"Das Schönste an meinem Beruf ist, dass es die Grenze zwischen beruflich und privat nicht gibt“, sagte Barbara Scheuch-Vötterle, die am 27. November ihren 70. Geburtstag feiert, einmal aus voller Überzeugung, und das hätte sie auch schon vor 45 Jahren gesagt, als sie 1972 ihr Jurastudium abbrach, um an der Seite ihres kranken Vaters Karl Vötterle als jüngstes der fünf Kinder in den Kasseler Bärenreiter-Verlag einzutreten. Als der Verlagsgründer drei Jahre später starb, übernahm sie die volle Verantwortung für einen Musikverlag, der aus kleinen Anfängen zu einem Weltunternehmen in Sachen Musik geworden war. Doch die bloße Verwaltung des Ererbten war die Sache der jungen Verlegerin nicht. Zusammen mit ihrem Mann, dem in Zürich tätigen Schweizer Theaterwissenschaftler Leonhard Scheuch, der 1976 mit in das Unternehmen eintrat und sehr bald die verkarsteten Strukturen erkannte, die sich nach 50-jähriger patriarchalischer Führung gebildet hatten, traf sie rasch die nötigen Entscheidungen, die das Profil des Unternehmens schärfen sollten: den Verzicht auf Veröffentlichungen und Bereiche, die nichts mit Musik zu tun hatten, die Schließung des unwirtschaftlich gewordenen technischen Betriebs, die konsequente Erweiterung des Programms in Bereiche, die Neuland für Bärenreiter waren. Dazu gehörten ab 1997 die Herausgabe der Sinfonien Ludwig van Beethovens, die Öffnung zur englischen, russischen, italienischen und besonders zur französischen Musik und als Fundament aller Anstrengungen die konsequente Orientierung am "Bärenreiter Urtext“. Das Fernziel, Musikern auf der ganzen Welt alle wichtigen Werke der Musikgeschichte in Urtext-Ausgaben anzubieten, rückt von Jahr zu Jahr näher.
Als Konstante behält die zeitgenössische Musik, wie fast seit den ersten Jahren der Verlagsgeschichte, auch heute ihren festen Platz in der Arbeit des Verlages. Bei der Pflege der lebenden Komponisten steht nicht Gewinnstreben im Vordergrund, sondern die Förderung einer Kunst, die es schwer hat im eventorientierten Musikbetrieb. "Wir sind Mäzene“, sagt Barbara Scheuch-Vötterle. Weltweit erfolgreiche Komponisten wie Manfred Trojahn, Beat Furrer, Charlotte Seither, Matthias Pintscher oder Miroslav Srnka stehen dafür.
Um die 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind heute für den Bärenreiter-Verlag und die anderen Unternehmen der Firmengruppe in Kassel, London und Prag tätig. Damit ist Bärenreiter der zweitgrößte deutsche Musikverlag. Die Bindung von Fachkompetenz an das Haus war den Verlegern immer ein großes Anliegen. Die Qualität der Notenausgaben, die zur Hälfte ins Ausland exportiert werden, gibt ihnen recht.
Hat sie Hobbys? Wenn die Arbeit im eigenen Unternehmen, das Reisen zu Aufführungen, das Pflegen bestehender und Knüpfen neuer Kontakte über Grenzen hinweg, den ganzen Lebensinhalt darstellen, braucht es so etwas nicht. Was nicht heißt, dass sich Barbara Scheuch-Vötterle, die mehrere hohe Auszeichnungen erhielt (darunter die Ehrenprofessur des Landes Hessen sowie die Ehrenmitgliedschaften der Gesellschaft für Musikforschung und des Deutschen Musikrats) nicht auch für andere Ziele engagiert. So ist sie seit 1998 im Vorstand der Kasseler Musiktage tätig. Besonders am Herzen liegt ihr die musikalische Bildung. Erst kürzlich hat sie sich für ein Musikprojekt mit Flüchtlingskindern in Kassel eingesetzt.
Und wenn es um die Lösung schwieriger Probleme geht, die gemeinsam geklärt werden müssen, pflegt sie zusagen: "Ich als Hausfrau und Mutter bin der Meinung, dass …“, und sie hat meistens damit recht. Die Mutter von zwei Söhnen und Großmutter von drei Enkeln ist eine hervorragende Köchin und eine begabte Gastgeberin, deren Haus immer für Komponisten, Autoren, Künstler und Freunde offen steht.
Mit 70 sind andere im Ruhestand, eine Lebensphase, der die Bärenreiter-Chefin keinen Reiz abgewinnen kann. Über 40 Jahre führte das Ehepaar gemeinsam das "Haus unterm Stern“. In den letzten Jahren haben sie bereits behutsam Aufgaben an ihren Sohn Clemens Scheuch übertragen, der seit 2011 Mitglied der Geschäftsleitung des Verlages ist. Für einen reibungslosen Übergang in die dritte Generation des Familienunternehmens, das 2023 seinen 100. Geburtstag feiern wird, ist also gesorgt.