In den Bibliotheks- und Archivräumen der Gemeindehäuser hat man schnell das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben: Dr. Irina Lucke-Kaminiarz und Prof. Dr. Detlef Altenburg von der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar statteten am Donnerstag, 13. April, den Kirchgemeinden in Ichtershausen, Gräfenroda, Thörey und Eischleben einen Besuch ab. Das Ziel der Archivleiterin und des Institutsleiters der Musikwissenschaftler war es, im Verborgenen schlummernde Schätze – vom Verfall bedrohte historische Thüringer Notenhandschriften aus so genannten Adjuvantenarchiven – für die Nachwelt zu bergen und zu bewahren.

Seit dem Abschluss eines Rahmenvertrages zwischen der Evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen und der Hochschule für Musik im Jahre 2002 ist es somit gelungen, zahlreiche wertvolle Notenbestände aus Archiven kleiner Kirchgemeinden für die Erhaltung, Erfassung, Erforschung und Wiederaufführung in die sichere Verwahrung des Hochschularchivs / Thüringischen Landesmusikarchivs zu überführen. Dort können die von Tintenfraß, Schimmelpilzen und Feuchtigkeit bedrohten Handschriften nach und nach restauriert, digitalisiert, katalogisiert und der Forschung sowie Aufführungspraxis zugänglich gemacht werden.

„Die Noten können in einem Spezialarchiv für Musik besser aufbewahrt werden als das hier möglich ist“, sagte Pfarrer Michael Ehrlichmann vom Pfarramt Ichtershausen bei der Unterzeichnung des so genannten Depositalvertrages, der eine Überführung der Handschriften ins Hochschularchiv ermöglicht, sie aber im Besitz der Kirchengemeinde belässt. Ebenfalls erleichtert, dass ihre Schätze nun in guten Händen sind, zeigten sich die ehemaligen Pfarrer Peter Bähring in Eischleben und Richard Herklotz in Thörey. Sorgsam verpackte Archiv-Mitarbeiter Thomas Wiegner in jeder Gemeinde die fragil wirkenden Handschriften von Kantaten, Motetten oder Messen in alterungsbeständige und säurefreie Kartons.

Auf die Spur gebracht worden waren Dr. Lucke-Kaminiarz und Prof. Altenburg von Kantor Peter Harder aus Gräfenroda, der bei Recherchen über seinen 1705 geborenen prominenten Vorgänger im Amt, Johann Peter Kellner, auf die historischen Notenbestände stieß. „Selbst wenn nur einzelne Stimmen einer Kantate erhalten sind“, sagt Prof. Detlef Altenburg, „sind Rückschlüsse auf die Zusammensetzung des Gesangsrepertoires der damaligen Zeit möglich.“ Und daraus lässt sich ein Bild des Thüringer Musiklebens des 17. und 18. Jahrhunderts rekonstruieren, das ungewöhnlich reichhaltig gewesen sein muss.

„Das Notenlesen und das Singen und Spielen vom Blatt war damals selbstverständlich“, merkt Frau Dr. Lucke-Kaminiarz an. Es war der Stolz der Thüringer Dörfer, gemäß den Forderungen Martin Luthers eine umfangreiche Kirchenmusik zum Lobpreis Gottes zu unterhalten. Selbst Notenhandschriften des italienischen Komponisten Andrea Gabrieli aus dem 17. Jahrhundert gelangten auf verschlungenen Wegen über die Alpen in den Besitz der Gemeinden und wurden dort von Adjuvantenchören aufgeführt, in denen musikalisch versierte Bauern und Handwerker unter der Leitung des Kantors sangen.

Die letzte Station der „Schatzsuche“ war am Donnerstag das Gemeindehaus der St. Laurentius-Kirche in Gräfenroda, wo der sichtlich erfreute Pfarrer Bernhard Schilling mehrere Kisten voller Notenhandschriften übergeben konnte. Als Zeugnisse einer vergangenen, mit den Worten Prof. Altenburgs „deutschlandweit einmaligen Thüringer Musikkultur“ fanden sich darin u. a. neben Handschriften von Johann Peter Kellner, Anton Schweitzer und Ernst Wilhelm Wolff auch eine Klavierschule, ein Notenarchiv sowie eine für die Forschung wertvolle originale Chorordnung von 1846: Aus der geht hervor, dass keineswegs jeder singen durfte, der wollte… Der Anspruch der Adjuvantenchöre an ihre Mitglieder war hoch – und der Gemeindegesang damit von einer bis heute beispiellosen Qualität.

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