Bremen bietet mit der HfK Bremen ein einzigartiges Umfeld für die Ausbildung und die Reflexion zur Musik. Zu den Höhepunkten im Veranstaltungsprogramm zählte die Fachtagung zum Kontrapunkt, an der rund 200 Musiktheoretiker, Komponisten, Musiker und Studierende in den historischen Räumen des Musikfachbereichs an der Dechanatstraße im Herzen der Stadt teilnahmen.

In der Zeit vom 5. bis 7. Oktober 2018 kamen die Mitglieder der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH) zu ihrer alljährlichen Tagung an der Hochschule für Künste Bremen (HfK) zusammen. Das übergreifende Thema lautete "Kontrapunkt ‒ ewiggestrig oder unerlässlich? Kontinuitäten und Wandlungen einer kompositorischen Disziplin“. Renommierte sowie jüngere Fachvertreter*Innen und interessierte Studierende erlebten etwa 70 Vorträge und Workshops, besuchten Preisverleihungen mit der studentischen Uraufführung einer beim künstlerischen Wettbewerb der GMTH ausgezeichneten Komposition, das Konzert "Alles Kanon?“ in der Kirche Unser-Lieben-Frauen sowie eine abschließende Podiumsdiskussion. Geleitet wurde die Veranstaltung von den Professoren für Musiktheorie an der HfK Bremen Florian Edler und Andreas Gürsching.

Mit mehr als 200 Besuchern waren ungewöhnlich viele Musiktheoretiker*Innen der Einladung der Organisatoren gefolgt. Nicht zuletzt lag dies wohl an dem gleichermaßen anspruchsvollen wie vielfältigen Kongressthema. Kontrapunkt wird an vielen Musikhochschulen in übergreifende Lehrveranstaltungen wie "Musiktheorie“ oder "Satzlehre“ integriert, aber vergleichsweise selten noch als eigenständiges Fach gelehrt. Dabei ist der Begriff aus dem Fachdiskurs nicht wegzudenken und rückte in den vergangenen Jahrzehnten in dem Maße in den Blickpunkt, wie bei der Auseinandersetzung mit tonaler Musik die Fokussierung auf Harmonik relativiert wurde. Die Aktualität von Kontrapunkt spiegelt nicht zuletzt eine Reihe jüngerer Lehrbücher, die den Begriff im Titel führen, ihn aber in unterschiedlichen methodischen und stilistischen Kontexten beleuchten.

Fachwissen in vier unterschiedlichen thematischen Sektionen vermittelt

Der diesjährige GMTH-Kongress bot Einblicke in diverse mit Kontrapunkt zusammenhängende analytische, methodische und historische Aspekte sowie eine Standortbestimmung hinsichtlich der Zielrichtung und Auffassung des Lehrgebiets. Die Vorträge waren drei thematischen und einer freien Sektion zugeordnet.

In der Sektion 1, "Systematisch-methodische Implikationen der Kontrapunktlehre“, wurde danach gefragt, ob der Rekurs auf historische Satzmodelle einen Ersatz für traditionelle musiktheoretische Teilfächer bieten und inwieweit die tradierte Disziplin in spezifischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts "aufgehoben“ sein könnte. Überdies wurden die Relevanz dieses Lehrgebiets für die Ausbildung und seine Verankerung im Hochschul-Curriculum hinterfragt. Weitere Themenfelder waren methodische Einzelaspekte wie z.B. die Improvisation, das Singen oder der Einsatz elektronischer Medien im Kontrapunkt-Unterricht. In seiner mit "What is Contrapuntal Thinking?“ betitelten Keynote zeigte Peter Schubert von der McGill University Montreal auf, welche Facetten ein spezifisch kontrapunktisches musikalisches Denken ausmachen und dass Zugänge über die ‚Harmonik‘, wie sie in der nordamerikanischen Musikausbildung eher üblich sind, vergleichbare Einsichten und Kompetenzen nicht zu bieten vermögen.

Die Sektion 2, "Historische, gesellschaftliche und ästhetische Kontexte“, thematisierte die Geschichte der Kontrapunktlehre und im Zusammenhang damit Inhalte und Probleme einzelner Lehrwerke sowie Kontinuitäten, Paradigmenwechsel und Kontroversen, wie sie sich aus dem Vergleich verschiedener Quellen rekonstruieren lassen. In diesen historischen Zugang zum Thema führte Dörte Schmidt, Professorin für Musikwissenschaft an der Universität der Künste Berlin und Präsidentin der Gesellschaft für Musikforschung, anhand des Fallbeispiels Theodor W. Adorno im Rahmen eines zweiten Keynote-Vortrags ein. Adornos Ausführungen über Arnold Schönbergs Kontrapunkt im Rahmen der Kranichsteiner Vorlesungen aus dem Jahre 1956 wurden zum Ausgangspunkt einer Rekonstruktion der musikästhetischen Positionen zum Thema ‚Kontrapunkt‘ im Umfeld der ‚Darmstädter Ferienkurse für neue Musik‘ und einer Erörterung von Auswirkungen jenes Diskurses auf die heutige Musiktheorie.

Mit Bezug auf "Kontrapunkt in der Komposition“, das Thema der Sektion 3, brachte Cornelius Schwehr, Professor für Komposition, Musiktheorie und Filmmusik an der Musikhochschule Freiburg, die Perspektive eines zeitgenössischen Komponisten in den Fachdiskurs ein. In seiner Keynote zu "Kontrapunkt und Polyphonie“ ging er der Frage nach, inwiefern und auf welche Weise Interdependenzen zwischen Satzlehre und zeitgenössischer Kompositionspraxis bestehen.

Eine Freie Sektion, Sektion 4, behandelte eine Vielzahl an Themen, die zum Teil ebenfalls Bezug nahmen auf das Generalthema. Angeschnitten wurden dabei Einflüsse des Kontrapunkts auf die lineare Jazzpiano-Improvisation, die Einführung einer Art Wikipedia für Musik durch ELMU oder die musiktheoretischen Interessen eines Johann Wolfgang Goethe, um nur einige der Themenfelder zu nennen.

Podiumsdiskussion "Kontrapunkt – quo vadis?“

Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion zum Kontrapunkt und seiner pädagogischen Vermittlung. Zunächst wurde Kontrapunkt im Sinne einer elaborierten Hochkunst mit zwei Gipfelregionen – der Vokalpolyphonie der Epoche Giovanni Pierluigi da Palestrinas und der spätbarocken Linearität Johann Sebastian Bachs – als bedeutendes kulturelles Erbe und Paradigma späterer Formen von musikalischer Artifizialität angesprochen, dessen Weitervermittlung an die junge Generation nicht zuletzt Aufgabe des schulischen und hochschulischen Unterrichts sei. Eingewendet wurde, diese besonderen künstlerischen Höhen und Komplikationen seien nicht primär die Art von Musik, mit der sich Jugendliche ‚abholen‘ ließen. Pädagogisch sinnvoll sei vorrangig die Beschäftigung mit einfachen und altersgemäßen Arten von Musik.

Im ferneren Verlauf wurde Kontrapunkt im Sinne einer Elementarlehre in den Blick genommen, die von basalen Phänomenen wie den Intervallen und der Melodiebildung ausgeht. Hier waren sich die beteiligten Musiktheoretiker, -pädagogen und -wissenschaftler darin einig, dass eine entsprechende Ausbildung in allen für die Musikerziehung relevanten Altersstufen sinnvoll und möglich sei und die musikalische Entwicklung fördere.

Zur Sprache kam darüber hinaus ein gewisser innerer Widerstand bei einigen Teilnehmer*Innen gegen den Begriff Kontrapunkt als Bezeichnung des Gegenstands – eine Attitüde, die repräsentativ sein dürfte für viele, die sich mit Musiktheorie befassen. Thomas Daniel (Köln) schlug Ersatzbegriffe wie "Satzlehre“ bzw. "Elementare Satzlehre“ vor und verband damit den Vorschlag, stilübergreifende Grundprinzipien zu vermitteln. Dieser Impuls zu einem systematischen Ansatz überraschte bei einem Autor, der für die präzise Beschreibung und Vermittlung bestimmter historischer Stile bekannt ist.

Konzert mit Werken aus dem 16. und 20. Jahrhundert

Ergänzt wurde der Kongress durch ein öffentliches Konzert am 6. Oktober in der Bremer Kirche Unser-Lieben-Frauen, bei dem das Kongressthema Kontrapunkt auf die subtile Kunst des Kanons zugespitzt wurde. Bei "Alles Kanon? Verschlungene Wege in der ‚musica nova‘“ präsentierte das Ensemble Weser-Renaissance unter Leitung von Manfred Cordes, Professor an der HfK Bremen für Musiktheorie der Alten Musik, Vokalwerke aus dem 16. Jahrhundert, denen korrespondierend Instrumentalstücke aus dem 20. Jahrhundert mit Bezügen auf Polyphonie und die Satztechnik des Kanons gegenübergestellt wurden. Als bedeutender Spezialist der zeitgenössischen Flötenmusik war Roberto Fabbriciani an der Kontrabassflöte zu erleben, der u.a. gemeinsam mit Joachim Striepens an der Kontrabassklarinette und dem Studio für elektroakustische Musik der HfK Bremen unter Leitung von Prof. Kilian Schwoon Luigi Nonos selten aufgeführte Komposition A Pierre. Dell’Azzurro silenzio, inquietum interpretierte.

Besonderen Anklang fand nicht zuletzt ein erstmals initiiertes gemeinsames Frühstück für Studierende, das dem Nachwuchs die Möglichkeit zum gegenseitigen Kennenlernen und Gedankenaustausch gab. Geplant wird derzeit die Publikation der Vortragstexte in einem Kongressbericht.

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