Zwei Mönche des Deutsches orthodoxes Dreifaltigkeitskloster beim gemeinsamen Studium der Psalmen
Studium im Deutsches orthodoxes Dreifaltigkeitskloster  
Foto:  Deutsches orthodoxes Dreifaltigkeitskloster
Die Musik der orthodoxen Kirchen blickt auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, deren Wurzeln im Byzantinischen Reich liegen. Aufgrund ihrer verschiedenen, von Griechenland über Russland und Bulgarien bis nach Finnland reichenden nationalen Ausprägungen verfügen die orthodoxen Kirchen über eine große musikalische Vielfalt bei der Ausgestaltung ihrer Gottesdienste. Diese Vielfalt wird auch in Deutschland gepflegt, wo mittlerweile mehr als 1,5 Millionen orthodoxe Christinnen und Christen leben.

Der Begriff „Orthodoxie“ wird heute von mehreren christlichen und nichtchristlichen Gruppen in Anspruch genommen. Dennoch behält er im Zusammenhang der offiziellen christlichen Kirche des byzantinischen Ostens seine ursprüngliche etymologische und theologische Bedeutung bei: „richtiger Glaube und auch richtiger Lobpreis Gottes“. Wenn hier über Orthodoxie gesprochen wird, ist also keine spezielle religiöse Gruppe gemeint, sondern diejenige Kirche, die behauptet, die Fortsetzung der einen ungeteilten Kirche und des über 1000-jährigen byzantinischen Erbes zu repräsentieren. Als „orthodoxe Kirchen“ der einen orthodoxen Familie bezeichnet man jene großen Kircheneinheiten, die sich in der östlichen Hälfte des Römischen Reiches bildeten und seit dem Jahre 1054 in einer Spaltung mit den westlichen christlichen Kirchen leben.

Man spricht von der Einen Orthodoxen Kirche und gleichzeitig von den mehreren orthodoxen Kirchen. Es wird dadurch sowohl die Einheit aller Kirchen als auch die Autokephalie, also die völlige Selbständigkeit jeder einzelnen lokalen Kirche unterstrichen. Charakteristischerweise lässt sich die Einheit aller orthodoxen Kirchen daran erkennen, dass sie alle durch denselben Glauben verbunden sind (Heilige Schrift, Altkirchliche Glaubensbekenntnisse, ostkirchliche Überlieferung, Entscheidungen der sieben ökumenischen Konzile, Lehre der großen Kirchenväter usw.), ferner durch dasselbe gottesdienstliche und liturgische Leben und schließlich durch dasselbe kanonische Recht und dieselbe Kirchenordnung.

Alle orthodoxen Kirchen sind – unabhängig von ihrer Größe – untereinander gleich, wobei in der ganzen orthodoxen Kirchenfamilie eine gewisse kanonische Ehrenrangfolge der einzelnen lokalen Kirchen besteht. Dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel kommt in der gesamten Orthodoxie ein Ehrenprimat (und kein Jurisdiktionsprimat) zu. Es gibt 16 kanonische orthodoxe Kirchen mit insgesamt ca. 400 Millionen Gläubigen in der ganzen Welt:

1. Autokephale Kirchen:
   Die älteren Patriarchate:
            Patriarchat von Konstantinopel
            Patriarchat von Alexandrien
            Patriarchat von Antiochien
            Patriarchat von Jerusalem
   Die neueren Patriarchate und weitere Kirchen:
            Russisches Patriarchat (1589)
            Serbisches Patriarchat (1920)
            Rumänisches Patriarchat (1925)
            Bulgarisches Patriarchat (1945)
            Georgisches Patriarchat (1990)
            Kirche Zyperns (431)
            Kirche Griechenlands (1850)
            Orthodoxe Kirche Polens (1924)
            Orthodoxe Kirche Albaniens (1937)
            Metropolie der Tschechei und Slowakei (1998)
 2. Autonome Kirchen:
     Orthodoxe Kirche in Finnland
     Orthodoxe Kirche in Estland

Die Orthodoxie in Deutschland

Seit mehr als 300 Jahren leben in Deutschland orthodoxe Christen verschiedener Nationalitäten. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in den 1960er Jahren mit dem Zuzug ausländischer Arbeitnehmer („Gastarbeiter“) wuchs ihre Zahl beträchtlich. Heute gibt es in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 1,5 Millionen orthodoxe Christen unterschiedlicher Herkunft, Nationalität, Sprache und Kultur. Sie kommen aus Albanien, Bulgarien, Georgien, Griechenland, dem Libanon, Palästina, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Syrien, Zypern und anderen Ländern. Nicht wenige Deutsche gehören inzwischen ebenfalls der Orthodoxen Kirche an. Allerdings sollte betont werden, dass in Deutschland zahlenmäßig nicht alle Kirchen, sondern konkrete orthodoxe Kirchen mit ihren Diözesen am stärksten vertreten sind. Es handelt sich in kanonischer Reihenfolge hauptsächlich um das Ökumenische Patriarchat mit der Griechisch-Orthodoxen Metropolie (65 Gemeinden), das Russische Patriarchat mit der zu Moskau gehörenden Berliner Diözese (92 Gemeinden) und der Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (61 Gemeinden), ferner das Serbische Patriarchat mit der Diözese für Mitteleuropa (29 Gemeinden), das Rumänische Patriarchat mit der Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa (79 Gemeinden), das Bulgarische Patriarchat mit der Diözese von West- und Mitteleuropa (10 Gemeinden) und das Georgische Patriarchat mit der Diözese für Deutschland und Österreich (3 Gemeinden). [1]

Die orthodoxen Christen in Deutschland werden von mehr als 200 Priestern, ca. 25 Diakonen und 15 Bischöfen betreut. Die 1994 erfolgte Gründung der Kommission der Orthodoxen Kirche in Deutschland (KOKiD), die im Februar 2010 in der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland (OBKD) aufgegangen ist, darf als ein deutliches Zeichen der gelungenen Integration der orthodoxen Christen und der verschiedenen orthodoxen Kirchen in Deutschland bewertet werden.

Bedeutung der Musik im liturgischen Leben der Orthodoxie

Der orthodoxe Glaube findet seinen stärksten Ausdruck in der Feier der zahlreichen Gottesdienste. Der orthodoxe Gottesdienst mit seinem Höhepunkt der Göttlichen Liturgie ist das theologisch-theoretische, aber auch liturgisch-praktische Zentrum der ganzen Orthodoxie. Seit der ersten christlichen Zeit bis in unsere Tage dient die Musik dem Vollzug des orthodoxen Kultus. Die Tatsache, dass es keinen orthodoxen Gottesdienst ohne „Psalmodie“ (Gesang) gibt, bezeugt den gewichtigen Platz der liturgischen Musik in der Kirche. Von Anfang an hat die kirchliche Musik der Orthodoxie zusammen mit der Architektur der Gotteshäuser, der Schnitzkunst, der Ikonenmalerei und der liturgischen Dichtung (Hymnographie) zu den „göttlichen“ Künsten gehört, durch die sich die Gläubigen bemühen, Gott gebührend zu loben.

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Turm der Russischen Gedächtniskirche in Leipzig mit weißer Fassade und goldener Spitze.
Russische Gedächtniskirche in Leipzig  
Foto:  Dirk Goldhahn via Wikimedia Commons (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/deed.de)
Das byzantinische Reich gilt als der eigentliche Ausgangspunkt für die gesamte christliche Ostkirche. Daher bekam die im Rahmen des orthodoxen liturgischen Lebens „geborene“ und in den ersten christlichen Jahren ihre Urgestalt angenommene Musik der verschiedenen orthodoxen Ortskirchen von Anfang an den Beinamen „byzantinisch“. Die Tradition, welche die byzantinische Musik mit sich bringt, führt mindestens in die frühchristlichen Jahre zurück und hat mit der altgriechischen musikalischen Tradition vieles gemeinsam.

Im Rahmen des christlichen Kultus’ begannen die Christen zuerst, verschiedene alttestamentliche Psalmen zu singen. Zugleich wurden weitere christliche gottesdienstliche Hymnentexte vertont, wie das bekannte Lychnikon, der Hymnus „Heiteres Licht“, einer der ältesten Abendhymnen der Christenheit. Daneben entstanden auch Hymnen des Morgengottesdiensts und der Göttlichen Liturgie, wie der bekannte Hymnus „Der einziggeborene Sohn und Logos Gottes …“, der so genannte Cherubim-Hymnus und viele andere Loblieder. Als Nachfolgezeichen der so genannten „Neumen“ waren schon im 8. Jahrhundert die wichtigsten musikalischen Zeichen („Charaktere“) der kirchlichen Musik der Ostkirche festgelegt; im 10. Jahrhundert gab es ein vollständiges schriftliches System der byzantinischen Musik, die so genannte Notation oder „Parasemantik“. Die mehr als 5.500 bekannten Handschriften aus aller Welt zeigen sehr charakteristisch die ununterbrochene, aber sicherlich lebendige und vielfältige Entwicklung des ursprünglichen byzantinischen Musiksystems. Die über 500 bisher bekannten Komponisten oder „Meloden“, wie sie in der byzantinischen Fachsprache heißen, bewegen sich innerhalb ein und derselben musikalischen Kirchentradition.

Die auch im Gregorianischen Choral überlieferten acht Kirchentonarten der orthodoxen Kirchenmusik werden in drei so genannte Genres eingeteilt, je nach dem Aufbau ihrer eigenen Gamme, wie die jeweils aus vier Noten bestehenden zwei Teile der Musikleiter (= Klimax) jedes Kirchentons genannt werden. Es sind also die verschiedenen Intervalle, die die Aufteilung der drei Genres (γένη) bedingen.

„Orthodoxe Musik“ und ihre Stilrichtungen heute

Von den ersten Jahrhunderten an und bis heute noch prägt die so genannte byzantinische Musik das liturgische Leben der verschiedenen orthodoxen Ortskirchen – mit konkreten Ausnahmen in der südosteuropäischen slawischen Orthodoxie. Die byzantinische Musik ist nichts anderes als die seit den frühchristlichen Jahrhunderten überlieferte musikalische Tradition des Griechentums, oder anders gesagt: des von der griechischen Kultur geprägten Christentums schlechthin. Als die Mutterkirche aller später sich entwickelnden slawischen orthodoxen Ortskirchen hat das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel bei ihren „geistlichen Kindern“ unter anderem auch die musikalische Tradition von Byzanz verbreitet, bekannt und beliebt gemacht.

Die „Psalmodie“ oder der liturgische Gesang der byzantinischen Musik ist ein gemeinsames Gut nicht nur aller orthodoxer Kirchen griechischer Sprache (die Patriarchate von Konstantinopel, Alexandrien, Jerusalem sowie die Kirchen von Griechenland und Zypern), sondern auch aller Orthodoxen von Syrien und Palästina, die dem Patriarchat von Antiochien angehören und sich der arabischen Sprache bedienen. Trotz der heutzutage festgestellten weiteren musikalischen Traditionen im Bereich der slawischen Orthodoxie sollte man jedoch mit Nachdruck unterstreichen, dass die byzantinische Musik ebenfalls eine gemeinsame Tradition aller orthodoxen Völker in Südosteuropa ist, insbesondere der Bulgaren und Rumänen sowie zum großen Teil auch der Serben. Bei der russischen und finnischen Kirchenmusik sind heute große Abweichungen festzustellen, wobei aber auch noch Spuren des früheren Einflusses seitens der byzantinischen Musik zu finden sind.

Auf dem Gebiet des russischen Reichs lassen sich historisch die größten Umwälzungen beobachten, nachdem die russische Orthodoxie seit der Christianisierung Russlands im 10. Jahrhundert von Konstantinopel die monophone byzantinische Musik und ihre Notation übernahm. Im 11. Jahrhundert führten griechische Gesangslehrer in Russland das byzantinische Achttonsystem (Oktoechos) ein, woraus entsprechende Gesangsschulen in Smolensk, Nowgorod, Wladimir und anderen Städten Russlands sowie verschiedene Chöre entstanden. Während der Herrschaft von Peter dem Großen (1682–1725) wurde im Rahmen der westorientierten „Petrinischen Reformen“ die byzantinische Notation von den runden europäischen Notenzeichen abgelöst. Die europäischen Notenzeichen setzten sich im alten Russland endgültig durch und bestimmen bis heute die russische Kirchenmusik. Seitdem wurde die heute in der Regel polyphone Kirchenmusik Russlands ebenso durch die italienische, polnische oder deutsche Musik beeinflusst. Trotz dieser Entwicklungen ist die byzantinische Musiktradition in Russland nicht ausgestorben; neben den großen russischen Komponisten (Bortnjanski, Turchaninow, Lwow, Glinka, Tschaikowski) gibt es mit der bulgarischen und griechischen Art des Singens sowie dem Portessingen verschiedene musikalische Strömungen.

Merkmale der orthodoxen Kirchenmusik

Die liturgische Musik der Orthodoxie, wenngleich sie im griechisch- oder arabisch- bzw. altkirchenslawischsprachigen Bereich angewandt wird, versteht sich als eine „göttliche Kunst“, die konkrete, der orthodoxen Spiritualität entsprechende Merkmale besitzt. Folgende musikalisch-theologische Charakterzüge lassen sich anhand der ursprünglichen liturgischen Tradition der Alten Ostkirche, nämlich der so genannten byzantinischen Musik am deutlichsten feststellen.

Die herkömmliche echte Kirchenmusik der gesamten Ostkirche, die sich von jeher zusammen mit der Hymnographie für die Kommunikation zwischen Gott und Menschen einsetzt, war schon immer und ist weiterhin reine Vokalmusik. Die Abwesenheit von Musikinstrumenten bzw. Kirchenorgeln ist kein Mangel, sondern eine theologisch und anthropologisch begründete Selbstverständlichkeit. In der orthodoxen Tradition gilt die von Gott geschenkte menschliche Stimme als das natürlichste und perfekteste Instrument zum Ausdrücken des „Wortes“ und darüber hinaus der Musik, welche den geschriebenen Text musikalisch wiedergibt.

Die bereits in den Texten der Kirchenväter belegte theologische Begründung der Vokalität dieser Musik liegt auf der Hand. Für den gläubigen Menschen, der immer danach strebt, eine persönliche Verbindung mit Gott zu schaffen, wäre nach orthodoxem Verständnis eine instrumentale Vermittlung etwas Fremdes, sogar ein Hindernis für die Verwirklichung seiner seelischen Sehnsucht. Obwohl heute in der Praxis des orthodoxen Kultus’ die meisten Gesänge und Gebetshymnen fast ausschließlich von besonders ausgebildeten Kantoren und Chören übernommen werden, die allerdings nur als Vertreter jedes einzelnen Anwesenden diese Funktion ausüben, bleibt trotzdem der Faktor der aktiven Individualität jedes Gläubigen im Raum der Kirche immer bestehen. Der Instrumentengebrauch hat, als nicht passend zur kultischen Atmosphäre der Orthodoxie, nie in die Kirche Eingang gefunden. Es gab und es gibt zwar noch heute konkrete so genannte „byzantinische“ bzw. kirchliche „Volks-“ Instrumente; sie wurden und werden aber nur außerhalb des kirchlichen Raums verwendet, entweder als Hilfe und Begleiter zum Erlernen der liturgischen Musik oder als profane Instrumente im Rahmen der Volksmusik. In der Regel ist die im Westen vorherrschende Kirchenorgel im kultischen Bereich der Orthodoxie unbekannt, wobei das Abendland die Orgel, allerdings als profanes Instrument, im frühen Mittelalter von Byzanz übernahm. Der Überlieferung nach soll der byzantinische Kaiser Konstantin V. dem fränkischen König Pippin dem Kleinen im Jahre 757 eine Orgel (ὑδραυλίς) geschenkt haben, und diese wurde dann in der lateinischen Kirche zum Kircheninstrument schlechthin.

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Vier orthodoxe Mönche singen den Deutschen Choral in naturtöniger Feinstimmung
Die Mönche singen den Deutschen Choral in naturtöniger Feinstimmung.  
Foto:  Deutsches orthodoxes Dreifaltigkeitskloster
Die Abwesenheit der Musikinstrumente in der orthodoxen Kirche und logischerweise die Festlegung der Kirchenmusik als reine Vokalmusik stützen sich ebenfalls auf eine ununterbrochene kirchlich-patristische Tradition und folgen anhaltend und treu der Entwicklung der anfänglichen byzantinischen Musiktradition. Wie es sich aus Reden vieler Kirchenväter ergibt, wurden alle Instrumente, die als solche von der Kirche nicht verurteilt wurden, vom Gottesdienst ausgeschlossen, um den Unterschied sowohl zwischen christlichem und jüdischem Kultus, der manchmal Instrumente einsetzte, als auch zwischen „Orthodoxie“ und häretischen Sekten, die zum Gewinn naiver Gläubigen profane Instrumente verwendeten, zu offenbaren und zu verdeutlichen. Auch viele alttestamentliche Verse, die die wichtigsten Musikinstrumente dieser Zeit und dazu auch den Tanz in Verbindung mit dem Lobpreis Gottes bringen, haben zwar Eingang in die liturgischen Texte der Orthodoxie gefunden, werden aber nicht wortwörtlich, sondern im Geist und Licht des Neuen Testaments verstanden und erläutert. Die Verse bekommen, entsprechend dem spirituellen Charakter des orthodoxen Kultus’, ebenso mehr eine symbolische Bedeutung und einen geistigen Sinn.

Ein weiteres, sehr bedeutendes Merkmal der liturgischen Musik in der orthodoxen Kirche bildet ihre seit den ersten Jahrhunderten belegte Einstimmigkeit. Das monophone Melos, d. h. die kirchliche Psalmodie, die keine Polyphonie westlicher Art kennt, wird ausschließlich von einem Grundton, dem so genannten „Isokratema“ oder „Ison“ (= gleicher Ton) unterstützt bzw. getragen, wodurch ein falscher Eindruck der Mehrstimmigkeit entsteht. In Wirklichkeit bildet dieser Grundton, der einfach die Basis des jeweiligen zu singenden Kirchentons ist, keine eigenständige Melodie, sondern eine Begleitung. Dieses gewichtige Merkmal der orthodoxen Musik bleibt allerdings bis heute nur in jenen orthodoxen Kirchen bestehen, welche der byzantinischen Tradition treu geblieben sind. In Teilen der Serbischen, der Rumänischen, der Georgischen, der Finnischen, der Polnischen und der Tschechisch-slowakischen sowie in der gesamten Musiktradition der Russischen Orthodoxen Kirche wurde wegen des Einflusses seitens der westlichen Musik insbesondere seit dem 18. Jahrhundert die Polyphonie eingeführt. Dadurch sind auch berühmte orthodoxe mehrstimmige Kompositionen entstanden. In Russland findet man so neben der Klostertradition, der meditative und fließend-rezitativische Hymnen zugeordnet werden, auch die berühmten russischen konzertanten Traditionen mit großartigen Liedern für Chor, darunter Kompositionen von Tschaikowski, Gretschaninow oder Rachmaninow.
„In Deutschland wird, wie in den orthodoxen Mutterkirchen, der Beruf des Kirchenkantors bzw. Chorleiters in der Regel ehrenamtlich ausgeübt.“
Autor
Konstantin Nikolakopoulos

Praktische Ausführung der orthodoxen liturgischen Musik

Nachdem die Liedkompositionen eine enorme Entfaltung und Ausdehnung erfahren hatten, war es notwendig, dass der Gesang der meisten Hymnen nicht mehr vom ganzen Volk (wie in den ersten ca. fünf Jahrhunderten), sondern von ausgebildeten Kirchensängern („Psalten“) und Chören übernommen wurde. Beim Vollzug der orthodoxen Gottesdienste wirken im musikalischen Bereich also sowohl Kantoren als auch Lektoren.

Die ersten singen abwechselnd die Mehrheit der Hymnen oder leiten einen am Gottesdienst beteiligten Chor. Bei der Ausführung der byzantinischen Musiktradition kann der zentrale Kirchensänger nur dirigieren und als Mitglied des Chores die einstimmige Melodie mitsingen; er kann ferner auch konkrete, vorherbestimmte Hymnenabschnitte, die eine besondere Ausführungsweise mit Verschleifungen erfordern, nur mit Isokratema-Begleitung solo singen. In der byzantinischen Tradition sind hauptsächlich in den Stadtgemeinden fast alle Kirchensänger Männer, das heißt aber nicht, dass der Gesang den Frauen verboten wird. Es gibt erwähnenswerte Ausnahmen von weiblichen Kantoren, und nicht zuletzt in den Frauenklöstern übernehmen ausschließlich Nonnen das Singen. Bei den polyphonen Musikchören der slawischen Tradition bestehen die Chöre in der Regel aus Männern und Frauen.

Heute werden alle musikalischen Teile der orthodoxen Gottesdienste in den verschiedenen orthodoxen Patriarchaten und Ortskirchen meistens durch zwei ehrenamtlich tätige Kirchensänger ausgeführt. Aufgrund der Lage der entsprechenden Sängerpulte in den inneren Seiten des Gotteshauses nennen sich die Kantoren auch „rechter Psaltes/Kantor“ und „linker Psaltes/Kantor“. In den größeren Pfarrgemeinden gibt es anstatt der zwei Kirchensänger zwei Chöre (einen rechten und einen linken), die jeweils vom ersten Kantor rechts (Protopsaltes) und dem ersten Kantor links (Lampadarios) geleitet werden. Da das Singen in der Orthodoxen Kirche nicht als Beruf, sondern als Berufung und Gnadendienst angesehen wird, gibt es nur ganz wenige orthodoxe Kirchenkantoren, die auf Lohnbasis hauptamtlich beschäftigt sind; diese Ausnahme bestätigt die Regel.

Die Lektoren übernehmen in der Regel das Vortragen oder Rezitieren von gewissen Psalmen und Gebeten. In den Klöstern und in manchen Stadtgemeinden führen sie aber auch das so genannte „Kanonarchema“ aus, das ein prägendes Merkmal der byzantinischen musikalischen Tradition darstellt. Dabei handelt es sich um das schrittweise Rezitieren der Texteinheiten eines Hymnus, als ob er vom rezitierenden Lektor (Kanonarches) dem Kantor diktiert wird, um dann von den Sängern oder Chören melodisch gesungen zu werden. Durch dieses rezitativische Vortragen der Texte, das sich musikalisch auf der Basisnote des jeweils zu singenden Kirchentons bewegen muss, kann das gläubige Volk die einzelnen Wörter und den gesamten Inhalt des Hymnus deutlich und somit verständlich hören.

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Ausbildung von Musikern – Pflege und Präsentation der orthodoxen Musik

In allen traditionell orthodoxen Ortskirchen, sowohl in den griechischen, als auch den arabischen und den slawischen, wird die orthodoxe Kirchenmusik hochgeschätzt und intensiv gepflegt. Jede lokale orthodoxe Kirche trägt die Verantwortung für die traditionstreue Ausbildung von Kirchensängern, da man selbstverständlich für den liturgisch-musikalischen Nachwuchs sorgen will. In der Regel wird in kirchlichen Musikschulen der verschiedenen Patriarchate oder der einzelnen Diözesen innerhalb einer selbstständigen orthodoxen Kirche kirchenmusikalischer Unterricht erteilt. In Griechenland gibt es außer den kirchlichen Musikschulen auch staatliche Konservatorien, in denen die byzantinische liturgische Musik neben der europäisch-klassischen Musik auf der Basis eines fünfjährigen Studiums mit staatlich anerkanntem Abschluss gelehrt wird. Darüber hinaus wird die byzantinische orthodoxe Musik im Rahmen eines gleichnamigen Studiengangs in den musikwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Athen und Thessaloniki gelehrt. Darüber hinaus wird das Fach „Byzantinische Musik“ von namhaften Professoren an den Universitäten von Belgrad, Bukarest, Moskau, Sofia und Tiflis gelehrt.

In Deutschland wird, wie in den orthodoxen Mutterkirchen, der Beruf des Kirchenkantors bzw. Chorleiters in der Regel ehrenamtlich ausgeübt. Da es bei den Orthodoxen keine Kirchensteuer gibt und die verschiedenen orthodoxen Diözesen über wenige finanzielle Mittel verfügen, sind sie hauptsächlich auf fromme Kirchenmusiker angewiesen, die im Bereich des Vollzugs der Gottesdienste oder auch der Erteilung des Musikunterrichts ihre Dienste gerne und unentgeltlich erweisen. Aufgrund dieser unübersichtlichen Situation in den verschiedenen orthodoxen Gemeinden lassen sich auch keine genauen statistischen Angaben über die Zahl von orthodoxen Chören in Deutschland anführen. Die Regel besagt, dass außer den einzelnen Kirchenkantoren orthodoxe Chöre dort bestehen, wo es größere orthodoxe Gemeinden gibt. Im Folgenden wird der aktuelle Stand im deutschen Raum durch ungefähre Zahlen skizziert.

In den verschiedenen Gemeinden der Griechisch-Orthodoxen Metropolie in Deutschland wird zwar je nach Möglichkeit durch die dortigen Kantoren ehrenamtlich Musikunterricht erteilt. In Ausnahmefällen werden jene Kantoren und Chorleiter, die das Kirchenmusikstudium mit dem entsprechenden Diplom absolviert haben, für ihre Dienste als Kirchensänger bzw. Chorleiter mit geringen Beträgen honoriert. Offiziell gibt es allerdings drei Chöre der Metropolie, in denen die byzantinische Musik systematisch gelehrt wird: in Tübingen (Kirchenchor „Romanos der Melode“), in Bonn (Chor der Kathedralkirche „Heilige Trinität“) und in München („Byzantinischer Kantorenchor“ des Vereins für Byzantinische Musik e. V.).

Die beiden zum Patriarchat von Moskau und zur Auslandskirche gehörenden russischen Diözesen umfassen auf deutschem Boden zusammen über 150 Hauptgemeinden. In nahezu jeder davon gibt es einen eigenen Chor (manche Gemeinden haben nur gelegentlich Gottesdienste, und die Chöre werden von anderen Gemeinden gestellt oder verstärkt). In der überwiegenden Zahl der Gemeinden gibt es einen festen Chorleiter (russisch: „regent“), der entweder über eine klassische musikalische oder eine spezielle Ausbildung zum Kirchenchorleiter verfügt. Eine solche Ausbildung zum Chorleiter wird in vielen Priesterseminaren sowie in der St. Tichon-Universität in Moskau angeboten. Die Chöre und in den meisten Fällen auch die Chorleiter in den Gemeinden der russischen Auslandskirche singen ehrenamtlich, obwohl es in Russland üblich ist, die Chöre zu vergüten und insbesondere den Chorleiter (meist im geistlichen Rang eines Lektors) fest anzustellen. In den Gemeinden des Moskauer Patriarchates in Deutschland sind bezahlte Sänger häufiger anzutreffen.

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Bulgarisch Orthodoxer Chor Berlin bei einem Auftritt im Konzertsaal der Universität der Künste
Bulgarisch Orthodoxer Chor Berlin bei einem Auftritt im Konzertsaal der Universität der Künste  
Foto:  Plamena Slavova  /  Bulgarisch Orthodoxer Chor Berlin
Auch die Serbisch-Orthodoxe Diözese für Mitteleuropa pflegt die Kirchenmusik im Rahmen des liturgischen Lebens sehr intensiv. In Berlin gibt es zwei eigenständige Kirchenchöre (Chor „Hl. Stefan von Dečani“ und Chor „Heruvimi“) sowie jeweils einen in den Gemeinden von Hannover, Frankfurt (Chor „Hl. Vasilije Ostroški“), Karlsruhe und München (Chor „Hl. Jovan Vladimir“). In den restlichen Gemeinden formieren sich je nach Möglichkeit immer wieder neue Chöre für den Vollzug der Gottesdienste. Außerdem gibt es in München den „Singidunum Chor“, welcher sowohl die kirchliche als auch die Volksmusik Serbiens pflegt. Eine direkte Schulung gibt es in Deutschland nicht, für den deutschsprachigen Raum jedoch in Wien. Dort wurde im Oktober 2015 eine „Schule für serbische Kirchenmusik“ gegründet. Im Rahmen ihres Studienprogramms werden sowohl die polyphone (vierstimmige) serbische als auch die monophone byzantinische Musik gelehrt.

Im Bereich der Rumänisch-Orthodoxen Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa spielt die Kirchenmusik eine solch zentrale Rolle, dass unter der Aufsicht des Metropoliten in größeren Gemeinden Musikunterricht angeboten wird. Sehr bekannt ist der in der Metropolitankirche zu Nürnberg tätige Chor. In Nürnberg, dem Sitz der Metropolie, werden außerdem jährlich Musikkurse organisiert, welche vom rumänischen Pfarrer in Saarbrücken und dem Dirigenten von Nürnberg durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es zwei Chöre in München (Chor „Armonia“ und Chor der Gemeinde „Maria-Verkündigung“) sowie jeweils einen in Berlin, Köln und Saarbrücken.

Obwohl die zum bulgarischen Patriarchat gehörende Diözese von West- und Mitteleuropa bundesweit nur zehn Gemeinden umfasst, kümmert sie sich um die Pflege und Weitertradierung der Kirchenmusik. Fünf Kirchenchöre sprechen sind in den größeren Gemeinden von Berlin, Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf und München tätig und befassen sich mit der genuin byzantinischen Musiktradition.

Die Georgisch-Orthodoxe Diözese für Deutschland und Österreich unterhält aufgrund der kleinen Zahlen an Gläubigen nur drei Hauptgemeinden in der Bundesrepublik (München, Düsseldorf und Berlin). Es gibt jedoch weitere, kleinere Gemeinden (Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, Saarbrücken, Hannover, Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund, Neuss, Gelsenkirchen, Köln, Bonn, Münster, Ratingen), wo nur einmal pro Monat eine hl. Liturgie stattfindet. Erwähnenswert sind hierbei zwei wichtige Kirchenchöre, bei denen auch georgische Musik unterrichtet wird: in München (Frauenchor „Hl. Wachtang Gorgasali“) und in Düsseldorf (Männerchor „Hl. Antimos aus Iveria“).

Abschließend sollte in diesem Zusammenhang der besondere Fall von München hervorgehoben werden. In der bayerischen Landeshauptstadt sind mit über zehn Gemeinden fast alle kanonischen orthodoxen Kirchen mit eigenen Diözesen (bulgarisch, georgisch, griechisch, rumänisch, russisch, serbisch, syrisch) vertreten. Für die Pflege der orthodoxen Kirchenmusik wird hier auch durch regelmäßige Seminare im Rahmen des Studiums am 1985 gegründeten Institut für Orthodoxe Theologie der Ludwig-Maximilians-Universität München gesorgt. Diesem Institut entspringt ebenfalls die Initiative der im Jahre 2003 erfolgten Gründung des Vereins für Byzantinische Musik e.V. und des dazu gehörigen Byzantinischen Kantorenchores. Die Verantwortlichen engagieren sich für die Förderung und Pflege der byzantinischen Kirchenmusik und Tradition, den Kulturaustausch zwischen deutschen und orthodoxen Mitbürgern sowie die Förderung der orthodoxen musikalischen Kultur in ihrer Begegnung mit anderen europäischen Kulturkreisen. Ein weiteres erwähnenswertes Beispiel stellt die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA) dar, die in München den Interessierten spezielle Seminare für Kirchenmusik anbietet. Diese jährlich abgehaltenen Chor- und Gottesdienst-Seminare dauern drei Tage und umfassen Kurse für Dirigenten, Sänger, Leser, Glöckner und Altardiener. Sie bieten dennoch keine umfangreiche Ausbildung mit Zertifikat oder dergleichen an, sondern dienen zur Unterstützung und zur Erlangung von Grundkenntnissen im Gottesdienstablauf.

Auf Initiativen des Instituts für Orthodoxe Theologie an der Universität München und des byzantinischen Kantorenchors München geht auch eine weitere Institution zurück, das sogenannte „Panorthodoxe Chortreffen“, das seit 2005 einmal jährlich am vorösterlichen „Sonntag der Orthodoxie“ turnusmäßig in einer orthodoxen Gemeinde Münchens stattfindet. In der Präsentation der beteiligten Chöre aus allen orthodoxen Gemeinden Münchens spiegelt sich der große Wert der orthodoxen Kirchenmusik sowie ihre schöne Vielfalt wider, so wie sie in der byzantinischen und der slawischen Tradition zutage tritt.

Schlussbemerkung

Die Musik ist ein seit Anfang der christlichen Kirche her in Anspruch genommenes Mittel im Kultus, gleich wie die Hymnendichtung, die Ikonen, der Weihrauch, die priesterlichen Gewänder und ähnliches. Durch die Musik kann der orthodoxe Gläubige einerseits die christliche Lehre und die theologischen und erlösenden Wahrheiten im Gedächtnis und im Herzen festhalten und andererseits seinen Glauben samt seinen persönlichen Gefühlen ausdrücken. Die liturgische Musik der Orthodoxie wird mit Recht als die „Bekleidung des Wortes“ bezeichnet, weil sie dazu dient, dass der Sinn der Texte, der hinter den Buchstaben verborgen ist, lebhaft und entschieden zum Ausdruck gebracht wird. Es ist eines der wichtigsten Prinzipien der kultischen Melodie, jedes Wort eines Hymnus treffend zu betonen und seinen eigentlichen Sinn ernst zu nehmen.

Über den Autor

Konstantin Nikolakopoulos ist Professor für Biblische Orthodoxe Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht auf den Fachgebieten des Neuen Testaments, der alt- und ostkirchlichen Hymnologie sowie der byzantinischen Musikwissenschaft und Liturgik. Er ist Vorsitzender des Vereins für Byzantinische Musik e. V. und Chorleiter des Byzantinischen Kantorenchores München.
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Fußnoten

  1. Die Gemeindezahlen der verschiedenen orthodoxen Diözesen auf deutschem Raum werden hier in ungefähren Ziffern ohne Gewähr angegeben, da sich stets Änderungen ergeben.