Der internationale Ernst von Siemens Musikpreis geht 2012 an Friedrich Cerha. Der 1926 geborene österreichische Komponist erhält den mit 200.000 Euro dotierten Preis als Auszeichnung für sein Lebenswerk. Vorrangig Komponist, sodann Dirigent, Organisator, Lehrer und Musikwissenschaftler, erlangte Cerha internationale Bekanntheit durch die Oper Baal und die Ausarbeitung des dritten Aktes von Alban Bergs Oper Lulu. Die jüngste Gesamtaufführung seines Spiegel-Zyklus’ (WIEN MODERN 2011), einem der Meilensteine der Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, legt Zeugnis ab von der Aktualität seiner Musik und ihrer fast physischen, klanglichen und emotionalen Sogwirkung. Die Schaffenskraft und schöpferische Neugier dieses Meisters beeindruckender Klanglandschaften sind ungebremst, wie die zahlreichen Uraufführungen der letzten Jahre eindrucksvoll belegen. Der Ernst von Siemens Musikpreis wird Cerha am 22. Juni 2012 im Münchner Cuvilliés-Theater vom Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste überreicht.

Die drei Förderpreise für junge Komponisten gehen an den Briten Luke Bedford, Zeynep Gedizlioglu aus der Türkei und Ulrich Alexander Kreppein aus Deutschland. Insgesamt vergibt die Ernst von Siemens Musikstiftung 2,7 Millionen Euro. Gefördert werden 2012 weit über hundert zeitgenössische Musikprojekte mit Künstlern aus 30 Ländern weltweit.

Friedrich Cerha wurde 1926 in Wien geboren. Im Alter von sieben Jahren begann er mit dem Geigenspiel und bekam kurz darauf auch Unterricht in Musiktheorie und Komposition. Schon vor Abschluss des Gymnasiums leistete er als Luftwaffenhelfer aktiven Widerstand, entfloh der Wehrmacht in die Tiroler Alpen, wo er 1945 als Hüttenwirt und Bergführer seinen Weitblick zu schärfen begann und das Kriegsende erlebte. Bereits danach zeigt sich Cerhas latentes Streben nach oben: hier noch geografisch, bald danach vom Intellekt geprägt, suchend, forschend unterwegs, um musikalisches Neuland zu erproben. Ab 1946 studierte er an der Akademie für Musik in Wien Violine, Komposition und Musikerziehung und an der Universität Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie und promovierte 1950.

1956–58 nahm Cerha an den Darmstädter Ferienkursen für neue Musik teil, wo er sich mit den Ideen der internationalen Avantgarde auseinandersetzte. Schon davor hatte er die Werke Schönbergs und Weberns studiert. Immer wieder zeichnet sich Cerha hier durch seine prüfende, abwägende, auf Veränderung bedachte Haltung gegenüber neu auftauchenden musikalischen Phänomenen aus und reiht sich weder in die „im seriellen Gleichschritt marschierende Kolonne“ (Lothar Knessl), noch in die anschließend einsetzende Gegenbewegung ein, sondern wendet sich anders flexiblen, natürlicher gewachsenen Form- und Klangproblemen zu.

1958 gründete er mit Kurt Schwertsik das immer noch tätige Ensemble die reihe, um ein Forum für die zeitgenössische Musik zu schaffen. Die reihe leistete Pionierarbeit in der Präsentation von Werken der Avantgarde, der Wiener Schule und der gesamten klassischen Moderne. „Durch sein Wirken als Komponist, Ensembleleiter und Lehrer hat Friedrich Cerha in sehr modernefeindlichen Zeiten in Wien erreicht, dass die avancierte zeitgenössische Musik dort nicht völlig aus dem Bewusstsein der musikinteressierten Öffentlichkeit verschwand“, würdigt Wolfgang Rihm im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung Cerhas Verdienste.

Bereits 1960/61 entstand der Zyklus Spiegel, ein für Cerhas Schaffen zentrales Werk. Bevor die Klangflächenkomposition als Innovation benannt wurde, hatte Cerha in diesem virtuos komponierten Orchesterwerk, losgelöst von traditionellen Formulierungen, verschiedene Massenstrukturen, höchst differenzierte, in sich bewegte, aufeinander bezogene Klangkomplexe konzipiert. Die außergewöhnliche Klangwelt, die Landschaften von visionärer Kraft eröffnet, machen Spiegel I-VII zu einem Meilenstein der Musikgeschichte. Helmut Lachenmann, Mitglied des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung, attestiert Cerha darin gar „souveränen, gleichsam prophetischen Klangsinn“. Und in der Tat scheint es, gemessen am Entstehungsjahr einiger Kompositionen, als „denke und schreibe Cerha während seiner Entwicklungsphasen schon außerhalb einer Strömung, bevor sie noch zu einer solchen erhoben wurde“ (Lothar Knessl).

Ab 1959 unterrichtete Cerha an der Wiener Musikhochschule und war dort von 1976–88 Professor für Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik. In diese Zeit fällt auch Cerhas Herstellung der spielbaren Fassung des 3. Aktes der Oper Lulu von Alban Berg (UA 1979 in Paris), die der internationalen Musikwelt ein wesentliches Werk des 20. Jahrhunderts vollständig erschlossen hat.

Die Musiktheaterwerke nehmen ebenfalls einen wichtigen Platz in Cerhas Schaffen ein. Kurz nach dem Spiegel-Zyklus entsteht das Musiktheater Netzwerk, das ein kritisches Bild einer Welt als vernetztes System zeichnet. Ende der siebziger Jahre entsteht die Oper Baal, in der Cerha vor allem das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft thematisiert. Weitere Werke wie Der Rattenfänger (1984–1986) und Der Riese vom Steinfeld (1997–1999) folgen. Zu seinen wichtigsten Orchesterwerken zählen die Langegger Nachtmusik III sowie Impulse für Orchester. Nach Klangmassen und Farbflächen konzentriert sich Cerha auf klare Linien und Transparenz des Satzgefüges. „Nur in kleinen Besetzungen kann man Einfälle sehr rasch festhalten“, sagt er selbst, denn bei der langwierigen Arbeit an großen komplexen Partituren „geht einiges von des Einfalls Frische verloren“. So überwiegen in seinem Spätwerk Kompositionen für mittlere bis kleine Besetzungen.

Beat Furrer, ebenfalls Kurator der Ernst von Siemens Musikstiftung, berichtet, dass er während seiner Studienzeit in Wien kaum eine Gelegenheit versäumte, Cerhas Proben und Aufführungen zu besuchen: „Seine Orchester- und Musiktheaterwerke zeugen von einer großartigen Meisterschaft – insbesondere die in den 60er Jahren geschriebenen Spiegel sind wegweisend und radikal was die Entwicklung der Form aus dem Klang selbst betrifft – sie haben bis heute nichts von ihrer Kraft und Frische eingebüßt.“ Die Schaffenskraft und schöpferische Neugier Friedrich Cerhas sind ungebremst, wie die zahlreichen Uraufführungen der letzten Jahre, eine Fülle höchst unterschiedlicher Kompositionen, eindrucksvoll belegen.

Preisverleihung am 22. Juni 2012 im Münchner Cuvilliés-Theater
Für sein Lebenswerk ehrt die Ernst von Siemens Musikstiftung Friedrich Cerha mit dem oft als „Nobelpreis der Musik“ bezeichneten Ernst von Siemens Musikpreis. Die hohe Auszeichnung wird Cerha vom Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste Dieter Borchmeyer bei einem musikalischen Festakt im Münchner Cuvilliés-Theater am 22. Juni 2012 überreicht. Die Laudatio hält der Musikredaktor der Neuen Zürcher Zeitung Peter Hagmann. Das Ensemble Modern wird unter Leitung des Preisträgers dessen Stück Bruchstück, geträumt zur Aufführung bringen. Auf dem Programm stehen außerdem Werke der Komponisten-Förderpreisträger Luke Bedford, Zeynep Gedizlioglu und Ulrich Alexander Kreppein, ebenfalls gespielt vom Ensemble Modern.

Komponisten-Förderpreise 2012 an Luke Bedford, Zeynep Gedizlioglu und Ulrich Alexander Kreppein
Der aus Wokingham, Berkshire in England stammende und in Berlin lebende Komponist Luke Bedford studierte Komposition am Royal College und der Royal Academy of Music bei Edwin Roxburgh und Simon Bainbridge. Bedfords Musik kennt das große Format und entspringt zugleich der Liebe zum Detail; sie versenkt sich auskostend in die einzelne Figur und bricht sie im Prisma einer hoch entwickelten Klangfantasie. Motiv, Instrumentalfarbe und Harmonik verschmelzen in ihr zu einer komplexen Einheit, aus der Texturen von zugleich distanzierter und dringlicher Intensität erwachsen. Die Kompositionen Luke Bedfords faszinieren durch ihr kaltes Leuchten und die vielfache klangfarbliche Facettierung ihrer Oberflächen.
Zeynep Gedizlioglu wuchs in Izmir und später in Istanbul in der Türkei auf. Sie studierte Komposition bei Cengiz Tanc in Istanbul, Theo Brandmüller in Saarbrücken, Ivan Fedele in Strasbourg und bei Wolfgang Rihm in Karlsruhe, wo sie nach einem Auslandsjahr in Paris am IRCAM auch lebt und arbeitet. Zeynep Gedizlioglus Kompositionen verbinden den Aplomb der starken Geste mit der Genauigkeit für die individuelle Einzelheit. Ihre Musik folgt der expressiven Logik im Wechsel von auffahrender Gebärde und nachhorchendem Innehalten und gewinnt ihren Reichtum aus der nicht reduzierbaren Vielheit ihrer Gestalten. Sie erscheint so als nachhaltiger künstlerischer Einspruch gegen das Prinzip der Homogenität und die Planierung von Differenz.
Beredsamkeit und Vielstimmigkeit sind die hervorstechenden Eigenschaften im Werk Ulrich Alexander Kreppeins. Die Präsenz unterschiedlicher kompositorischer Sprachformen und die Integration auch historisch divergierender Tonfälle verleihen seiner Musik eine besondere Dichte und Artikuliertheit. Kreppein wuchs in Baden-Württemberg auf und studierte Komposition u.a. bei Manfred Trojahn und Tristan Murail.

Insgesamt vergibt die Ernst von Siemens Musikstiftung im Jahr 2012 2,7 Millionen Euro. Davon entfallen in diesem Jahr rund 2,4 Millionen Euro auf die Förderung zeitgenössischer Musikprojekte in über zwanzig Ländern weltweit. Neben Kompositionsaufträgen werden Konzerte und Veranstaltungsreihen unterstützt, sowie Kinder- und Jugendprojekte, die den Zugang zur zeitgenössischen Musik ermöglichen und erleichtern. Wettbewerbe, Akademien und Workshops, in denen junge Musiker, Komponisten und Dirigenten ihr Können unter Beweis stellen und von renommierten Meistern lernen, werden ebenso gefördert wie wissenschaftliche Einzelpublikationen und Gesamtausgaben. Zahlreiche Festivals erfahren zudem Mehrjahresförderungen durch die Ernst von Siemens Musikstiftung, um deren Einsatz für die zeitgenössische Musik zu würdigen.