FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V. veröffentlicht die Studie "Die deutsche Orchesterlandschaft. Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900“. Die wissenschaftliche Abhandlung des Historikers PD Dr. Martin Rempe widmet sich der Entstehung und Entwicklung der deutschen Orchesterlandschaft seit 1900 und zeigt deren historische Segmentierung in einen relativ statischen, öffentlich finanzierten und eher staatsnahen Bereich auf der einen Seite und einen freien, überwiegend privat- bzw. projektfinanzierten, eher staatsfernen Bereich auf der anderen Seite auf. Diese Segmentierung lässt sich auf die Entwicklung der Kulturförderung und der Interessenorganisation von Berufsmusiker*innen in Deutschland zurückführen und wirkt sich bis heute auf die Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Bereichen aus.
Die Studie liefert eine historisch basierte Erklärung für die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, unter denen freie Ensembles und Orchester heute ihrer Arbeit nachgehen. Die zentrale Erkenntnis ist dabei zweierlei Natur:
Zum einen zeigt die Studie durch die Untersuchung von Interessenvertretungen und ordnungspolitischen Konzepten in einer historischen Rückschau deutlich deren Einfluss auf die Entwicklung, Verstetigung und Priorisierung von Strukturen: "Im Berufsfeld der ausübenden Musiker*innen hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Zweiklassengesellschaft zwischen abhängig Beschäftigten und Freischaffenden herausgebildet.“ (M. Rempe, S. 29)
Zum anderen entwickelt die Studie ein neues Narrativ, wenn es um die Historie der deutschen Orchesterlandschaft geht. Denn die Publikation zeigt, dass das Konzept von selbstverwalteten Ensembles und Orchestern mit breitem ästhetischem Spektrum nicht eine neue Erscheinung der 1970er und 80er Jahre war, sondern bereits am Anfang der Entwicklung unserer heutigen Orchesterlandschaft seit 1900 weite Verbreitung fand.
Dazu Claudia Roth, MdB BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Schirmfrau des FREO e.V.: "Die Studie "Die deutsche Orchesterlandschaft: Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900“ belegt, was FREO e.V. seit seiner Gründung eindrücklich und konsequent in den kulturpolitischen Diskurs einbringt: in der deutschen Orchesterlandschaft herrscht ein Zweiklassensystem, in dem selbstständige Musiker*innen in einem selbstverwalteten freien Ensemble oder Orchester schlechter sozial abgesichert sind als abhängig beschäftigte Kolleginnen und Kollegen. Hier besteht dringend politischer Handlungsbedarf.“
Die Abhandlung basiert auf Martin Rempes langjährigen Forschungen zur Sozial- und Kulturgeschichte des Musikerberufs in Deutschland. Deren Ergebnisse sind kürzlich unter dem Titel "Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850-1960“ bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.
Die vorliegende Studie bildet den Auftakt einer Schriftenreihe, in der sich FREO e.V. in Zukunft intensiv der Erforschung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sowie der Arbeitsrealitäten und Existenzbedingungen der freien Ensembles und Orchester in Deutschland widmen wird.
Die Studie steht online auf der Website des FREO e.V. unter “Unsere Themen & Mission Statement” zum Download zur Verfügung. Eine gedruckte Ausgabe kann unter Angabe der Adresse für den Postversand über info@freo.online direkt beim FREO e.V. angefordert werden. (Schutzgebühr 5€)
PD Dr. Martin Rempe ist Privatdozent an der Universität Konstanz und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Im Wintersemester 2019/20 vertritt er in Konstanz die Professur für Neuere und Neueste Geschichte. Rempe hat Geschichte, Politikwissenschaft und Jura studiert und promovierte 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über die entwicklungspolitischen Beziehungen zwischen der EWG und dem Senegal. 2011 wechselte er an die Universität Konstanz, wo er u.a. als Assistent am Arbeitsbereich für Neuere und Neueste Geschichte tätig war. 2015/16 war Rempe außerdem Fellow am History Department der Vanderbilt University. Er habilitierte Ende 2017 in Konstanz mit einer Studie zur Sozial- und Kulturgeschichte des Musikerberufs in Deutschland, die 2019 bei Vandenhoeck & Ruprecht in den Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft erschienen ist.
Weitere Veröffentlichungen in Auswahl: Cultural Brokers in Uniform: The Global Rise of Military Musicians and Their Music, in: Itinerario 41. 2017, S. 327–352; Jenseits der Globalisierung. Musikermobilität und Musikaustausch im 20. Jahrhundert, in: Boris Barth u.a. (Hg.), Globalgeschichten. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt am Main 2014, S. 205–228.
FREO – Freie Ensembles und Orchester in Deutschland e.V. ist die Vereinigung der unternehmerisch organisierten professionellen Ensembles und Orchester in Deutschland und wurde 2018 von Ensemble Modern, ensemble mosaik, Ensemble Musikfabrik NRW, Ensemble Recherche, Ensemble Resonanz, Freiburger Barockorchester, Kammerakademie Potsdam, Mahler Chamber Orchestra und Solistenensemble Kaleidoskop gegründet. Seit mehr als 40 Jahren zählen Freie Ensembles und Orchester mit herausragender Qualität und spezifischen künstlerischen Profilen zu den führenden Klangkörpern der Orchesterlandschaft und zu den Innovationsmotoren für das Musikleben in Deutschland. Zugleich bilden diese Klangkörper modellhafte Organisationen, in denen die Musiker*innen ihre berufliche Wirklichkeit als Unternehmer*innen selbst gestalten. Kulturpolitik, Förderpolitik und rechtliche Rahmenbedingungen für Klangkörper orientieren sich jedoch bis heute überwiegend an Organisationsmodellen, Berufsbildern und Bedarfen, welche die Realität von freier Produktion und Arbeit kaum abbilden. Hier setzt FREO e.V. an und sensibilisiert Entscheidungsträger, ist Ansprechpartner für kulturelle und sozialpolitische Akteure, berät seine Mitglieder in relevanten Themenbereichen und macht die Errungenschaften und Erfolge sowie die strukturellen Herausforderungen Freier Ensembles und Orchester sichtbar.
Abstract "Die deutsche Orchesterlandschaft: Kulturförderung, Interessenorganisation und Arbeitsbedingungen seit 1900“ von Dr. Martin Rempe
Die deutsche Orchesterlandschaft ist in ihrer Dichte und Organisationsform weltweit einzigartig. Außer den knapp 130 öffentlich finanzierten Symphonie- und Kammerorchestern gibt es zahlreiche freie Ensembles und Orchester, die in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung von der öffentlichen Hand erhalten, das unternehmerische Risiko jedoch selbst tragen. Die vom Freie Ensembles und Orchester e.V. in Auftrag gegebene Studie widmet sich der Entstehung und Entwicklung dieser deutschen Orchesterlandschaft seit 1900 und zeigt deren historische Segmentierung in einen relativ statischen, öffentlich finanzierten und eher staatsnahen Bereich auf der einen Seite und einen freien, überwiegend privat bzw. projektfinanzierten, eher staatsfernen Bereich auf der anderen Seite auf. Diese Segmentierung lässt sich auf die Entwicklung der Kulturförderung und der Interessenorganisation von Berufsmusiker*innen in Deutschland zurückführen und wirkt sich bis heute auf die Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Bereichen aus. Die Studie entwirft allerdings keine konkreten Handlungsanweisungen, sondern versteht sich als nüchterne Reflexion, die zu weiterer Diskussionen anregen mag: Um die vielfältige deutsche Orchesterlandschaft zu erhalten und in eine bessere Zukunft zu führen, muss ihre Geschichte differenziert, kritisch und nicht zuletzt auch im internationalen Vergleich betrachtet werden.
Die Studie entstand mit freundlicher Unterstützung der Aventis Foundation und der Alfred Toepfer Stiftung.