Seit 1992 sind die Thüringer Bachwochen ein Garant für hochwertige Konzerte der Alten Musik wie auch für genreüberschreitende Veranstaltungen, die eindrucksvoll zeigen, wie vielschichtig das Werk von Johann Sebastian Bach von Künstlerinnen und Künstlern interpretiert und aufgeführt wird. Im kommenden Jahr feiern die Thüringer Bachwochen nun ihr 30-jähriges Jubiläum und setzen nach zwei Jahren Ausnahmesituation wieder auf eine reguläre Saison mit 47 Konzerten in zwölf Thüringer Städten und Gemeinden. Zur Jubiläumssaison sind im Programm international renommierte Interpreten und ungewöhnliche Projekte zu finden. Zu den großen Namen in der 2022er Ausgabe gehören die Starpianisten Daniil Trifonov und Pierre-Laurent Aimard, die Sopranistin Nuria Rial, das Freiburger BarockConsort, der Cembalist Kristian Bezuidenhout sowie das Amsterdamer Orchester des 18. Jahrhunderts.
In einem programmatischen Schwerpunkt widmen sich die Thüringer Bachwochen einem weiteren Jubiläum: Vor 500 Jahren übersetzte Martin Luther das Neue Testament auf der Wartburg. Unter dem Titel „Die Welt übersetzen“ würdigt das Festival Luthers Vermittlungsleistung, die sich auch in den späteren Vertonungen Bachs wiederfindet, indem sie auf verschiedene Weise Bachs Werk in die Gegenwart überträgt. „Diesen Weg der Übersetzung von Bachs Musik beschreiten wir im kommenden Jahr auf sehr unterschiedliche Weise“, erklärt Festivalleiter Christoph Drescher. „So wird etwa Bachs Johannespassion szenisch zu erleben sein, wenn sie der Hong Konger Regisseur Patrick Chiu mit seinem Ensemble der SingFest Choral Academy Hong Kong und den Berliner Musikern der lautten compagney zur Eröffnung als theatralisches Werk auf die Bühne bringt.“
Bachs Matthäuspassion findet in einer Choreographie als tänzerisches Projekt eine weitere „Übersetzung“. Die renommierte Kamea Dance Company aus Israel zeigt mit „Matthäus-Passion-2727“ ihre polarisierende Auseinandersetzung mit diesem opus magnum Bachs – live begleitet von dem Barockorchester l’arte del mondo und dem Bonner Chor Vox Bona. Am Osterwochenende kehrt zudem das Berliner Ensemble Continuum um die Cembalistin Elina Albach nach Thüringen zurück und zeigt nach seiner vielbeachteten Johannespassion zu dritt nun mit einer Adaption der berühmten h-Moll-Messe als „Missa miniatura“ für 17 Musikerinnen und Musiker, wie man Bach auch heute noch zugleich vertraut und neu erfahren kann.
Der Aufgabe des Übersetzens im wörtlichen Sinne widmet sich das Ensemble Sing and Sign aus Leipzig. Die Musikerinnen um die Sopranistin Susanne Haupt übertragen Bachs Kantaten in Gebärdensprache und bringen so geistliche Musik barrierefrei zur Aufführung: Hörende und hörgeschädigte Interpreten treten gemeinsam auf, um Bach damit erstmals auch einem hörgeschädigten Publikum zugänglich zu machen.
Neue Klangwelten sind auch immer Teil des Festivals. Bach übersetzt heißt für die Bachwochen 2022 auch gänzlich neu komponiert. „Als erster Composer-in-Residence wird der New Yorker Pianist Uri Caine die Aufgabe übernehmen, binnen einer Woche eine neue Kantate zu schreiben und zur Premiere zu bringen“, so Christoph Drescher. „Dafür wird er in Eisenach mit dem Bachchor der Georgenkirche, der Gospel-Sängerin Barbara Walker und dem englischen Gambenquintett Fretwork arbeiten.“ Und auch der Erfurter Bachwochen-Vorstand und Domorganist Silvius von Kessel schreibt ein neues Werk, das am 30. April durch den Tölzer Knabenchor uraufgeführt wird. Er vertont Luthers Lieblings-Psalm 118 in einer Komposition für zwei Solocelli, Horn und Knabenchor.
Zu den prominenten Namen der 2022er Ausgabe gehören zweifelsohne Daniil Trifonov, einer der besten Pianisten der Gegenwart, der sein Bachwochen-Debüt gibt. Auch die katalanische Sopranistin Nuria Rial oder der südafrikanische Cembalist Kristian Bezuidenhout sind Stars ihres Metiers. Mit Pierre-Laurent Aimard, der in den großen Konzertsälen der Welt zuhause ist, gastiert eine Legende am Piano erneut im Bachland. Darüber hinaus gibt es ein Wiederhören mit dem Freiburger BarockConsort, das sich als kleinere Formation des Freiburger Barockorchesters einen herausragenden Ruf als Interpret für die Musik der Renaissance und des Frühbarocks erarbeitet hat. Ein Spezialist nicht nur für die Musik des Barock ist das Amsterdamer Orchester des 18. Jahrhunderts, das in Gotha Bachs „Matthäuspassion“ aufführen wird.
Ungewöhnlich wird die Jubiläumssaison der Thüringer Bachwochen enden. Von Johann Sebastian Bach ist uns kein Requiem überliefert – obwohl das Leiden und der Tod in seinem Leben so oft präsent waren. Unter Verwendung ausgewählter Kantatensätze Bachs haben die Sängerin Julia Sophie Wagner und der Dirigent Jakob Lehmann ein Pasticcio-Requiem zusammengestellt, für das der Leipziger Lyriker Thomas Kunst Texte geschrieben hat. „Et Lux“ wird am 1. Mai in Weimar durch das Berliner Ensemble Eroica uraufgeführt.
Traditionell suchen die Thüringer Bachwochen nach neuen Orten, die den Konzerten des Festivals einen besonderen Rahmen verleihen. So werden auch 2022 zwei neue Räume zu erleben sein, die diesmal jedoch nicht aus der industriellen Architektur zweckentfremdet werden, sondern Bach ganz direkt zuzuschreiben sind: An Bachs Geburtstag, am 21. März, präsentiert Cantus Thuringia Werke der Bach-Familie in der Erfurter Kaufmannskirche, in der Bachs Eltern 1668 getraut wurden. Nach umfassender Sanierung wird die Kirche künftig als Kultur- und Konzertort weit stärker in das Bewusstsein der Bach-Community rücken – das Konzert des Weimarer Ensembles bildet dafür den Auftakt einer Festwoche.
„Mit zweijähriger Verspätung wird das Festival in Weimar außerdem endlich die virtuelle Auferstehung eines wahren Bach-Sehnsuchtsortes vorstellen“, so Christoph Drescher. „Als Virtual Reality-Rekonstruktion kann man während des Festivals die ehemalige Weimarer Schlosskapelle, die Himmelsburg, erstmals wieder betreten, nachdem sie 1774 beim großen Weimarer Schlossbrand zerstört worden war.“ Für diesen außergewöhnlichen Sakralraum mit einer hohen Orgelempore hatte Bach zahlreiche seiner frühen Werke komponiert. Nach der Premiere in Weimar wird die „Himmelsburg“ auf Reisen gehen und unter anderem bei den Bach-Festivals in Leipzig, Schaffhausen und Utrecht zu sehen sein.
Alle Veranstaltungen des Festivals sind nach aktuellem Stand der Pandemie mit einer „2G“-Regelung geplant. Die Konzerte stehen damit nur geimpften oder genesenen Besuchern offen, Ausnahmen gibt es selbstverständlich etwa für Kinder oder jene Musikfreunde, für die eine Impfung aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich ist. Die strenge Regelung ermöglicht dem Festival die Rückkehr zu einer regulären Besetzung von Kirchen und Konzertsälen ohne Distanzgebot und reduzierte Kapazitäten – und auch einen sofortigen Vorverkaufsstart.
Noch mit einem Fragezeichen versehen sind die Veranstaltungen der regionalen Bachpflege, die stärker von der Lage der Pandemie abhängig sind. Dies betrifft die „Lange Nacht der Hausmusik“, ebenso aber auch einige Passionsaufführungen mit groß besetzten Chören, für die eine Probenmöglichkeit über die nächsten Monate gewährleistet sein muss. Das „Prinzip Hoffnung“ gilt schließlich auch noch für den Bach Store des New Yorker Pianisten Evan Shinners, der bereits 2020 für zwei Wochen einen leerstehendes Ladengeschäft in der Erfurter Innenstadt ganztägig mit Bach bespielen wollte. An dem Projekt wird nun für den März gearbeitet, darauf setzend, dass dann auch spontane Besuchergruppen in kleineren Räumen gemeinsam Musik erleben dürfen.