In einem Offenen Brief des Nationaltheaters Mannheim vom 11. Juni 2014 an Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Baden-Württemberg fordert der Schauspielintendant Burkhard C. Kosminski, eine neue Vision für die Zukunft von Kultur und Bildung zu entwickeln. Kultur dürfe nicht nur über Subventionen definiert und ausschließlich ökonomisch diskutiert werden. Kosminski appelliert daher, eine neue Wertedebatte zu führen und die Förderstruktur von Bund und Ländern neu zu diskutieren. Der Offene Brief im Wortlaut:
"Sehr geehrte Frau Bundesministerin Wanka,
sehr geehrte Frau Staatsministerin Grütters,
sehr geehrte Frau Ministerin Bauer,
sehr geehrter Herr Minister Stoch,
das Nationaltheater Mannheim wurde 1839 von einem Hoftheater in die städtische Trägerschaft überführt. Es ist heute das älteste kommunale Theater der Welt. Das Nationaltheater war in diesen 175 Jahren immer ein Zentrum der Öffentlichkeit und Ort des Austauschs unter Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, vor allem aber war es Ausdruck selbstbestimmter Bürgerlichkeit und selbstbestimmten Lebens. Die Sorge darüber, dass Kultur und Bildung in absehbarer Zukunft diesen Stellenwert in unserer Gesellschaft verlieren, veranlasst mich Ihnen diesen Offenen Brief zu schreiben. Ganz herzlich möchte ich Sie alle für den Herbst 2014 nach Mannheim einladen, um darüber nachzudenken, ob das bisherige Modell Kultur und Bildung von einander zu trennen, noch zeitgemäß ist, oder ob es nicht notwendig ist, gemeinsam eine neue Vision für die Zukunft zu entwickeln.
Die Kultur erlebt einen Bedeutungsschwund in erschreckendem Ausmaß; die öffentlichen Diskussionen sind von Fatalismus geprägt; die Demokratie scheint auf diese Herausforderungen nur schleppend zu reagieren. Die Schuldenbremse, die es Bund und Ländern zwingend vorschreibt, von 2020 an keine Schulden mehr zu machen, wird die fatalen Konsequenzen der jetzigen Entwicklung schlagend deutlich machen: Es gibt keine Ziele mehr jenseits des Sparzwangs. Es gibt keine verbindenden Werte jenseits der Ökonomie. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder von Schulden erdrückt werden, ich will aber auch nicht, dass sie in einer orientierungs- und wertlosen Welt aufwachsen müssen. Deshalb halte ich es für eine gute Idee, den bislang für andere – und weitgehend erfüllte – Zwecke genutzten Solidaritätszuschlag der deutschen Steuerzahler umzuwidmen und zukünftig für Kultur und Bildung zu verwenden.
Warum dieser dramatische Appell? Die Situation ist nicht nur für viele Theater lebensbedrohlich. Laut Schuldenbremse muss der Bund sein strukturelles Defizit bis 2016 zurückführen. Die Länder dürfen ab 2020 keine Schulden mehr machen. Es ist schon heute absehbar, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse für die Kultur einen radikalen Kahlschlag bedeuten wird. Wenn die Schuldenbremse greift, ist zu befürchten, dass ein Großteil der deutschen Stadttheater und damit ein großer Teil der Kultur von der Landkarte verschwinden wird, denn wo sonst könnten die Kommunen streichen als bei den „freiwilligen Ausgaben“ für Kultur. Für die schon heute unterfinanzierten Städte droht eine Ungleichheit nicht nur ökonomisch sondern auch kulturell. Schon jetzt findet innerhalb der kulturellen Eigenbetriebe der Kommunen, wenn es zu Tariferhöhungen kommt, ein brutaler Verteilungskampf statt. Da viele Kommunen hier nicht wie in allen anderen städtischen Bereichen Tarifsteigerungen ausgleichen, stehen viele Theater seit Jahren unter einer dauernden Sparkuratel. Wohl in keiner anderen öffentlichen Institution wurde so viel gespart wie in den Theatern.
Ich frage mich, ob es zulässig ist, von Zuschüssen zu sprechen – Universitäten und Krankenhäuser bekommen ja auch keine Zuschüsse, sondern sind gesetzlich vorgeschriebene Grundversorgung.
Auch Kultur und Bildung sind elementare Bestandteile einer Gesellschaft – wenn dieser Begriff „Gesellschaft“ denn noch eine Bedeutung hat. Was passiert, wenn das nicht der Fall ist, kann man in vielen europäischen Ländern sehen. In Griechenland und in Italien wurden zahlreiche Theater und andere Kultureinrichtungen finanziell zugrunde gerichtet. Worum es – auch im größeren Zusammenhang – geht, zeigt sich am altehrwürdigen Teatro Valle in Rom. Ähnlich wie das Nationaltheater Mannheim war das Valle im Jahr 1822 eines der ersten Theater Europas, das Vorstellungen für die generelle Öffentlichkeit anbot. Dieses Theater, in dem einst Mozart, Rossini und später Pirandello arbeiteten, wurde im Juni 2011 von Schauspielern, Theaterangehörigen aber auch anderen Bürgern besetzt, nachdem die kommunale Politik es an private Bieter verhökern wollte. Die Besetzung fand nur Tage nach einem öffentlichen Referendum in Italien statt, bei dem über 95% der Wähler dafür gestimmt hatten, Wasser als „bene comune“, als Gemeingut zu sehen und die kommerzielle Privatisierung zu verbieten. Die Besetzer des Teatro Valle verlangten, dass Kultur wie Wasser auch ein Gemeingut ist, das gesetzlich garantiert werden soll. Mit der Unterstützung namhafter Anwälte schaffte es das Teatro Valle tatsächlich vor Gericht, seinen Status als Gemeingut zu verteidigen – und die Besetzung zu legalisieren. Wollen wir solche Auseinandersetzungen schon bald auch in Deutschland?
Es macht mich traurig und verzweifelt, dass Kultur heute nur über Subventionen definiert und ausschließlich ökonomisch diskutiert wird. Ich wünsche mir, gemeinsam mit Ihnen eine neue Wertedebatte zu führen, jenseits der zynischen Finanz- und Rentabilitätsdiskussion! Warum sollten wir Angst haben vor einer solchen Auseinandersetzung? Warum können wir die Diskussion, wie wir selbst und unsere Kinder leben sollen und wollen, nicht offen führen?
Zeitgleich mit dem Theatersterben erleben wir eine dramatische Krise der Printmedien. Das Zeitungssterben droht viel umfassender zu werden, als wir uns im Moment noch vormachen. Laut der Bundesagentur für Arbeit gab es in den vergangenen Jahren die größte Entlassungswelle in der Presse seit Kriegsende. Millionenverluste selbst bei den überregionalen Leitmedien haben zu Massenentlassungen, Einstellungsstopps oder zur Insolvenz wie bei der Frankfurter Rundschau geführt.
Theater, Kunst und Zeitung sind Refugien kritischer Selbstreflexion, ohne die es keine Meinungs- und Willensbildung geben kann, ohne die die Demokratie selbst ihren Wert verliert. Es macht mir Angst, dass gleichzeitig Theater und Zeitungen in dieser Weise bedroht sind. Wo werden wir künftig unsere Meinung sagen dürfen?
Wir brauchen gemeinsame Werte, die in jeder Stadt offen und öffentlich diskutiert werden sollten. Solche Streiträume sind gelebte Demokratie und verhindern radikale Strömungen, Intoleranz und rechtsextreme Tendenzen. Wenn wir es mit Demokratie ernst meinen, dann muss etwas geschehen.
Ich wünsche mir, dass in dieser besorgniserregenden Situation die Politik ihrer Verantwortung gerecht wird. Wie soll die Welt aussehen, in der unsere Kinder zu Erwachsenen werden? Wie wollen wir alle in Zukunft leben? Die Fragen sind einfach, aber man muss sie stellen. Es geht nicht um komplizierte Sachverhalte, es geht um Haltung. Es geht darum, dass wir alle gemeinsam, aber auch Sie als Politiker im Besonderen, diese Verantwortung übernehmen.
In einer Wertedebatte sind Kultur und Bildung nicht länger von einander zu trennen. Der Rückzug der Schulen in den 80er Jahren aus dem musischen und kulturellen Fächerkanon schlägt jetzt als kulturelles Defizit in diesen Generationen zurück. Die immense Bedeutung der kulturellen Bildung für die persönliche Entwicklung zeigt die Berliner Langzeitstudie von Hans-Günter Bastian (2000). Föderalistische Bildungspolitik muss sich, wenn von kultureller Bildung gesprochen wird, neu aufstellen. Die Förderstruktur von Bund und Land muss neu diskutiert werden.
Ich halte es für einen guten Vorschlag, in dieser dramatischen Situation den Solidaritätszuschlag umzuwidmen und zukünftig für Kultur und Bildung zu verwenden. Mit der Nutzung dieser Abgabe für Kultur- und Bildungszwecke kann die kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft erhalten werden und könnten auch die drängendsten bildungspolitischen Aufgaben erfüllt werden.
Und warum denken wir nicht auch darüber nach, ob der Rundfunkbeitrag auch den Printmedien zu gute kommen könnte? Diese Steuer sollte kritischem Journalismus und der Medienvielfalt nutzen und nicht nur den Sendeanstalten und ihren Rentenempfängern.
Ich fordere außerdem gemeinsam mit vielen anderen die Vertreter der Bundesregierung auf, alles dafür zu tun, damit die Kultur aus dem derzeit diskutierten Freihandelsabkommen mit den USA herausgelöst wird. Kultur ist keine Handelsware.
Ich bitte Sie als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Baden-Württemberg diese Debatte gemeinsam mit uns zu führen und lade Sie dazu ganz herzlich nach Mannheim ein, wo wir im Herbst das 175-jährige Jubiläum unseres Nationaltheaters in kommunaler Trägerschaft und damit ältestem kommunalen Theater der Welt feiern. Ich möchte gern gemeinsam mit Ihnen eine Vision zur Sicherung der Kulturnation Deutschland entwickeln und dieses Signal als Botschaft in die deutsche Kulturlandschaft senden.
Mit freundlichen Grüßen
Burkhard C. Kosminski
Intendant Schauspiel Nationaltheater Mannheim"
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