Ein Konzertpublikum bewertet Musikdarbietungen erheblich besser, wenn es dem Interpreten nicht nur zuhören, sondern auch zusehen kann. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH). „Diese Tendenz ist genre-übergreifend beobachtbar und gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass das Musik-Erleben viele Sinne einbezieht und nicht als ausschließlicher Hörvorgang gesehen werden darf“, erläutert Professor Dr. Reinhard Kopiez, führender Musikpsychologe der HMTMH.
Bisher galt im Bereich der Interpretationsforschung (Performance-Forschung) die vorherrschende Meinung, dass die Beurteilung einer Musikdarbietung das Ergebnis einer vornehmlich auditiven Verarbeitung sei. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden die bisherigen Erkenntnisse über das Musik-Erleben erstmals durch Forschungen zur audio-visuellen Musikwahrnehmung in Frage gestellt. Diese Sichtweise hatte weitreichende Konsequenzen sowohl für den Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen als auch für den Instrumentalunterricht an Musik(hoch)schulen. In den 1980er Jahren begann die Forschung zur audio-visuellen Musikwahrnehmung und stellte die bisherigen Erkenntnisse auf das Musik-Erleben erstmals in Frage. Forschungsaktivitäten in diesem Bereich führten jedoch bis heute zu einem uneinheitlichen Bild davon, ob und wie stark der visuelle Eindruck einer Musikdarbietung das Urteil von Zuschauerinnen und Zuschauern beeinflusst.
Die Wissenschaftler Prof. Dr. Reinhard Kopiez und Friedrich Platz von der hannoverschen Musikhochschule konnten nun eindeutige Antworten finden. „Mithilfe einer Meta-Analyse konnten wir zum um ersten Mal zeigen, dass Musikdarbietungen in der Regel um eine Schulnote besser bewertet werden, wenn Menschen die Musizierenden nicht nur hören, sondern sie auch sehen“, fasst Kopiez die Ergebnisse zusammen.
Für die Analyse suchten Kopiez und Platz zunächst in internationalen Fachzeitschriften nach vergleichbaren Studien, in denen Bewertungsunterschiede zwischen akustischen und audio-visuellen Musikdarbietungen untersucht wurden. Als Bedingung musste die Tonspur zwischen beiden Präsentationsformen in der Studie konstant gehalten sein. Die Musikwissenschaftler reanalysierten die jeweiligen Studienergebnisse und führten die Daten von ca. 1.300 Probanden aus insgesamt 15 verwertbaren Studien vergleichend zusammen. Sie erhielten einen zuverlässigen Schätzwert, der die Stärke des durchschnittlichen Bewertungsunterschiedes zwischen den beiden Darbietungsformen angibt: Er beträgt 0,51 Standardabweichungen zu Gunsten der audio-visuellen Darbietung. Dies entspricht einer ganzen Stufe auf einer sechsstufigen Schulnotenskala.
Für die zukünftige audio-visuelle Musikforschung ist dieser Schätzwert von großer Bedeutung, da erst durch ihn eine genauere Experimentalplanung möglich ist. Für die Ausbildung von Musikerinnen und Musikern an Musikhochschulen bedeutet dieses Forschungsergebnis die Notwendigkeit eines bewussten Bühnenauftritts, der den Hör- und Sehsinn des Publikums einbeziehen sollte um zu überzeugen.
Die Musikwissenschaftler plädieren dafür, den Studierenden an Musikhochschulen das Erlernen professioneller Bühnenperformanz zu ermöglichen. Die Vermittlung dieser visuellen Performanztechniken in den meisten Curricula nicht verankert, sondern konzentriert sich auf die instrumentalspezifischen Spieltechniken und die Literaturerschließung.
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Quelle
http://www.hmtm-hannover.de