Erstes Konzert des Utopia Orchesters 2018
Erstes Konzert des Utopia Orchesters 2018  
Photo:  Markus Werner
Im Projekt „Werkstatt Utopia“ treffen sich Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zum gemeinsamen Musizieren. Unter der Leitung von Mariano Domingo spielen sie ein Repertoire vom Barock bis zum Operettenschlager.

Kaum zu glauben, aber es gibt Utopien, die Wirklichkeit werden. Wie die von Mariano Domingo, der 2017 zusammen mit Angela Meyenburg, Gründerin und Geschäftsführerin des Vereins „KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V.“, über einem Konzept brütete, wie man Menschen mit und ohne Behinderung beim gemeinsamen Musizieren zusammenbringen kann. „Wir stellten uns ein Amateurorchester mit ungefähr 30 Leuten vor, und ich habe dann meine Kontakte genutzt, um potenzielle Mitglieder anzusprechen – die wir auch schnell beisammen hatten“, erinnert sich der Dirigent und Klarinettist an die Anfänge des inklusiven Musikprojekts „Werkstatt Utopia“: das erste seiner Art nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland. Nachdem die Förderung durch die Aktion Mensch sichergestellt war, fiel der Startschuss. „Inklusive Bands gibt es häufiger, aber im klassischen Bereich sind wir Pioniere.“ Seit seiner Gründung im Mai 2018 ist der Bekanntheitsgrad des Projekts stetig gewachsen, mit zahlreichen Konzerten in vielfältigen Formationen zieht es heute ein großes und diverses Publikum an.

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Mariano Domingo, der Dirigent des Utopia Orchesters
Mariano Domingo, der Dirigent des Utopia Orchesters  
Photo:  Markus Werner

Weniger eindeutig zu fassen als die Anzahl der Instrumente ist die der Menschen mit und ohne Behinderung: „Ob jemand ein Handicap hat oder nicht, sieht man von außen oft gar nicht“, sagt Domingo. Neben blinden Orchestermitgliedern gibt es auch solche, die im Rollstuhl sitzen, andere wiederum leiden an chronischen physischen oder psychischen Krankheiten, die man nicht auf den ersten Blick erkennt. Jeder hier ist unterschiedlich, einzigartig, doch eines verbindet sie alle miteinander: die Liebe zur Musik und der Wunsch, sie gemeinsam mit anderen auszuleben. Doch was muss man eigentlich mitbringen, um im „Utopia Orchester“ aufgenommen zu werden? Da wäre zum einen das richtige Instrument. „Gerade am Anfang hatten wir viele Leute, die mit E-Gitarre, Schlagzeug und anderen Rock/Pop-Instrumenten zu uns kamen“, erinnert sich Mariano Domingo. Für das geplante Orchesterprojekt nicht ganz das Passende. Da aber auf der anderen Seite das Team von „KulturLeben Berlin“ auch niemanden wegschicken wollte, wurde kurzerhand eine „Utopia Band“ gegründet. „Die ‚Werkstatt Utopia‘ besteht ja nicht nur aus dem Orchester“, erklärt Domingo, „darüber hinaus gibt es noch eine Menge anderer Angebote, nämlich unsere Kammermusik-Ensembles, wo die Teilnehmenden in unterschiedlichsten Besetzungen zusammenkommen.“

Üblicherweise bringen die Beweber:innen das geforderte technische Niveau auf ihren Instrumenten mit, um die Programme erfolgreich und frustfrei einstudieren zu können; einige von ihnen stammen als ehemalige oder aktive Instrumentalpädagog:innen sogar aus dem professionellen Bereich. Ansonsten ist die Gruppe in Sachen Alter und Berufszugehörigkeit, von der Studentin bis zum Rentner, bunt gemischt. Was von Vorteil ist: Viele Orchestermitglieder sind im sozialen Bereich tätig und können daher schon von Berufswegen auf Erfahrungen im Umgang mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen zurückgreifen. Das erleichtert auch Mariano Domingo die Arbeit, der mit der „Werkstatt Utopia“ das Ziel eines „barrierefreien“ Musizierens verfolgt. Dazu gehört auch, so zielgerichtet wie möglich auf die jeweiligen Anforderungen der Orchestermitglieder einzugehen. „Der Organisationsaufwand ist ungleich höher als bei anderen Orchestern, und ich bin sehr dankbar, dass ich hierbei von meinem Team so gut unterstützt werde,“ sagt Domingo. „Allein würde ich das niemals schaffen.“ Neben Zeit braucht es auch Knowhow und mitunter Kreativität, um etwa mit blinden oder sehbehinderten Musiker:innen die Stimmen nach Gehör einzustudieren oder um Lösungen zu finden, wie die fürs einvernehmliche Zusammenspiel unerlässlichen Zeichen des Dirigenten in haptische Signale übersetzt werden können.

Geigerin im Utopia Orchester
Photo:  Markus Werner
Flötistinnen des Utopia Orchesters beim ersten Auftritt 2018
Flötistinnen des Utopia Orchesters beim ersten Auftritt 2018  
Photo:  Markus Werner
Cellist des Utopia Orchesters beim ersten Auftritt 2018
Photo:  Markus Werner

Was in den Köpfen der Musiker:innen und Organisator:innen im Hintergrund bereits Standard ist, lässt in der Realität mit ihren steilen Treppenaufgängen, fehlenden Behinderten-WCs und anderen, oft unerwarteten Widrigkeiten an vielen Stellen noch zu wünschen übrig. Viele Bühnen sind so gebaut, dass sie von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen gar nicht erreicht werden können. Manchmal sind es auch feuerpolizeiliche Vorschriften, die das Auftreten unmöglich machen, „etwa, wenn aus Brandschutzgründen nicht mehr als drei Personen im Rollstuhl auf dem Podium sitzen dürfen.“ Eine bürokratische Hürde, die das „Utopia Orchester“ mit drei Rolli-Fahrenden derzeit gerade so umgehen kann. Auch Kirchen gehören zu den weniger idealen Konzertorten, da sie meistens nicht über Toiletten und schon gar nicht über behindertengerechte Einrichtungen dieser Art verfügen. „Das ist nicht nur ein Problem für die Musiker:innen, sondern auch für unser Publikum.“

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Mann mit körperlicher Behinderung im Rollstuhl, MItglied des Utopia Orchester
Erstes Konzert des Utopia Orchesters 2018  
Photo:  Markus Werner

Umso glücklicher ist das „Utopia Orchester“, in den Räumlichkeiten des St. Elisabeth-Stifts der Stephanus Wohnen und Pflege gGmbH im Prenzlauer Berg geeignete Rahmenbedingungen für die Donnerstagsproben von 18:30 Uhr bis 21:00 Uhr gefunden zu haben. „Unser Probenraum ist auch für unsere Rollstuhlfahrer:innen barrierefrei zu erreichen,“ sagt Mariano Domingo, der auf reibungslose Abläufe angewiesen ist, wenn er das straffe Jahrespensum mit seinem Orchester durchziehen möchte. Natürlich würde er hin und wieder gern auch mal ein Probenwochenende einschieben, bei dem die Musiker:innen en bloc konzentriert an den Stücken arbeiten könnten. „Aber dafür einen geeigneten barrierefreien Ort zu finden, ist noch schwieriger.“ Also müssen die heute schon stattfindenden Probentage als Intensivtraining reichen. Regelmäßig drei Konzerte gibt das Orchester pro Jahr, zu denen sich, je nach Gelegenheit, weitere hinzugesellen können. Ein unumstößlicher Termin im Jahreskalender ist jeweils der 3. Dezember, der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung, an dem das „Utopia Orchester“ in der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg (in früheren Jahren in der Gethsemane-Kirche) zu erleben ist: meist mit festlich gewürzten Programmen, 2023 etwa Ausschnitte aus Tschaikowskys „Nussknacker“ in Kombination mit Opern- und Operettenhits, die das „Utopia Orchester“ zusammen mit seinem Gastsopran Kristina Gordadze und ihrem im Rollstuhl sitzenden Tenorkollegen Artak Kirakosyan schwungvoll servierte.

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Ein weiterer zuverlässig wiederkehrender Jahrestermin ist das Frühlingskonzert im GRIPS Theater, das ebenfalls anspruchsvolle Meisterwerke der Klassik, in den letzten Jahren etwa Griegs „Peer-Gynt“-Suiten oder Teile aus Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“, präsentiert. Doch nicht nur Altes, sondern auch neue Werke stehen regelmäßig auf dem Programm: Werke, die Komponisten wie der Berliner Jazz-Musiker Paul Brody eigens für das „Utopia Orchester“ geschrieben haben. Auf diese Weise leistet das „Utopia Orchester“ auch künstlerisch Pionierarbeit, und Mariano Domingo ist glücklich, dass er mit seinem einzigartigen Ensemble auch so herausfordernde Projekte wie eine Uraufführung stemmen kann. Als Dirigent hat er schon viele Erfahrungen mit Orchestern sammeln können, darunter auch viele Profiorchester: „Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Man muss für jedes Orchester den richtigen Schlüssel für die Zusammenarbeit finden. Wenn ich mit Profis arbeite, gebe ich ein paar Anweisungen, und nach ein paar Tagen steht das Programm. Hier dauert alles länger, und die musikalische und soziale Komponente müssen die ganze Zeit über parallel mitberücksichtigt werden. Aber auch so schaffen wir es ans Ziel.“ Und das mit beeindruckenden Ergebnissen.

Das Utopia Orchester ist das einzige inklusive Laien-Sinfonieorchester bundesweit. Es gehört zum inklusiven Musikprojekt Werkstatt Utopia. Träger ist der Verein KulturLeben Berlin - Schlüssel zur Kultur e.V., der seit 14 Jahren nicht verkaufte Kulturplätze kostenlos an Menschen mit geringem Einkommen vermittelt und sich für die kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung einsetzt. Die Werkstatt Utopia wird gefördert durch die Aktion Mensch und unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung e.V

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!