Wie würde sich wohl die Musik von Außerirdischen anhören? Wäre sie hierarchisch strukturiert in Strophe und Refrain, so wie es unsere ist? Würden wir sie überhaupt mögen? Vincent Cheung, Doktorand am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig glaubt, dass die Antwort in letzterem Fall “Ja” wäre, wenn sie auf sogenannten lokalen und nicht-lokalen Abhängigkeiten basieren würde. Seine Ergebnisse im Fachmagazin Scientific Reports erklären, was das genau bedeuten würde.
Vincent Cheung hat gemeinsam mit Angela D. Friederici und anderen Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig untersucht, wie unser Gehirn sogenannte nicht-lokale Abhängigkeiten in der Musik verarbeitet. Musik basiert generell, ähnlich wie Sprache, auf einem System, in dem sich Einzelelemente wie Töne zu immer komplexeren, hierarchisch strukturierten Sequenzen zusammensetzen. In diesen beiden Systemen, Musik und Sprache, bezeichnen Abhängigkeiten wiederum bestimmte Verknüpfungen, die zwei solcher Einzelelemente miteinander verbinden.
Nicht-lokale Abhängigkeiten stellen dabei eine logische Verbindung zwischen zwei Elementen her, die nicht direkt nebeneinander liegen, etwa zwischen zwei nicht direkt aufeinander folgenden Tönen. In der Popmusik steht beispielsweise der zweite Vers, der dem Refrain folgt, in nicht-lokaler Abhängigkeit zur ersten Strophe. Denn aus unserer Erfahrung heraus wissen wir, dass wir einer Sequenz lauschen, die wir bereits gehört haben. Laut Cheung nutzen Komponisten diese Mittel, um unsere Erwartungen zu wecken und dadurch eine starke emotionale Reaktion auf die Musik hervorzurufen. Jedoch stellte sich hier bisher die Frage: Wie verarbeitet das Gehirn solche Muster – und was hat das Ganze etwas mit dem Sprachpionier Paul Broca zu tun?
Paul Broca war ein berühmter französischer Arzt und Anatom, dessen Arbeit an Patienten mit Sprachstörungen im 19. Jahrhundert zur Entdeckung des Broca-Areals führte. Dieser kleine Bereich in der Großhirnrinde, direkt über der linken Schläfe gelegen, spielt eine grundlegende Rolle bei der Produktion und Verarbeitung von Sprache – und damit auch für die Abhängigkeiten innerhalb von Sprache. Er wird beispielsweise dann aktiv, wenn wir Verstöße gegen unser gelerntes Grammatiksystem bemerken. Das Interessante dabei: Obwohl das Broca-Areal zu einem der bestuntersuchtesten Regionen unseres Gehirns zählt, ist bisher nur sehr wenig über sein Pendant auf der rechten Hirnseite und dessen Funktion bekannt.
Einige Theorien gingen davon aus, dass sein Äquivalent ähnliche Aufgaben übernimmt; allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Statt Sprache verarbeitet es Musik. Bisher war es jedoch nicht gelungen, diese Hypothese zu beweisen, insbesondere weil es schwierig ist, die Verarbeitung lokaler und nicht-lokaler Abhängigkeiten innerhalb der hierarchischen Struktur von Musik voneinander zu trennen. Das sollte sich jedoch mit der aktuellen Studie von Vincent Cheung ändern: Er entwickelte eine eigene Form von Musik, die genau dies möglich machen sollte. Selbst bezeichnet er sie als “Alien-Musik”.
Diese Musik hat wenig mit der uns bisher vertrauten Musik zu tun. Vielmehr ist sie ein Stück, das rein für wissenschaftliche Zwecke komponiert wurde, und in der Wissenschaft als “zufällig generierte Kombination an Dreiton-Abfolgen, die in Palindrom-ähnlicher Weise kombiniert werden” beschrieben wird. So sperrig diese Beschreibung für uns klingen mag, so angenehm empfinden wir gleichzeitig ihre Tonabfolge. Zudem ermöglicht sie es die störenden Einflüsse von lokalen Abhängigkeiten innerhalb der Musik auszuschalten. Entscheidend war dabei, dass sie sowohl Sequenzen nutzen, die einer vorgefertigten musikalischen Grammatik folgten, als auch solche ohne diese Vorgaben. Dadurch konnten die Wissenschaftler erkennen, wo das Gehirn diese musikalischen nicht-lokalen Abhängigkeiten verarbeitet.
Für ihre Untersuchungen luden die Wissenschaftler Musiker unterschiedlicher Erfahrungslevel ein, um den jeweiligen Kompositionen zu lauschen. Dabei sollten diese nicht nur herausfinden, ob es sich um grammatikalisch richtige oder falsche Abfolgen handelt. Sie sollten auch im entscheidenden Falle die zugrundeliegende grammatikalische Regel erkennen. Sobald sie die Regel einmal gelernt hatten, sollten sie diese wiederum im Magnetresonanztomographen widergeben. Die Wissenschaftler konnten so beobachten, welche Hirnareale dabei aktiv waren. Durch einen besonderen Kniff gelang es ihnen hier sogar, zwischen dem Verarbeiten der nicht-lokalen Abhängigkeiten und der generellen Aktivität des Arbeitsgedächtnisses zu unterscheiden: Sie variierten die Sequenzen systematisch in ihrer Komplexität, sodass sie in manchen Situationen mehr Informationen im Gedächtnis behalten mussten als in anderen.
Und tatsächlich, die Ergebnisse der Leipziger Neurowissenschaftler entsprachen den Erwartungen und hielten gleichzeitig eine Überraschung bereit: Der sogenannte Gyrus frontalis inferior, kurz IFG, in dem das Broca-Areal eingebettet ist, zeigte sich bei grammatikalisch falschen Sequenzen aktiver als bei richtigen, obwohl das Gehirn ansonsten hauptsächlich auf der rechten Seite aktiviert war. Als Grund dafür vermuten die Wissenschaftler, dass der IFG beim Verstoß gegen eine einmal gelernte grammatikalische Regel zwar stärker aktiviert wird – jedoch mehr auf seiner rechten als auf seiner linken Seite und dem dort befindlichen Broca-Areal.
Interessanterweise entdeckten die Wissenschaftler auch, dass die Probanden umso besser einordnen konnten, ob eine Sequenz grammatikalisch korrekt war oder nicht, je stärker bei ihnen die funktionellen Verknüpfungen zwischen den Regionen zur Grammatik-Detektion und dem Arbeitsgedächtnis ausgeprägt waren. Das könnte darauf hindeuten, dass sie diese Aufgabe bewerkstelligen, indem sie Informationen aus ihrem Arbeitsgedächtnis mit denen aus dem rechten Pendant des Broca-Areals verknüpfen.
“Diese Erkenntnisse zeigen uns, dass Neuronen, die in der Lage sind, nicht-lokale Abhängigkeiten zu entschlüsseln, nicht ‘supra-modal’ sind. Vielmehr scheinen Subpopulationen für verschiedene Arten von Reizen miteinander verschaltet zu werden. Jetzt wissen wir, dass das offenbar auch für Musik der Fall ist”, erklärt Vincent Cheung, Erstautor der zugrundeliegenden Studie, die nun im Fachmagazin Scientific Reports erschienen ist.
Originalveröffentlichung:
Cheung V. K. M., Meyer L., Friederici A. D. & Koelsch S. (2018): The right inferior frontal gyrus processes nested non-local dependencies in music. Scientific Reports, Vol. 8, Art 3822.