Konzert-Streams haben vor allem während der Corona-Pandemie an Bedeutung gewonnen, aber können sie das Publikum genauso begeistern wie ein Livekonzert? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, starteten die Kammerphilharmonie Frankfurt und das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main im September 2022 ein Experiment und stellten einem Livekonzert seinen eigenen Stream gegenüber. Die nun vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass der Stream nicht als Konkurrenz zum Livekonzert, sondern als eigenständiges audiovisuelles Musikformat behandelt werden sollte.

Das Experiment gliederte sich ein in die Konzertreihe „Let’s Get Lost at Klassik Island“, bei der die Kammerphilharmonie öffentliche Räume in Frankfurt in Konzertorte verwandelte. Am Abend des 11. September 2022 spielte das Ensemble zwei Konzerte mit identischem Programm auf dem Campus Bockenheim der Goethe-Universität Frankfurt. Die je 60-minütigen Aufführungen umfassten unter anderem Werke von George Gershwin und Florence Price. Sie fanden im Festsaal des Studierendenhauses statt und wurden zeitgleich in das im selben Gebäude gelegene Café KoZ gestreamt. Das Publikum war eingeladen, während der Konzerte zwischen den Sälen hin- und herzuwechseln, um die Qualitäten beider Formate zu erleben.

Insgesamt 130 Personen besuchten die beiden Vorstellungen, die vom MPIEA wissenschaftlich begleitet wurden: 111 Besucher:innen nahmen an der Vor- und 96 an der Nachbefragung per Fragebogen teil. Darüber hinaus führten die Forscher:innen insgesamt 38 vertiefende Interviews. Ergänzt wurde die Datenerhebung durch Videoaufnahmen, die während der Konzerte vom Publikum gemacht wurden.

Absätze
„Wie zu erwarten, wurde das Live-Erleben insgesamt als intensiver und mitreißender beschrieben, aber vor allem in Bezug auf das Visuelle und das Akustische hinterließ auch der Live-Stream mehrheitlich einen sehr guten Eindruck.“
Autor
Julia Merrill, MPIEA

Der Großteil des Publikums nahm das Angebot zum Raumwechsel wahr – teils sogar mehrfach. Insgesamt zeigte sich, dass die Mehrzahl der Konzertbesucher:innen den Live-Saal als den Ort des eigentlichen Geschehens wahrnahm und nur punktuell in den Streaming-Saal wechselte. Die empfundenen Vorzüge des Live-Erlebens bestanden vor allem im Ereignishaften, seinem ganzheitlichen Charakter und dem sozialen Miteinander, inklusive der Interaktion mit den Musiker:innen. Einige der Befragten gaben darüber hinaus an, dass sie sich im Live-Kontext besser auf die Musik einlassen und konzentrieren konnten.

Demgegenüber punktete der Stream durch die Möglichkeit, die Musiker:innen durch die Kameraführung besser und im Detail sehen zu können sowie durch die teilweise bessere klangliche Abmischung. Die Präsenz des Visuellen führte allerdings auch dazu, dass sich beim Stream für einige der Fokus vom Hören auf das Sehen verschob. Im Hinblick auf das Erleben fühlten sich mehrere Teilnehmer:innen in der Streaming-Situation entspannter, weil die Normen des Klassik-Konzerts dort als nicht so relevant wahrgenommen wurden.

Obwohl fast alle der Live-Situation den Vorzug gaben, wurden Streaming-Formate keineswegs für überflüssig gehalten – und zwar nicht nur als lohnende Alternative bei beispielsweise eingeschränkter Mobilität oder aus Kostengründen. Für das weitere künstlerische Erkunden von Live- und Übertragungsformaten scheint es daher vielversprechend, solche Formate nicht als Konkurrenz zueinander aufzufassen oder mit dem einen das andere kopieren zu wollen. Stattdessen gilt es, sich jeweils der spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten klar zu werden und Formate komplementär zueinander als künstlerische Formen eigenen Rechts zu entwickeln, die Musik auch auf unterschiedliche Art und Weise erfahrbar machen.

Ergebnisbericht unter: https://kammerphilharmonie-frankfurt.de/wp-content/uploads/2023/04/Kammerphilharmonie-Experiment_Ergebnisbericht