Am 19. Dezember 2015 verstarb Kurt Masur in den USA. Das Gewandhausorchester und das Gewandhaus zu Leipzig trauern um den ehemaligen Gewandhauskapellmeister (1970-1996), Ehrenmitglied und Ehrendirigenten des Gewandhausorchesters.

Das erste Konzert am Pult des Gewandhausorchesters dirigierte der am 18. Juli 1927 im Niederschlesischen Brieg geborene Musiker im Jahr 1959. Kurt Masur studierte von 1946-1948 an der Leipziger Musikhochschule. Am 24. August 1970 wurde er in das Amt des Gewandhauskapellmeisters eingeführt und dirigierte am 9. September sein erstes Konzert im neuen Amt. Die Aufgabe, die er an seine neue Position stellte, formulierte er in seiner Antrittsrede: „Bewahren der großen Tradition des Orchesters und zugleich Belebung eines Kreislaufs im Musikleben der Stadt Leipzig, der alle Schichten der Bevölkerung erfasst.“

„Die Musikwelt verliert einen bedeutenden Dirigenten und eine herausragende Musikerpersönlichkeit. Ich bin dankbar, dass Kurt Masur das Gewandhausorchester während seiner Amtszeit musikalisch so nachhaltig geprägt hat.“ Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly

„Kurt Masur hat die Geschichte des Gewandhausorchesters im 20. Jahrhundert entscheidend beeinflusst. Mehrere Generationen von Musikern in Leipzig und auf der ganzen Welt hat er bis heute geprägt. Musik sah er immer als unmittelbaren existentiellen Ausdruck des Menschlichen. Dabei war es ihm am wichtigsten, unabhängig von Form und Gestalt einen emotionalen Inhalt zu transportieren. Damit machte er die Musik fühl- und begreifbar und bewegte die Menschen wie kaum ein anderer. Er wird uns immer als charismatischer Mensch und Musiker in Erinnerung bleiben.“ Tobias Haupt, Vorsitzender des Orchestervorstands

Die Amtszeit beim Gewandhausorchester begann in jener Zeit, als das Orchester in einer Interimsspielstätte konzertierte, in der Kongresshalle am Zoo. Im Sommer 1974 schreibt Masur zum ersten Mal an das Zentralkomitee der SED bezüglich eines Neuen Gewandhauses, das er gerne 1981 eröffnen würde, nämlich anlässlich des 200. Jahrestages der Eröffnung des ersten Gewandhaus-Saales.

Künstlerisch erregt Masur Mitte der Siebziger Jahre überregionales Aufsehen, als er, weltweit erstmalig, das sinfonische Gesamtwerk Dmitri Schostakowitschs in einem Zyklus von 20 Konzerten ins Programm nimmt. Der Zyklus erstreckt sich über zwei Spielzeiten (1976-1978). Ein Jahr später beginnen die Bauarbeiten für das Neue Gewandhaus am Augustusplatz, das am 8., 9. Und 10. Oktober 1981 mit Festkonzerten eröffnet wird und Masur zum siebten Ehrenmitglied des Orchesters ernannt wird.

„Wir sind sehr traurig über den Tod von Kurt Masur, denken an seine Familie und wünschen ihr Gottes Segen für diese schwere Zeit. Kurt Masur ist eine außerordentliche Musikerpersönlichkeit sowie ein großartiger Humanist gewesen. Er hat unser Gewandhausorchester und das Gewandhaus geprägt wie kein Zweiter. Wir sind ihm alle zu tiefstem Dank verpflichtet. In seiner Zeit als Gewandhauskapellmeister hat er Maßstäbe im Repertoire, insbesondere der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys, aber auch mit dem Bau des 3. Gewandhauses, gesetzt. Weit über dieses Wirken hinaus war er Unterstützer und Förderer für viele Musiker und Mitarbeiter des Gewandhauses. Die Erinnerung an Kurt Masur und sein Schaffen wird uns stets begleiten.“ Gewandhausdirektor Prof. Andreas Schulz

Am 5. Juni 1985 dirigiert Kurt Masur in Wien sein 500. Auslandskonzert mit dem Gewandhausorchester. Sein auf den vielen Auslandsgastspielen erworbener internationaler Bekanntheitsgrad, und seine Idee von einer Musik, die humanistische Ideale transportiere, verliehen Masur eine außerordentliche Glaubwürdigkeit bei seinem Einsatz dafür, dass die politischen Umbrüche im Herbst 1989 friedlich vonstatten gehen. Er erkennt die Verantwortung, die mit seiner Position einhergeht und nennt sein Engagement später einen „humanitären Akt des Augenblicks.“

Aufgrund von Verhaftungen Leipziger Straßenmusiker widmet Masur im August 1989 eine Veranstaltungsreihe des Gewandhauses dem Phänomen „Straßenmusikanten“. Diese Veranstaltung sollte indirekt zum ersten öffentlichen politischen Statement des Dirigenten werden. Im Zuge der zunehmend gewalttätigen Reaktion des Staates auf die Proteste im Herbst 1989 wird am 5. Oktober die „Willenserklärung der Mitarbeiter des Gewandhauses für einen sinnvollen Dialog“ verfasst, in der Musiker und Verwaltungsangestellte den gewaltfreien Dialog über die Verhältnisse im Land fordern. Drei Tage zuvor hatte Masur angesichts polizeilicher Übergriffe bei Demonstrationen in einem ARD-Interview den Satz gesagt: „Ich schäme mich.“ Es ist das erste Mal, dass sich eine bedeutende Persönlichkeit offen von der Staatsgewalt distanziert.

Am 9. Oktober 1989 spielt das Gewandhausorchester unter der Leitung von Kurt Masur. Etwa zwei Stunden vor Konzertbeginn versammeln sich über 70 000 Menschen auf dem Karl-Marx-Platz zur entscheidenden »Montags-Demonstration«. Es wird ein polizeilich-militärisches Eingreifen mit möglicherweise blutigem Ausgang befürchtet. Dass es nicht dazu kommt, ist unter anderem dem Engagement der sogenannten »Leipziger Sechs« zu danken. Sie verfassten einen Aufruf, der – von Kurt Masur verlesen – ab 17.00 Uhr im Leipziger Stadtfunk gesendet wird.*

In der Folgezeit entwickelt sich das Gewandhaus immer stärker zur politischen Bühne, denn Kurt Masur lädt zu zahlreichen Diskussionen und Foren in das Haus ein und initiiert damit die dann auch in anderen Häusern stattfindenden »Gespräche am Karl-Marx-Platz«.

In den zehn Jahren von 1981 bis 1991 erlebte das Gewandhaus eine ungeahnte Uraufführungs-Welle bei der 90 Kompositionen, meist Auftragswerke des Gewandhauses, aus der Taufe gehoben wurden. Darunter Werke von Reiner Bredemeyer, Gija Kantscheli, Friedrich Goldmann, Alfred Schnittke, Minoru Miki, Reinhard Pfundt, Bernd Franke, Georg Katzer, Friedrich Schenker, Siegfried Thiele und Karl Ottomar Treibmann.

Eine entscheidende Zäsur in der künstlerischen Biografie Masurs tritt im April 1990 ein, als Masur zum Chefdirigenten der Philharmonic Symphony Society of New York gewählt wird. Künstlerische Kontakte mit den USA gibt es seit 1974, als Kurt Masur das Gewandhausorchester bei seinem ersten USA-Gastspiel dirigierte. Ein Jahr nachdem Masur mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, endete 1996 sein Vertrag als Gewandhauskapellmeister. Das Gewandhausorchester ernannte Kurt Masur 1981 zum Ehrenmitglied und 1996 zum Ehrendirigenten. Dieser Titel wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Orchesters verliehen.

Das letzte gemeinsame Tourneekonzert mit dem Gewandhausorchester fand am 16. November 1997 in Wien statt, das letzte im Leipziger Gewandhaus am 3. April 1998. Drei Jahre nach dem Amtsantritt seines Nachfolgers Herbert Blomstedt kehrte Kurt Masur 2001 als Gastdirigent zum Gewandhaus zurück.

Zeit seines Lebens setzte sich Kurt Masur für den Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy ein. Die erste Aufnahme mit Musik seines Amtsvorgängers entstand bereits 1971. 1991 wird auf seine Anregung der Verein „Internationale Mendelssohn-Stiftung“ gegründet mit dem Ziel, das Wohn- und Sterbehaus Mendelssohns in der Leipziger Goldschmidtstraße zu erwerben und zu restaurieren. Am 10. März 1993 wurde vor dem dritten Gewandhaus das Mendelssohn-Denkmal von Jo Jastram enthüllt. Am 31. Oktober 1997 wurde das restaurierte Mendelssohn-Haus eröffnet. Am selben Tag begannen die ersten Mendelssohn-Festtage. 2007 wurde Masur für dieses Engagement anlässlich seines achtzigsten Geburtstages der erste Internationale Mendelssohn-Preis der Stadt Leipzig verliehen.

Am 28. September 2013 stand Kurt Masur zum letzten Mal am Pult des Gewandhausorchesters: beim Festkonzert anlässlich der Verleihung des Internationalen Mendelssohn-Preises der Stadt Leipzig dirigierte er Robert Schumanns 2. Sinfonie C-Dur op. 61.

Am Montag, 21. Dezember 2015 , 9:30 Uhr, tragen sich der Leipziger Oberbürgermeister, Burkhard Jung, Ehrendirigent Herbert Blomstedt, der Orchestervorstand, Gewandhausdirektor Andreas Schulz und der Vorsitzende des Personalrates, Konrad Lepetit sowie Jürgen Ernst, Direktor des Mendelssohn-Hauses in das Kondolenzbuch ein, das im Hauptfoyer des Gewandhauses ausgelegt wird.

Das Kondolenzbuch ist ab dann auch außerhalb des Konzertbetriebs öffentlich zugänglich (Mo-Fr 10-18 Uhr, Sa 10-14 Uhr).

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* »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«

(verfasst von Kurt Masur, dem Theologen Peter F. Zimmermann, dem Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und den Sekretären der SED-Bezirksleitung Leipzig Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel.)