Die Komische Oper Berlin ist Opernhaus des Jahres. Das ergab die diesjährige Umfrage der Zeitschrift «Opernwelt»; befragt wurden 50 unabhängige Musikkritiker in Europa und den USA. Damit hat die Komische Oper zum zweiten Mal nach 2007 und gleich mit der ersten Spielzeit des neuen Intendanten Barrie Kosky den Titel «Opernhaus des Jahres» erlangt. Vor allem «Die Zauberflöte» in der Ausstattung des Film-Animationsteams «1927» hat viele Kritiker begeistert. Das Kino-Arrangement mit projizierten Bildern im Stil alter Cartoon-Geschichten und mit Live-Akteuren wurde zum Bühnenbild des Jahres gewählt. Eine Aufführung, die für den neuen Geist des Hauses steht: temporeich, spielerisch, unterhaltsam. Der ebenfalls in mehreren Kategorien genannte Monteverdi-Zyklus bestätigt diese Richtung ebenso wie Paul Abrahams «Ball im Savoy», erstmals wieder als große Revue vorgeführt. Auf dem zweiten Platz liegt das Nationaltheater in Mannheim, wo Intendant Klaus-Peter Kehr unter anderem mit Achim Freyers magischem «Ring»-Zyklus und der ersten kompletten Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs Dostojewski-Oper «Der Idiot» das musiktheatralische Repertoire neu befragt und erweitert. Nachdenklich, beharrlich, ohne viel Aufhebens. Zwei Wege, höchst erfolgreich Musiktheater zu denken und zu machen. Und: Starke Teams, hier wie dort.

Die Aufführung des Jahres hat die Regisseurin des Jahres inszeniert. Tatjana Gürbacas «Parsifal» an der Vlaamse Opera in Antwerpen/Gent besticht durch beharrliche Konzentration auf die gedankliche Substanz des Stücks, was die Musik engstens einbezieht (nicht zufällig wurde auch Dirigent Eliahu Inbal nominiert). Überzeugt hat Gürbaca in der vergangenen Saison auch bei «Rigoletto» in Zürich und «Macbeth» in Mainz: hellhöriges Theater, das vieles weglässt, auf wenige optische Zeichen setzt, aus diesen aber eine überraschende Vielfalt gewinnt.

Die Wiederentdeckung des Jahres gelang dem Theater Chemnitz: Für (Ex-)Intendant Bernhard Helmich und GMD Frank Beermann war die Urfassung von Giacomo Meyerbeers «L’Africaine» ein Herzensanliegen. Unter dem von Meyerbeer ursprünglich vorgesehenen Titel «Vasco de Gama» war ein überraschend neues Stück zu erleben: Meyerbeers Klangfarbenzauber in seiner Fragilität und Progressivität und das ganze Werk in seinen originalen, endlich nachvollziehbaren Proportionen, famos realisiert vom Orchester und Ensemble des Hauses. Auch hier eine starke Gemeinschaftsarbeit.

Die Ergebnisse in der Rubrik Uraufführung des Jahres sprechen gleichfalls für diese Tendenz: George Benjamins «Written on Skin», erstmals in Aix-en-Provence vorgestellt und dann europaweit auf Tour, hat nicht nur als Stück begeistert, sondern auch durch die Geschlossenheit der Aufführung (Inszenierung: Katie Mitchell) und eine herausragende Besetzung. So wurde Barbara Hannigan unter anderem für ihre Verkörperung der Agnès zur Sängerin des Jahres gewählt: eine Sopranistin, die ihre Stimme als Teil des Körpers auslebt und sich keine Grenzen setzt.

Und noch einmal gewinnt das Team: An der Deutschen Oper Berlin brachte der neue Intendant Dietmar Schwarz zum Spielzeitauftakt Helmut Lachenmanns «Mädchen mit den Schwefelhölzern». Ein Kraftakt, der glückte. Dirigent Lothar Zagrosek wurde zum Dirigenten des Jahres gewählt. Ein Plädoyer nicht zuletzt für den Chor und das Orchester der Deutschen Oper.

Diana Haller, die Nachwuchssängerin des Jahres kommt von der Staatsoper Stuttgart – einem Haus, das unter Jossi Wieler und Sergio Morabito Teamgeist in den Mittelpunkt aller Bemühungen stellt. Die aus Kroatien stammende Mezzosopranistin ist seit der Spielzeit 2010/11 Ensemblemitglied in Stuttgart. Zum Nachwuchs gehört im Grunde auch (noch) die 1979 in Koblenz geborene Kostümbildnerin Victoria Behr. Sie wurde sowohl für ihre Kostüme für «Frau Luna» an der Berliner Volksbühne als auch für Peter Eötvös’ «Drei Schwestern» in Zürich nominiert und ist damit Kostümbildnerin des Jahres.

Orchester des Jahres ist die Staatskapelle Dresden, deren künstlerische Ehe mit Christian Thielemann somit vielversprechend begann. Der Titel Chor des Jahres geht in die Schweiz: Vor allem für seine (szenische) Präsenz in Brittens «War Requiem» wurde der Chor des Theaters Basel gewählt (Dirigent: Gabriel Feltz, Inszenierung: Calixto Bieito).

Das Buch des Jahres schrieb Holger Noltze. Der Journalist und Hochschullehrer hat, ausgehend vom Phänomen des Liebestodes, über Verdi und Wagner nachgedacht und die Brücke von deren Ästhetiken zum heutigen Hörer und Zuschauer geschlagen (Verlag Hoffmann und Campe). Für die CD des Jahres sorgt Cecilia Bartoli als Bellinis Norma in der Gesamtaufnahme unter Giovanni Antonini (Decca).

Worüber haben sich die befragten 50 Kritiker am meisten geärgert? Vor allem über den fahrlässigen Umgang mit NS-Symbolen auf Opernbühnen. Zunehmend tauchen wieder Braunhemden, Hakenkreuzbinden und Gaskammern in Inszenierungen auf. Meist geht die Ausstellung des Bösen auf der Opernbühne jedoch schief und wird zur Banalität des Blöden. Dieses Phänomen ist vielen als Ärgernis des Jahres aufgestoßen. Exemplarisch in Burkhard C. Kosminskis «Tannhäuser»-Inszenierung in Düsseldorf – erst von den Verantwortlichen gebilligt und umgesetzt, nach Publikumsprotesten dann aber eiligst entsorgt.

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