMA Touchpoints 2021, S. 74. Online unter https://www.vuma.de/vuma-praxis/vuma-berichtsband (Zugriff: 13. Oktober 2021).
Ebd.
Ebd.
Vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutschland/amateurmusizieren (Zugriff: 13. Oktober 2021).
Stefan Bischoff: Deutsche Musikvereinigungen im demografischen Wandel – zwischen Tradition und Moderne, Bundesvereinigung Deutscher Orchesterverbände e.V., Köln2 2011, S. 78. Vgl. auch den Fachbeitrag „Musik im Alter“ von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh.
Vgl. Jugend und Musik. Chartbook, Folie 34, vgl. Lehmann-Wermser/Krupp-Schleußner, Jugend und Musik, S. 10-12 sowie Amateurmusizieren in Deutschland, S. 7 f.
Marc Calmbach [u. a.]: „Wie ticken Jugendliche?“ Sinus-Jugendstudie 2020. Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020, S. 211 f.
S. die Statistik „Musikalische Aktivitäten in Familien mit Kindern unter 6 Jahren“. Vgl. auch den Fachbeitrag „Frühe musikalische Bildung“ von Michael Dartsch.
Jugend und Musik. Chartbook, Folie 24.
Vgl. Astrid Reimers: Amateurmusizieren, in: Deutsches Musikinformationszentrum (Hrsg.): Musikleben in Deutschland, Bonn 2019, S. 160-187, hier S. 183.
Gudrun Müller & Gisela Heitzmann: Frauen in der Blasmusik. Online unter https://blasmusikblog.com/frauen-in-der-blasmusik (Zugriff: 13. Oktober 2021).
Ebd.
Vgl. Hans-Walter Berg: Instrumental- und Chorvereine in NRW. Gegenwart und Zukunftsperspektiven, Trossingen 2010; außerdem Matthias Laurisch: Das Klingen abseits urbaner Zentren: Wie Musikvereine ihre ländlichen Räume prägen und gestalten, in: Kulturelle Bildung online, https://www.kubi-online.de/artikel/klingen-abseits-urbaner-zentren-musikvereine-ihre-laendlichen-raeume-praegen-gestalten (Zugriff: 12. Oktober 2021)
Matthias Laurisch: Musikvereine gestalten Möglichkeitsräume für Kinder und Jugendliche, in: Kerstin Hübner [u. a.]: Teilhabe. Versprechen?! Diskurse über Chancen- und Bildungsgerechtigkeit, kulturelle Bildung und Bildungsbündnisse, München 2017.
Vgl. Verena Bons [u. a.]: Wie verorten Mitglieder von Musikvereinen ihre Arbeit in Abgrenzung zur Praxis von Musikschulen? Eine dokumentarische Studie zu Musikvereinen im ländlichen Raum, Weinheim 2021 (i. Dr.).
Ebd.
Vgl. Natlia Ardila-Mantilla: Musiklernwelten erkennen und gestalten. Eine qualitative Studie über Musikschularbeit in Österreich (= Empirische Forschung zur Musikpädagogik, hg. von Andreas Lehmann-Wermser, Bd. 5). Wien 2016, S. 314.
Reimers, Amateurmusizieren, S. 187 Fn. 7.
Alicia de Bánffy-Hall, Marion Haak-Schulenburg, Daniel Mark Eberhard: Community Music.
Bundesakademie für musikalische Jugendbildung Trossingen: Ehrenamt in Musikvereinen und Chören: 12 Impulse zur erfolgreichen Vereinsarbeit (2017). Online unter https://www.bundesakademie-trossingen.de/fileadmin/user_upload/170711_Impulse-VerbandspilotInnen-OK.pdf (Zugriff: 12. Oktober 2021)
Vgl. Michael Dartsch: Außerschulische musikalische Bildung. Gedruckt in: Deutsches Musikinformationszentrum (Hrsg.): Musikleben in Deutschland, Bonn 2019, S. 78-105, hier S. 101.
Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main [2019].