Eine kürzlich veröffentlichte Studie von Dr. Anna Wolf aus der Arbeitsgruppe um HMTMH-Professor Reinhard Kopiez zeigt, dass bei der Bewertung der musikalischen Qualität eine auf Grundlage von zehn Individual-Interpretationen von Robert Schumanns Klavierstück "Träumerei“ erstellte Durchschnittsversion am besten bewertet wird. Dieses Ergebnis gilt kulturell übergreifend für deutsche und taiwanesische Hörerinnen und Hörer.

Aus der Forschung zur Attraktivität von Gesichtern ist bereits seit den 1990er Jahren bekannt, dass mittels Computer gemittelte Gesichter gegenüber Individualgesichtern als attraktiver bewertet werden. Der amerikanische Musikpsychologe Bruno Repp übertrug 1997 diesen Ansatz auf die Kunst der musikalischen Interpretation und veröffentlichte eine Studie, in der Hörerinnen und Hörer zehn Individualinterpretationen von Schumanns Klavierstück Träumerei (aus den "Kinderszenen“ op. 15) im Vergleich zu einer computertechnisch gemittelten elften Version ästhetisch beurteilten. Die Durchschnittsversion wurde als genauso gut wie die beste Individualinterpretation bewertet. Repp erklärte diesen Effekt mit der Minimal-Distance-Hypothese: Die gemittelte Version zeichnet sich demnach durch die geringste Entfernung von unserer Idealvorstellung einer Realisation aus und wird deshalb bevorzugt. Die besten Eigenschaften der Individualversionen vereinigen sich, während die negativen Merkmale nivelliert werden. Vor dem Hintergrund der sogenannten "Replikationskrise“ der Psychologie bleibt jedoch die Frage, ob dies ein stabiles und möglicherweise sogar kulturübergreifend gültiges Ergebnis ist.

In einer Online-Replikationsstudie und unter Verwendung der originalen MIDI-Dateien von Repp beurteilten 205 Hörerinnen und Hörer (davon 84 aus Deutschland und 121 aus Taiwan) mit einer Vorliebe für klassische Musik und durchschnittlich 8,4 Jahren Instrumentalunterricht im randomisierten Blindtest vier Aufnahmen von Schumanns Träumerei (drei ausgewählte Individual-Interpretationen und eine technisch gemittelte Durchschnittsversion) im Hinblick auf Merkmale wie musikalischer Ausdruck, Tempo, Dynamik oder Gesamtqualität auf einer mehrstufigen Skala.

In der statistischen Analyse setzte sich noch deutlicher als bei Repp die Durchschnittsversion gegenüber allen Individual-Interpretationen durch (mittlere bis große Effektgröße). Das Urteilsverhalten taiwanesischer Hörerinnen und Hörer unterschied sich dabei nicht bedeutsam von den deutschen Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmern.

Das Forschungsteam schlussfolgert, dass die Kunst der musikalischen Interpretation keine Tätigkeit mit unbegrenzter Freiheit ist, sondern gerade beim Standardrepertoire durch lange Aufführungstraditionen vermutlich Vorstellungen einer idealtypischen Realisation gebildet werden. Die musikalische Aufführungspraxis ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Interpretationskultur: Ein begrenztes Repertoire wird in Konzerten immer wieder neu interpretiert; die künstlerische Individualität ist ein wesentliches Ziel der Ausbildung von Musikerinnen und Musikern. Angenehme prototypische Durchschnittsversion und individuelle, interessante Version stehen einander gegenüber. Diese beiden gegensätzlichen Kräfte halten die klassische Musikkultur bis heute lebendig und Individualisten wie der kanadische Pianist Glenn Gould werden auch in Zukunft ihren Platz in der Musikkultur finden.

Die Studie wurde in der Zeitschrift Music Perception veröffentlicht unter dem Titel

Tendency towards the average? The aesthetic evaluation of a quantitatively average music performance: A successful replication of Repp’s (1997) study.
(https://doi.org/10.1525/MP.2018.36.1.98)

Weitere Informationen
Prof. Dr. Reinhard Kopiez
Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover
Musikwissenschaftliches Institut
Telefon: 0511 3100-7608
E-Mail: reinhard.kopiez@hmtm-hannover.de
Web: http://www.hml.hmtm-hannover.de