Die beiden frühesten Musikhandschriften von Johann Sebastian Bach haben Forscher aus dem Leipziger Bach-Archiv in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar entdeckt, wie Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung Weimar, und Professor Christoph Wolff, Direktor des Bach-Archivs Leipzig, gemeinsam mitteilten. Im Zuge einer seit 2002 vom Bach-Archiv systematisch betriebenen Durchsicht mitteldeutscher Archive und Bibliotheken stießen Dr. Michael Maul und Dr. Peter Wollny auf zwei bedeutende Handschriften aus der Jugendzeit Bachs. Dabei handelt es sich um Abschriften von Orgelwerken der Komponisten Dietrich Buxtehude und Johann Adam Reinken, die im Jahr 1700 und kurz davor entstanden sind und als die frühesten Schriftzeugnisse Bachs überhaupt gelten müssen. Damit werden sie zu wichtigen Quellen für den musikalischen Werdegang des Komponisten.
Bei den erst jetzt in ihrer ganzen Bedeutung erfassten Handschriften handelt es sich um Abschriften der Choralfantasien „Nun freut euch lieben Christen gmein“ von Dietrich Buxtehude (1637-1707) und „An Wasserflüssen Babylon“ von Johann Adam Reinken (1643-1722), die der knapp 15-jährige Lateinschüler Bach in Ohrdruf und Lüneburg anfertigte. Die original datierte Reinken-Abschrift enthält den ersten dokumentarischen Beleg dafür, dass Bach ein Schüler des Lüneburger Organisten Georg Böhm (1661-1733) war, wie die zusätzliche Angabe “â Dom. Georg: Böhme | descriptum ao. 1700 | Lunaburgi:” zeigt.
Beide Handschriften sind als Orgeltabulaturen in Buchstaben-Notation geschrieben. Zusammen mit ihnen sind zwei weitere handschriftliche Choralphantasien über „An Wasserflüssen Babylon“ und „Kyrie Gott Vater in Ewigkeit“ überliefert, bei denen es sich um zwei bislang unbekannte Werke von Johann Pachelbel (1653-1706) handelt. Diese beiden Orgeltabulaturen sind Abschriften des Bach-Schülers Johann Martin Schubart (1690-1721), die vermutlich nach einer von Bach geschriebenen Vorlage entstanden sind. Schubart trat 1717 die Nachfolge seines Lehrers als Weimarer Hoforganist an und aus seinem Nachlass gelangten die drei Tabulaturen schließlich auf unbekannte Weise in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek.
Die Bedeutung des Quellenfundes kann kaum überschätzt werden. Angesichts der hohen spieltechnischen Anforderungen der drei Werke bezeugen die Quellen die frühzeitig erreichten virtuosen Fähigkeiten des jungen Bach sowie sein Bestreben, das Anspruchsvollste und Beste auf dem Gebiet der Orgelmusik zu beherrschen. Darüber hinaus wird deutlich, dass sich der junge Bach bereits vor 1700 an der norddeutschen Orgelkunst orientierte. Offenbar war sein Weg von Ohrdruf nach Lüneburg wesentlich von dem Ziel bestimmt, über Georg Böhm mehr über die bedeutenden Repertoires der Hamburger und Lübecker Altmeister zu lernen und Zugang zu den großen hanseatischen Instrumenten zu erhalten.
Das Langzeit-Projekt des Bach-Archivs, die in den mitteldeutschen Archiven und Bibliotheken lagernden Dokumente der Musikerfamilie Bach systematisch zu erschließen, wird von der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung gefördert.
Die Handschriften werden ab 1. September 2006 während des Weimarer Kunstfestes in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek ausgestellt. Ab 21. September 2006 sind sie in der Ausstellung „Expedition Bach“ im Bach-Archiv in Leipzig zu sehen, zusammen mit anderen kürzlich entdeckten Dokumenten, wie der bereits im Vorjahr, ebenfalls in Weimar, gefundenen Huldigungsarie Bachs mit dem Titel „Alles mit Gott und nichts ohn’ ihn“.
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