Manfred Wildhage in der Tonkabine bei der Audiodeskription zu „Alice im Wunderland“
Manfred Wildhage in der Tonkabine bei der Audiodeskription zu „Alice im Wunderland“  
Photo:  Lukas Dörfler  /  Braunschweiger Zeitung

Seit 2013 ermöglicht das Staatstheater Braunschweig mithilfe von Audiodeskriptionen Gästen mit Sehbehinderung ein vollumfängliches Theatererlebnis. Ein Inklusionsprojekt, das seinen Erfolg nicht zuletzt dem begeisterten Engagement ehrenamtlicher Helfer verdankt.

„Tosca“ ist ein Politthriller zwischen pomphafter Kulisse und nervenaufreibendem Kammerspiel. Noch subtiler als in der bloßen Bühnenhandlung wird die Geschichte um eine schillernde Opernsängerin, ihren politisch verdächtigen Geliebten und einen sadistischen Geheimdienstchef von der Musik erzählt. Allein mit den Ohren käme man also bestens in Puccinis Oper aus dem Jahr 1900 zurecht, doch möchte man wirklich auf die szenische Dimension verzichten? Immerhin lebt ein Opernbesuch vom Gesamtpaket aus Gesang, Orchesterrausch und packender Darstellung. Zudem können einfallsreiche Inszenierungen selbst bekannten Werken neue Aspekte abgewinnen und so unser Verständnis von scheinbar Vertrautem erweitern. Dass man nicht nur ins Theater geht, um sich zu zerstreuen, konnten Braunschweiger Zuschauer*innen am Beispiel von Anna Bernreitners vielgelobter „Tosca“-Produktion erleben, die das Staatstheater im Spätsommer 2023 als Freiluft-Aufführung beim traditionellen Burgplatz Open Air zeigte.

Bei dieser Gelegenheit hatten tatsächlich alle Teile des Publikums die Möglichkeit, der Bühnenhandlung zu folgen, und zwar auch diejenigen, die wegen einer Sehbehinderung oder aufgrund vollständiger Blindheit sonst nicht viel von den visuellen Anteilen einer Opernaufführung mitbekommen. Die open-air gezeigte „Tosca“ gehört zu jenen Produktionen des Staatstheaters Braunschweig, die vorstellungsweise mit Audiodeskriptionen angeboten werden. Hierbei ersetzt das gesprochene Wort den optischen Bühneneindruck, durch zeitgleiche Beschreibung der dargestellten Situation fügen sich die sonst nur dem Auge zugänglichen Bilder mit der Musik im Kopf zu einem Ganzen. Ähnliches kennt man von Fernsehsendungen, die mit einem Audiokommentar versehen sind. Während man es hier jedoch üblicherweise mit vorab eingesprochenen Angeboten zu tun hat, vollzieht sich die Beschreibung bei den Braunschweiger Vorstellungen – wie’s sich für die Oper gehört – im Live-Moment. Seit rund zehn Jahren bietet das Fünfspartenhaus seine Audiodeskriptionen an. Den Anfang machte Andrew Lloyd Webbers Musical „Sunset Boulevard“ im November 2013. Seitdem werden pro Spielzeit etwa sechs bis acht Produktionen aus den Bereichen Musiktheater und Schauspiel ausgewählt, die auf diese Weise begleitet werden.

„Für angemeldete Gäste steht ein technisch hochwertiges Sennheiser-Set mit 28 Empfangsgeräten zur Verfügung“, erklärt Ellen Brüwer, persönliche Referentin der Braunschweiger Generalintendantin Dagmar Schlingmann und Ansprechpartnerin für Audiodeskription. Im Grunde, sagt Brüwer, könne man sich das Ganze wie bei einem Fußballspiel vorstellen, bei dem der Live-Kommentierende einem abwesenden Publikum so lückenfrei wie möglich die Situation auf dem Platz erklärt. Wie passend also, wenn man jemanden zur Hand hat, der tatsächlich schon über entsprechende „Platzerfahrung“ verfügt; jemanden wie Paul Beßler zum Beispiel. Der pensionierte Lehrer stellte von Anfang seine Expertise als Bildbeschreiber zur Verfügung und hat, eher er sich in die Klassiker und Novitäten der Bühne versenkte, jahrelange Erfahrungen als Kommentator für blinde Menschen bei Leichtathletikwettbewerben sowie bei Fußballspielen des VFL Wolfsburg und der Eintracht Braunschweig gesammelt. Abwechselnd mit seinem später hinzugekommenen Kollegen Manfred Wildhage, auch er Lehrer im Ruhestand, schleicht er sich als „Kleiner Mann“ nun regelmäßig in die Ohren der Theaterbesucher*innen, die vom Audioangebot des Staatstheaters Gebrauch machen. Dass die beiden Sprecher für ihre Tätigkeit kein Geld verlangen, ist für sie Ehrensache. Die Freude, die sie ihren Zuhörer*innen bereiten, ist für sie Belohnung genug, zudem konnten sie sich im Jahr 2022 über die Auszeichnung mit dem „Niedersachsenpreis Bürgerengagement“ freuen. Ergänzung?  Anfang Oktober 2023 wurden sie für den Deutschen Ehrenamtspreis nominiert.

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Manfred Wildhage und Paul Beßler in der Tonkabine
Manfred Wildhage und Paul Beßler in der Tonkabine  
Photo:  Johannes Ehrmann

Wie muss man sich die Arbeit von Paul Beßler und Manfred Wildhage konkret vorstellen? Ellen Brüwer erklärt die Situation vor Ort: „Der Sprecher sitzt in der Tonkabine im ersten Rang und hat damit die gleiche Sicht auf die Bühne wie die Zuschauenden. Über einen Extrakanal gelangt der Ton schließlich ins Ohr der Empfänger*innen.“ Da das Haus über eine umfassende Tonanlage verfügt, mussten hierfür auch keinerlei Extravorkehrungen getroffen werden. Dank engagierter Haustontechnik  funktioniert das System auch im Freien, wie etwa bei der im Sommer gezeigten „Tosca“ auf dem Burgplatz. Dass die Sprecher gut vorbereitet in ihren Einsatz gehen, versteht sich von selbst. Im Regelfall haben sie ein dickes Skript vor sich liegen, das mit einer Vielzahl von Notizen und Unterstreichungen gespickt ist. Was genau die Männer hinter dem Mikrofon beschreiben, will gut überlegt sein, kann je nach Aufführungssituation aber auch sehr spontan sein. „Dabei ist es unerlässlich, dass der Sprecher vorab die Produktion schon einmal gesehen hat“, sagt Ellen Brüwer, „oft ist der beteiligte Audiodeskripteur schon bei der Konzeptionsprobe dabei, in der das Regieteam seine szenischen Ideen vorstellt.“

Bei der Audiodeskription besteht die Kunst darin, weder zu viel noch zu wenig zu erzählen. Einerseits sollen die Angebotsnutzer*innen eine möglichst plastische Vorstellung vom Bühnengeschehen haben, wichtige Details, die zum Verständnis der Handlung bzw. der Inszenierung beitragen, im Augenblick ihres Geschehens mitbekommen, zum anderen aber auch nicht im Kunstgenuss gestört werden. Freilich kann die Information, dass sich Charakter A von links nach rechts bewegt, durchaus relevant sein, sie sollte nur nicht ausgerechnet von einer besonders schönen Gesangspassage ablenken. Opern mit langen Arien, in denen außer Gefühlsäußerungen nichts Gravierendes passiert, sind vermutlich einfacher zu beschreiben als überdrehte Konversationskomödien mit riesigem Ensemble und rascher Auftrittsfolge. Doch wie auch immer: Bei alten Hasen wie Herrn Beßler und Herrn Wildhage muss man sich keine Sorgen machen. Sie finden, knapp und präzis in der Sprache, stets den richtigen Ton – und meist die richtige Gelegenheit. „In den Pausen gibt es häufig auch die Möglichkeit, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die von den Audiodeskriptionen Gebrauch machen“, sagt Ellen Brüwer, „die teilen sich durchaus mit, wenn ihnen etwas nicht gefallen hat oder wenn sie etwas vermissen.“ Konstruktiver Kritik stellen sich die Sprecher allerdings gern. Schließlich haben sie selbst ein Interesse daran, den Opernbesuch für alle so spannend und nachvollziehbar wie möglich zu gestalten.

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Einführung zur Léhar-Operette „CloClo“ für Menschen mit Sehbehinderung
Einführung zur Léhar-Operette „CloClo“ für Menschen mit Sehbehinderung  
Photo:  Ellen Brüwer

Da nicht nur die Ohren, sondern auch die Hände als Ersatz für fehlende Sehfähigkeit dienen können, bietet das Staatstheater zusätzlich zu den Audiodeskriptionen jeweils eine Stunde vor den Aufführungen eine spezielle Führung an. Dabei können sich sehbehinderte Theatergänger*innen schon im Vorfeld mit bestimmten Utensilien vertraut machen, die für das nachfolgende Bühnenspektakel von Bedeutung sein werden: Teile des Bühnenbildes etwa, Kostüme oder Requisiten. „Wenn es möglich ist, führen wir unsere Audiodeskriptions-Besucher*innen dabei auf die Bühne, was für viele ein echtes Highlight ist, weil sie hier den Raum für die jeweilige Inszenierung erfassen können.“ Mithilfe der haptischen und beschreibenden Elemente können sich die Besucher*innen auch ohne Sehvermögen ein eigenes und möglichst vollständiges Bild von einer Inszenierung machen. Der/Die Dramaturg*in der Produktion erläutert in der Einführung auch grundlegende ästhetische Entscheidungen des Regieteams und deren inhaltlichen Hintergrund. Was die Audiodeskription selbst betrifft, soll sie eines jedoch nicht enthalten: eine fertige Interpretation, die vorab schon festlegt, wie der/die Zuschauende die Produktion aufnehmen soll. Wer Näheres zu den Ideen der Regieführenden erfahren möchte, kann die allgemeinen Einführungen vor Vorstellungsbeginn besuchen, die das Staatstheater Braunschweig für all seine Besucher*innen anbietet. 

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!