In der Bibliothek der Stiftung Händel-Haus arbeitet man derzeit an einem nicht alltäglichen Projekt: der Erschließung des Nachlasses des bedeutenden Händel-Forschers Friedrich Chrysander (1826-1901). Seit Dezember 2012 ist die Musikwissenschaftlerin Jana Kühnrich, die an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg studierte, mit dieser Aufgabe betraut. Nachdem Chrysanders Briefwechsel bereits 2001 vom Händel-Haus erschlossen und in Buchform veröffentlicht wurde, sichtet Frau Kühnrich jetzt die musikalischen und wissenschaftlichen Manuskripte Chrysanders.
Friedrich Chrysander gehört bis heute zu den wichtigsten Händel-Forschern. Seine zwischen 1858 und 1901 weitgehend im Alleingang herausgegebene Gesamtausgabe der Werke Georg Friedrich Händels, die knapp 100 Bände umfasst, legte den Grundstein für viele spätere Händel-Aufführungen. So wurde die Wiederbelebung der Händel-Opern erst dadurch möglich, dass Chrysander die zu seiner Zeit nicht mehr aufgeführten Opern in seine Ausgabe aufnahm. Chrysander verfasste außerdem die erste bedeutende deutsche Händel-Biographie. Er stand im Kontakt mit vielen musikalischen Größen seiner Zeit wie etwa Johannes Brahms oder dem bedeutenden Dirigenten Bernhard von Bülow.
Die Erschließung des Nachlasses ermöglicht es, sich einen Überblick über die enthaltenen Materialien zu verschaffen. Als Ergebnis des Projekts entsteht eine Datenbank, die einen gezielten Zugriff auf den Inhalt des Nachlasses ermöglicht. Für interessierte Forscher steht die Datenbank ab Oktober 2013 in der Bibliothek des Händel-Hauses zur Benutzung bereit. Diese Datenbank ist die Grundlage für eine mögliche spätere Veröffentlichung im Internet oder einer Digitalisierung.
Der Nachlass umfasst etwa 1.000 Dokumente, vom kleinen Notizzettel bis zur umfassenden handschriftlichen Partitur. So fand Jana Kühnrich neben den umfangreichen und aufwendigen Vorarbeiten zur Gesamtausgabe der Werke Händels auch Manuskripte zu wissenschaftlichen Aufsätzen vor, ebenso Notizen und Exzerpte zu verschiedensten musikalischen und musikethnologischen Themen, aber auch eigene Kompositionsversuche Chrysanders. Dazu gehören eine unvollendete Oper und einige patriotische Kriegslieder, die anlässlich des deutsch-französischen Krieges 1871 entstanden und heute eher kurios anmuten. Auch Fragmente der heute so kostbaren Erst- und Frühdrucke von Händels Werken kommen vor: Chrysander schnitt diese Notendrucke aus dem 18. Jahrhundert in Streifen und klebte sie auf Papier, so dass er diese als Bearbeitungsgrundlage benutzen und auskommentieren konnte.
Der Nachlass war bereits 1958 für das Händel-Haus erworben worden. Bertha Chrysander, die Schwiegertochter und Erbin des Händel-Forschers, lebte nach wie vor im Haus ihres Schwiegervaters in Hamburg-Bergedorf. Ein Einbruch und die Verwüstung ihres Archivs soll sie schließlich davon überzeugt haben, den Bestand einem Museum zu übergeben. Dass sie sich in Zeiten des Kalten Krieges dazu entschied, ihre Schätze in die DDR abzugeben, gehört zu den ungewöhnlicheren Seiten dieser Geschichte. Die Verhandlungen, an denen sogar das damalige Kulturministerium der DDR beteiligt war, führten schließlich zum Ankauf für das damals noch recht junge Händel-Haus. In den folgenden Jahrzehnten wurden einzelne Dokumente aus dem Nachlass zwar gelegentlich von Wissenschaftlern verwendet, aber dennoch ist der komplette Bestand bis heute nicht vollständig durchgesehen und erschlossen worden.
Das Projekt wird vom Bund gefördert.
Absätze
Quelle
http://www.haendelhaus.de