Frühschoppen beim Festival Ab geht die Lutzi
Frühschoppen beim Festival Ab geht die Lutzi  
Photo:  Julia Eschenbach
Das Dorf Rotterhausen im Landkreis Bad Kissingen lädt einmal im Jahr zu einem ganz besonderen Festival: „Ab geht die Lutzi!“ präsentiert alternative Musik unter freiem Himmel und legt besonderen Wert darauf, dass Gäste mit Einschränkungen barrierefrei teilhaben können.

Im Vergleich zu Rottershausen ist Wacken eine Großstadt. Nicht einmal 1.000 Menschen leben in dem Ortsteil der unterfränkischen Gemeinde Oerlenbach, knapp die Hälfte von dem, was das berühmte norddeutsche Heavy-Metal-Dorf an Einwohnerschaft aufzubieten hat. Was Rottershausen aber mit Wacken gemeinsam hat: Wenn Festivalzeit ist, strömen Musik- und Feierwütige von nah und fern herbei, um eine geografisch eher unscheinbare Ecke in den Nabel der Welt zu verwandeln. „Ab geht die Lutzi!“: Den Namen des Rottershausener Festivals nehmen die Besucher*innen wörtlich, und zwar seit 2010, dem Jahr der ersten Ausgabe. Zunächst als rein lokales Event mit Künstler*innen aus der Region geplant, wurde die Veranstaltung bald auch außerhalb zum Geheimtipp, sodass man bereits im dritten Jahr rund 3.000 Besuchende willkommen heißen konnte. Mit gesteigertem Publikumsverkehr wuchs auch die Prominenz der auftretenden Künstler*innen. Im Juni 2023 waren 12.000 Menschen (max. 5.000/Tag) gekommen, um drei Tage lang namhafte Bands und talentierte Newcomer aus den Stilrichtungen Punk, Rock, Hip Hop zu erleben, im Freien zu campen und mit anderen eine gute Zeit zu verbringen.

Wegweiser auf dem Festivalgelände
Wegweiser auf dem Festivalgelände  
Photo:  Lukas Veth
Abendliches Konzert auf dem Festival Ab geht die Lutzi
Konzert auf dem Festival 2019  
Photo:  matthias.k Photography
Shishawald auf dem Festivalgelände
Shishawald auf dem Festivalgelände  
Photo:  Lukas Veth

Möglich gemacht wird all das nicht von einem kommerziellen Anbieter, sondern durch den ehrenamtlichen Einsatz eines ganzen Dorfs, das rund ums Festival im Dauereinsatz ist. „Von der Größe können wir uns natürlich nicht mit Wacken messen“, sagt Klaus Schmitt, der im 35-köpfigen Orga-Team von „Ab geht die Lutzi!“ für Produktionsleitung und Booking zuständig ist, „aber wenn das Festival stattfindet, sind rund 500 Menschen hinter den Kulissen aktiv, von denen die meisten aus dem Ort kommen.“ Selbst Weggezogene zieht es dann wieder hierher. Die einzigen Externen sind die Security-Kräfte, einige Gastronomieanbieter*innen und natürlich die Bands, die auf dem zum Festivalgelände umfunktionierten Fußballfeld des FC Einigkeit Rottershausen auftreten. Geradezu selbstverständlich für einen Ort mit einer solchen Gastfreundschaft, dass sich wirklich jede*r hier willkommen fühlen soll. Das gilt nicht nur allgemein für junge oder alte Menschen, Mädchen oder Jungen, Punkrocker*innen oder Hip-Hopper*innen, sondern speziell auch für Menschen mit Beeinträchtigung. Schon seit langem hat das Festival-Team von „Ab geht die Lutzi!“ das Thema Barrierefreiheit im Blick. In den letzten Jahren wurde es intensiv vorangetrieben.

„Wir wollten unseren Besucher*innen von Anfang an so wenig Hindernisse in den Weg legen wie möglich“, sagt Klaus Schmitt, „aber so wirklich wussten wir damals auch nicht, worauf man im Zusammenhang mit Barrierefreiheit achten muss. Neben den normalen WCs auch behindertengerechte Dixie-Toiletten aufzustellen, reicht da hinten und vorne nicht aus.“ Ein Weiterbildungsvortrag im Rahmen des HÖME Festival Playgrounds hatte Schmitt und seine Teamkolleg*innen noch einmal für das Thema Barrierefreiheit sensibilisiert. Sie nutzten die durch Corona erzwungene Saure-Gurken-Zeit, um nachzubessern und ein Konzept zu entwickeln, das umfassend auf die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigung eingeht und dabei eine möglichst große und diverse Gruppe erreicht. „Man denkt in erster Linie an Rollstuhlfahrende und daran, wie sie sich auf einem Festivalgelände bewegen können; aber es gibt ja viel mehr Arten von Beeinträchtigungen, und viele davon sieht man den Menschen gar nicht an“, sagt Klaus Schmitt.

Um auf die richtige Expertise zurückgreifen zu können, wandte sich die Festivalorganisation an den Landkreis Bad Kissingen und holte sich Unterstützung von der Initiative „Barrierefrei feiern“, einem bundesweiten Kollektiv aus Menschen mit Behinderung und ihren Verbündeten, das sich für barrierefreie Kulturangebote einsetzt und in diesem Zusammenhang Protagonist*innen aus dem Konzert- und Veranstaltungsbereich berät. „Wir haben durch diese Beratung unheimlich viel gelernt und konnten sofort bestimmte Dinge angehen, die das Festival nicht nur vor Ort, sondern auch schon im Vorfeld barrierefreier machen“, sagt Klaus Schmitt. Viele kleine Schritte, die zu einem großen Ganzen geführt haben. Das beginnt nicht erst bei der Anreise, sondern schon auf der Homepage. Umfassend, ausführlich und vor allem barrierefrei wird hier neben dem Festivalprogramm über die Situation vor und auf dem Gelände informiert und über die Möglichkeiten, barrierefrei an der Veranstaltung teilzunehmen. Sorgfältig aufbereitete FAQ ergänzen die Hinweise, die daneben auch in Leichter Sprache zu finden sind. Wichtig für Menschen mit Beeinträchtigung ist es, bei ihrer Reiseplanung nicht fürchten zu müssen, beim Festivalbesuch auf unliebsame Überraschungen zu stoßen. „Ab geht die Lutzi!“ informiert seine Besucher*innen daher, welche Möglichkeiten es für Autofahrende und die Nutzer*innen von öffentlichen Verkehrsmitteln gibt, etwa Behindertenparkplätze vor dem Festivalgelände oder barrierefreie Ausstiegsmöglichkeiten an der Rottershausener Bahnhaltestelle. Wer von einem Fahrdienst gebracht wird, hat zudem nach vorheriger Anmeldung die Möglichkeit, direkt auf dem Festivalgelände auszusteigen.

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Campingplatz des Festivals Ab geht die Lutzi
Campingplatz auf dem Festivalgelände  
Photo:  Festval Ab geht die Lutzi

Dass das Areal, auf dem „die Lutzi abgeht“, so gut es geht auch für Rollstuhlfahrende zugänglich ist, wurde akribisch von Expert*innen in eigener Sache ausgetestet. Stufen oder Unebenheiten des Bodens werden mithilfe mobiler Rampensystemen oder Schwerlastmatten beseitigt. Freie Sicht auf die Bühne ist für Rollstuhlfahrende ebenso gewährleistet, nötigenfalls steht ihnen ein erhöhtes Podest an der Haupttribüne zur Verfügung. Dank abgesenkter Theken ist zumindest teilweise eine barrierefreie Nutzung des gastronomischen Angebots möglich. Die Toilettensituation auf dem Festivalgelände und dem Campingplatz ist ebenfalls auf die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigung zugeschnitten. Da derzeit allerdings noch kein rollstuhlgerechter Dusch-Container im Einsatz ist, können Besucher*innen, die darauf angewiesen sind, während der Festivaltage die barrierefreien Duschanlage des Backstage-Bereichs nutzen. Und sollte einmal der Strom knapp werden, haben Rollstuhlfahrende die Möglichkeit, ihr Gefährt an einer Ladestation wieder vollzutanken.

Auch daran, dass einige Menschen mit Beeinträchtigung auf Assistenz angewiesen sind, haben die Organisator*innen von „Ab geht die Lutzi!“ gedacht. Wer einen Schwerbehindertenausweis mit dem Zusatz „B“ vorzeigt, darf kostenlos eine Begleitperson mit auf das Festival nehmen. Nicht nur zweibeinige Begleiter*innen erhalten freien Zutritt zum Gelände, sondern auch vierbeinige: zertifizierte Assistenz- und Blindenführhunde. „Wir versuchen natürlich schon im Vorfeld alles so zu regeln, dass es hinterher reibungslos läuft“, sagt Klaus Schmitt, der neben seinen anderen Festivalaufgaben auch den Bereich Barrierefreiheit und Inklusion betreut. „Daneben sind wir aber auch rund um die Uhr ansprechbar, wenn es dann doch einmal Probleme geben sollte, die sich am besten individuell regeln lassen.“ Um sicher zu gehen, dass Menschen mit Beeinträchtigung in schwierigen Situationen Gehör finden, ist über die Dauer des Festivals ein geschultes Awareness-Team im Einsatz. Eine festivaleigene Notfall-Hotline ergänzt dieses Angebot, wobei sämtliche Kontaktmöglichkeiten klar und deutlich kommuniziert werden. Niemand soll in einer Notsituation das Gefühl haben, alleingelassen zu werden.

Das Feedback, das von den Festivalbesucher*innen mit Beeinträchtigung kommt, hilft Klaus Schmitt und seinem Team dabei, das barrierefreie Angebot in Zukunft noch weiter auszubauen und zu verbessern – und so den Publikumskreis, der sich momentan hauptsächlich aus Besucher*innen aus der Umgebung sowie der benachbarten Großräume Würzburg und Nürnberg zusammensetzt, zu erweitern: „Da man vielen Menschen ihre Beeinträchtigung gar nicht ansieht, können wir momentan schlecht sagen, um wie viel sich ihr Anteil durch die verbesserte Barrierefreiheit erhöht hat. Außerdem haben wir erst nach Corona so richtig damit angefangen“, sagt Klaus Schmitt. „Aber es wird sich bestimmt in der Community herumsprechen, da bin ich mir sicher.“ Vielleicht wird sich auch das eine oder andere Festival ein Beispiel am Einsatz der Rottershausener nehmen, damit Menschen mit Beeinträchtigung künftig die gesamte Vielfalt der Festivallandschaft in Deutschland offensteht. 

Über den Autor

Stephan Schwarz-Peters arbeitet als freischaffender Journalist und Redakteur u. a. für das Tonhalle Magazin, die Philharmonie Köln sowie die Magazine Rondo und Oper!