Holger Noltze
Holger Noltze auf der IAMIC-Konferenz im Beethoven-Haus Bonn  
Foto:  Nathan Dreessen / miz

Holger Noltze diskutiert, wie die Verfügbarkeit musikalischer Kunst im Internet die Modi ästhetischer Erfahrung verändern und plädiert für eine Kuratierung digitaler Angebote.

Guten Morgen und danke für die ehrende Einladung, diesen hoffentlich noch produktiven Konferenztag mit-eröffnen zu dürfen, und dann noch an diesem Ort, der für mich nach wie vor ein Faszinosum ist, vor allem wenn man nebenan diesen winzigen Raum betritt, in dem mutmaßlich Beethoven auf die Welt kam, der Musik schuf, die alle adressiert hat und einen erheblichen Teil der Menschheit auch tatsächlich erreicht hat – aus so einem kleinen Gehäuse, verrückt!

Das Meta-Thema dieses Tages und also mein Thema heißt: „Musikleben an der Schnittstelle zwischen Tradition und Zukunft“, das ist weiträumig genug formuliert und ist ja nie verkehrt und jedenfalls insofern mein Thema, als ich mich als Musikjournalist und an der TU Dortmund zuständig für „Musik und Medien“ viel mit „Tradition“ (mit dem Fokus auf „klassische“ Musik) an dieser Schnittstelle zur Zukunft beschäftige. Also mit der Frage, was der Gegenstand „Beethoven“ bedeutet oder bedeuten könnte, wenn die Imperative der Tradition: etwa der Bildungsimperativ „muss man kennen“, nicht mehr gelten, jedenfalls hinterfragt werden, weil die Welt ja doch diverser ist, vielstimmiger in jeder Hinsicht. Meine Position in all diesen jetzt schon ziemlich brisanten und bestimmt künftig noch brisanteren Auseinandersetzungen um „Bewahrung“ und Neuformulierung, um das Haben-Wollen oder auch Weghaben-Wollen von etwa (dem in Anführungsstrichen hier symbolisch genanntem) „Beethoven“, meine Position wäre kurz gesagt die einer vermittlungskritischen Vermittlung: Beethoven nicht denen zu überlassen, die glauben, ihn zu besitzen, und an der Auflösung der Wagenburgen mitzuwirken, in denen sich nach meiner Wahrnehmung die „Konservativen“ vor einer dramatisch sich transformierenden Rest-Welt zu verschanzen versuchen. Das wird nicht gutgehen.

Über das auf den musikalischen Betrieb massiv wirkende Disruptiv der Pandemie wurde schon gesprochen, und in dem Moment, als die Hoffnung auf die Wiedergewinnung einer Art von Normalität wuchs, kam als fürchterlicherweise vielleicht noch gewaltigeres Disruptiv der Krieg dazu, das Wort von der Zeitenwende steht riesig im Raum, und „Normalität“ ist inzwischen nicht mehr eine Hoffnung, sondern eine ferne Sehnsuchtsfigur. Von der Idee eines Zurück-Zu sollten wir uns verabschieden.

Mein Thema im engeren Sinn ist die Transformationsdynamik, die schon vor Corona, vor der Ukrainekrise tief umwälzend wirksam war und bleibt. „Digitalisierung“ ist das Signalwort einer Umwälzung, die wir eine Revolution nennen. Mir scheint das Wort nicht zu groß gewählt, sondern unbedingt angemessen. Es gibt Gründe, anzunehmen, dass die Folgen der Digitalisierung noch wirksamer sind als etwa die der Industrialisierung. Diese Folgen sind komplex, wie die technischen Grundlagen komplex sind.

Mich interessiert ein spezieller Aspekt der Digitalisierung, nämlich: Was macht das Internet mit dem, was ich (vereinfacht und immer diskutierbar) den „guten Inhalt“ nennen möchte, musikalische Kunst, ästhetische Erfahrung, die differenzierend, inspirierend, emotionalisierend auf unsere Wahrnehmung wirkt, wenn Sie so wollen nochmal der In-Anführungsstrichen-„Beethoven“, wie verändern Streaming, Gleichzeitigkeit, Verfügbarkeit, Verlinkung usw. die Modi ästhetischer Erfahrung? Dass dies eine sehr spezielle Themenstellung ist, scheint nur so. Das größere Bild zeigt ein gleich ganz großes, denn es zielt auf die Frage, ob der bekannten Internet-Erfolgs-Logik des Katzenkinderbildes etwas entgegenzusetzen ist. (Muss sie erklärt werden? – Es geht um die Empirie, dass Bilder von süßen Katzenkindern mehr Chance auf Klick-Reichweiten haben als eine sehr gute Aufnahme von Beethovens a-Moll Quartett oder auch Jörg Widmanns „Jagd“ oder einem mutmaßlich ohrenöffnenden Versuchsaufbau von Rebecca Saunders oder Enno Poppe. Die Kätzchen sind einfach immer beliebter.)

Meine These, nach einem Vogelflug über die Sektoren des „guten Inhalts“, den ich zuletzt auf der Suche nach den Bedingungen ästhetischer Erfahrung im großen Strom der digitalen Revolution unternommen habe: Wir, denen es, an sehr verschiedenen Punkten des kulturproduzierenden und kulturverbreitenden und -vermittelnden Betriebs, um Musik, Kunst mit dem eben skizzierten Anspruch geht, „wir“ haben das Internet als Ort und Medium ästhetischer Erfahrung noch nicht verstanden. Es wird alles und massenhaft online gestellt, aber im Grunde sind wir »digital doof« und überlassen aus Überforderung, Bequemlichkeit und Ignoranz den Clickbait-Populisten und selbsternannten Web-Gurus das Feld, auf dem sich gerade entscheidet, was wir wo und wie in Zukunft zu sehen, hören, lesen bekommen. Auf jeden Fall Katzenkinder. Was noch?

Meine Kritik zielt auf einen womöglich absichtsvoll „doofen“ Umgang der „Kultur“ mit den Möglichkeiten der Digitalisierung, andererseits auf die nimmermüde Bereitschaft, sich auf vermeintliche Patentrezepte zu verlassen (Guru-Glaube, allmächtige Algorithmen und immer so weiter). Meine Hoffnung zielt auf die Chancen, die hier vielleicht für die Vermittlung und Rezeption komplexerer Gegenstände schlummern. Denn die Botschaft lautet positiv: Lasst uns genauer herausfinden, was das kann. Genauigkeit heißt: nicht technikeuphorisch zu verblöden, sondern en détail schauen, was die neuen technischen Möglichkeiten für die ästhetische Erfahrung bedeuten, aber auch für den Betrieb und seinen Markt.

Das Internet, Wurzelwerk und Allverknotungsstruktur der Digitalisierung, ist der gewaltigste, zugleich umfassendste Treiber von Wandel und Veränderung seit, sagen wir: der Erfindung der Dampfmaschine. Entschieden umfassender sogar. Es taktet unseren Alltag, formiert unsere Kommunikation, beruflich und privat. Es verändert alles und (annähernd) jeden. Medien. Ökonomie. Industrie. Bildung. Auch, schleichend, das Privatleben, das Zwischenmenschliche. Alles.

Angesichts dieser tatsächlich revolutionären Transformationsdynamik kann einem die Beharrlichkeit, mit der viele der großen Spieler der alten Welt an den real zerbröselnden Gewissheiten und zunehmend sinnlos erscheinenden Handlungs-Choreografien festhalten, schon bemerkenswert traumtänzerisch vorkommen. Vielleicht ist es mit der erwähnten Überforderung zu erklären: Man weiß es nicht anders, und wo der Veränderungsdruck die eigenen Fundamente erfasst, hält man sich ans Gewohnte, Gelernte, irgendwann einmal richtig Gewesene.

"Es fehlt oft an Budgets, sehr oft an technischem Verständnis, fast immer an Mut und Einfallsreichtum, die digitale Welt nicht nur als Bedrohung des Bestehenden wahrzunehmen, sondern als das, was sie auch ist oder sein könnte: eine Wunderkammer."
Autor
Holger Noltze

Ich frage nach der qualitativen Dimension dieser quantitativ bereits alles bis dahin Vorstellbare sprengenden Möglichkeiten. Ausgegangen werden soll von der Annahme, dass der Horizont dessen, was in den neuen Erfahrungsräumen des Digitalen möglich wäre, immer noch erst schemenhaft erkennbar ist. Das weltweite Netz kann, dies die Vermutung, so viel mehr, als uns auf den ersten und zweiten Blick geboten wird. Warum wir (noch) so kurzsichtig sind, lässt sich aus den zuvor skizzierten strukturellen Beobachtungen ableiten: Wir befinden uns immer noch in der digitalen Frühzeit. Und die alten Akteure auf den neuländischen Plattformen handeln unter den beschriebenen Druck- und Begrenzungsbedingungen: Es fehlt oft an Budgets, sehr oft an technischem Verständnis, fast immer an Mut und Einfallsreichtum, das Neue wirklich zuzulassen. Die digitale Welt nicht nur als Bedrohung des Bestehenden wahrzunehmen. Sondern als das, was sie auch ist oder sein könnte: eine Wunderkammer. Ich glaube, dass wir da das Beste noch nicht gesehen haben, und dass das Beste, was die Qualität und Ermöglichungsstruktur ästhetischer Erfahrung angeht, vielleicht gar nicht vor allem in den technischen Möglichkeiten der Zukunft liegt. Dass die Fantasien sich gerade an den Immersions-Träumen einer audiovisuellen Totalerfahrung etwa mitten im Orchester oder an den Fähigkeiten künstlicher Intelligenz entzünden, hat sicher auch mit der Aufmerksamkeitsrendite zu tun, die hier aktuell einzufahren ist. Beethovens »Zehnte«, um den großen Mann von Bonn hier aber auch zum letzten Mal anzuführen, aus den Skizzen mit großer Rechenleistung (und dann doch etwas Nachhilfe von heutigen Kollegen nicht der gleichen künstlerischen Potenz), Beethovens Zehnte hat mich gar nicht überzeugt, war aber ein „Hingucker“ und wird auf den digitalen Kanälen wie Magenta TV immer noch gehyped. Was für ein Blödsinn.

Bild
Picture: Keynote IAMIC22
Neben dem internationalen Publikum im Beethoven-Haus erreichte die Keynote Zuschauer*innen weltweit per Live-Stream.  
Foto:  Nathan Dreessen  /  miz

Lenken wir von den süßen Zukunftsträumen den Blick lieber auf die aktuellen Wirkungen der Digitalisierung. Sie wirkt ja überall: auf die Kreation, Produktion, Distribution und Kommunikation des musikalischen Betriebs. Sie erleichtert den internationalen Austausch, erweitert die Horizonte (auf die gegenläufigen Folgen der aktuellen Ausgrenzungstendenzen als Konsequenz des russischen Überfalls auf die Ukraine wird man noch schauen müssen), sie macht zugleich Rechte- und Lizenzfragen komplizierter. Streaming wird das analoge Liveerlebnis natürlich nicht ersetzen, sondern als Abbild, Dokumentation, Verstetigung des einmaligen Ereignisses und „zweite Präsenz“ Standard werden – technisch hochwertig und global sichtbar: aber was darf wo gezeigt werden? Wie weit geht das künstlerische Right of Disapproval, sich solcher Präsenz zu entziehen? Wie weit dürfen die Exklusivitätsansprüche der alten Majors an ihre Künstler gehen, wenn jeder Auftritt irgendwo gleich zu einer weltweiten Sichtbarkeit führt? Das Traditionslabel Deutsche Grammophon testet hier gerade an ihren „Exklusivkünstlern“ Grenzen aus, die diese sich hoffentlich nicht gefallen lassen werden: diesem Versuch, das alte Denken in Territorien und Herrschaftsräumen in die digital globalisierte Welt zu retten, wünsche ich von hier aus gern keinen Erfolg.

Was noch, wissen Sie schon: Für die CD als Trägermedium sieht die Zukunft nicht glorios aus, Audiostreamdienste machen annähernd alles überall verfügbar, aber zu einem Dumpingpreis von nichtmal zehn Euro pro Monat kein auf Dauer gestelltes Geschäftsmodell, davon können die Künstler:Innen nicht (Ausnahmen gibt es), aber auch die Streamingdienste und auch die Labels dahinter nicht existieren. Heißt: Der Wert von Musik muss neu taxiert werden, 9,99 für „alles“ reicht für keinen.

Auf die weitere Entwicklung der musikalischen Gratiskultur im Netz darf man gespannt sein. Was Videostreaming angeht, regiert der Hang zum Nullpreis, jedes Haus, das auf sich hält, streamt, jedes hofft auf Reichweite, und die Erkenntnis, dass wenn alles nichts kosten darf und der Markt des Gratis-Sichtbaren überschwemmt wird, das Folgen erstens für die Qualität der audiovisuellen Produkte, aber zweitens auch für die Reichweite hat: wenn man statt des theoretisch möglichen Millionenpublikums doch wieder nur 248 Zuschauer:Innen erreicht hat, und diese auch nur durchschnittlich dreieinhalb Minuten einer Mahlersymphonie zugeschaut haben.

Wie umgehen mit der Überfülle, ist die Frage, mit der ich diesen kleinen Rundflug zu früher Stunde enden möchte, und ich weiß, was alles noch hätte vorkommen müssen und nicht vorgekommen ist. Wie also umgehen mit dem Immerzuvielen, wie das Richtige finden, Exzellenz von Mittelmaß unterscheiden, wie der Allmacht der Algorithmen entgehen, die unsichtbar für uns wählen, was ihrer Logik entspricht, die eine Logik des Marketings ist? Ich glaube, dass Kuratierung eine Schlüsselkategorie der Zukunft werden wird, wichtiger vielleicht als der Content und seine Rechte-und Exklusivitäts-Kontexte. Eine plausible, auf Sachverstand gründende Auswahl dessen, was wert ist, ihm ein Weilchen Aufmerksamkeit zu schenken, auch die kompetente Zugänglichmachung, nicht im Sinne präzeptiver Didaktik, sondern im Sinne einfallsreicher Hinführung, Begleitung zum „guten Inhalt“ im Sinne eines freundlichen Companionship, Komplexität zuzulassen und klug niederschwellig sein, Partizipation ermöglichen und eine Feedbackkultur etablieren usw. Kuratierung als Kunst, zugleich als Instrument der Qualitätsbestimmung und nicht zuletzt als wesentliches Element des gate-keeping in den Märkten der Zukunft, nicht zuletzt auch als Perspektive eines zeitgemäßen Musikjournalismus – klugen Kurator:innen gehört, bin ich überzeugt, ein gutes Stück jener Zukunft, über die Sie ja gleich weiterdiskutieren werden.

Dafür viel Erfolg und Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Professor Holger Noltze hielt die Keynote auf dem öffentlichen Konferenztag der Jahrestagung der International Association of Music Information Centres (IAMIC) am 24. Mai 2022 im Kammermusiksaal des Beethoven-Hauses Bonn. Das Deutsche Musikinformationszentrum (miz) gibt das Redemanuskript ungekürzt wieder. Sämtliche darin geäußerte Standpunkte entsprechen ausschließlich denen des Autors.

Über den Autor

Holger Noltze ist Musikjournalist und Professor für Musik und Medien/Musikjournalismus an der Technischen Universität Dortmund.
Foto: Portrait Holger Noltze