Der Deutsche Bühnenverein – Bundesverband der Theater und Orchester tagt mit seiner Jahreshauptversammlung vom 9. bis 11. Juni 2022 in Oldenburg. Intendant:innen, Kulturpolitiker:innen und Verwaltungsdirektor:innen aus ganz Deutschland diskutieren im Oldenburgischen Staatstheater über aktuelle Entwicklungen und Arbeitsbedingungen an Theatern und Orchestern. Eröffnet wird die Veranstaltung von Bühnenvereinspräsident Dr. Carsten Brosda. Digitale Grußworte werden von der Kulturstaatsministerin Claudia Roth und dem Niedersächsischen Minister für Wissenschaft und Kultur Björn Thümler überbracht. Der Oberbürgermeister der Stadt Oldenburg Jürgen Krogmann wird die Teilnehmer:innen vor Ort begrüßen.

„Die Theater und Orchester stehen mit Blick auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie, aber auch der dringend notwenigen Wertediskussionen, auch in den Häusern, vor großen Herausforderungen. Zugleich werfen die aktuellen Krisen der Welt, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, grundsätzliche Fragen auf, für die es dringend der Impulse der Kultur und der Bühnen bedarf. Wir brauchen in der gesellschaftlichen Debatte gerade jetzt die laute und deutliche Stimme der Kultur. Mit der Jahreshauptversammlung wollen wir die Theater und Orchester stärken und uns gemeinsam den Herausforderungen unserer Gegenwart stellen. Ich bin sehr dankbar für die außerordentlich gute Zusammenarbeit der Bühnen und der Träger. Gemeinsam wollen wir die Bühnen weiter als zentralen gesellschaftlichen Resonanzraum ausbauen“, so der Präsident des Bühnenvereins Dr. Carsten Brosda.

Neben der Diskussion über die politische Situation liegt der Fokus der Tagung auf den Rahmenbedingungen der künstlerisch Beschäftigten und dem Audience Development, auf der weiteren Implementierung des Wertebasierten Verhaltenskodex sowie den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Zum kulturpolitischen Kontext der Diskussion um die Nachhaltigkeit wird es einen Impuls von Dr. Sebastian Brünger von der Kulturstiftung des Bundes geben.

Claudia Schmitz, Geschäftsführende Direktorin des Bühnenvereins: „Die Bühnen stehen aktuell vor großen Herausforderungen: Die Folgen der Pandemie sind evident. Der Prozess der Transformation wird von außen wie von innen forciert: die Wiedergewinnung des Publikums, die Öffnung der Häuser, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für künstlerisch Beschäftigte als ein Aspekt in der Diskussion um Nachhaltigkeit. Diese Themen werden uns auf der Hauptversammlung u.a. beschäftigen mit dem Ziel, eine gemeinsame Strategie und Verantwortung aller Beteiligten, d.h. der Rechtsträger wie der Bühnen, zu erarbeiten."

Die Intendant:innengruppe des Deutschen Bühnenvereins verleiht im Rahmen der Jahreshauptversammlung am 11. Juni 2022 den Dr. Otto Kasten-Preis. Der Preis wird seit 1985 im Zweijahresrhythmus an junge Theaterschaffende aus allen künstlerischen Bereichen verliehen. Insgesamt ist der Preis mit € 10.000 dotiert. In diesem Jahr wird der Preis zu gleichen Teilen an fünf Einzelkünstler:innen und Gruppen für unterschiedliche digitale Projekte verliehen: Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra, Regisseurin Franziska Angerer, die Performance-Gruppe pulk fiktion, die Performerin Jana Zöll sowie die Online-Inszenierung „Wir sind noch einmal davongekommen“ des Studiengangs Schauspiel der Theaterakademie August Everding.

Die Preisträger:innen des Dr.-Otto-Kasten-Preises 2022

„Cecils Briefwechsel“ von Regisseurin Sapir Heller und Dramaturgin Lena Wontorra entstand, nachdem die Proben zur Uraufführung „Gott Vater Einzeltäter“ von Necati Öziri am Nationaltheater Mannheim auf Grund der Pandemie unterbrochen werden mussten. Die Theaterfigur Cecil wandte sich an ihr Publikum und lud im Lockdown zum Inszenieren am (Küchen-)tisch ein. Es entstand ein reger Austausch zwischen Theater und Publikum, der seine Spuren auch in der Bühneninszenierung hinterlassen wird. Mit diesem Projekt wurde der Aspekt der Inszenierung auch für das Publikum zu einer sinnlichen Erfahrung. Weil das Projekt als Briefwechsel angelegt war – Cecil forderte die Adressat:innen auf, ihr zu antworten –, entstand ein im hohen Maße kommunikativer und im besten Sinne analoger, poetischer Austausch zwischen künstlerischem Team und Publikum. Das Musiktheaterprojekt „Dichterliebe“ von Regisseurin Franziska Angerer am Staatstheater Darmstadt verlegt Christian Josts Rekomposition von Robert Schumanns berühmtem Liedzyklus in den digitalen Raum und greift den assoziativen Strom der Musik in filmischen Bildern auf. In den Räumen des Theaters und in der Natur entstand gemeinsam mit acht Sänger:innen aus dem Opernensemble und neun Musiker:innen aus dem Staatsorchester eine filmische Reise, die von Isolation, Sehnsucht und dem Wunsch nach Verschmelzung erzählt. Mit großem technischen Aufwand wird hier klassisches Musiktheater in ein neues
Medium übersetzt und auf verschiedenen Ebenen inszeniert: Die Musik wird durch eine szenisch-performative Ebene angereichert und schließlich mit der Ebene der Natur verbunden. Dabei entstehen eindringliche Bilder vom Aufkeimen und Zerbrechen einer rätselhaften Liebe, geheimnisvolle Räume voll Schönheit und Schmerz.

Der „Homewalk“ der Kölner Performancegruppe pulk fiktion ist ein partizipatives Walk-Hörtheater-Format, in dem drei verschiedene Wohnungen zu einer geografischen Einheit namens Wohnanien verschmelzen. Zwei Kinder und die Reiseleiterin sind über die Kommunikations-Plattform Jitsi verbunden. Gemeinsam erleben sie Situationen und sammeln Erfahrungen. Das Projekt fördert einerseits Einfühlungsvermögen, Vorstellungskraft, Konzentration und Improvisationstalent und ermöglicht andererseits durch seine interaktive Natur, Kindern in der Zeit der Pandemie Begegnungen mit Freunden, die sie ggf. nicht sehen können, oder ein Kennenlernen neuer Menschen. Der „Homewalk“ wird nicht zuletzt zu einem
lustvoll lebendigen Ereignis für alle Beteiligten.

Die Leipziger Performerin, Schauspielerin, Tänzerin und Autorin Jana Zöll beschäftigt sich in der interaktiven Online-Performance „ich bin“ per Zoom-Konferenz mit dem Körper, der Identität, mit Selbst- und Fremd-Zuschreibungen. Sie interessiert besonders, inwiefern unsere Neigung, Dinge und Personen in Kategorien einzuordnen, dem Wunsch nach einer offenen Gesellschaft widerspricht. „Ich bin” war der Auftakt der Spielzeitreihe „Challenge Accepted” am Theater der Jungen Welt (TDJW) Leipzig. Die interaktive Auseinandersetzung mit dem Körper und körperlichen Einschränkungen greift mit ihren Fragestellungen rund um Geschlecht, Behinderung, Herkunft oder Sexualität Kategorien auf, die bei dem jungen Zielpublikum zentrale Bausteine der Identitätsbildung darstellen. Außerdem leistet die Performance einen in die Zukunft gerichteten wichtigen Beitrag zum Thema Barrierefreiheit.

Die Produktion des Studiengangs Schauspiel an der Theaterakademie August Everding von Thornton Wilders Stück "Wir sind noch einmal davongekommen" musste pandemiebedingt abgesagt werden. Die neue Situation verschaffte dem Stück über Katastrophen der Menschheitsgeschichte jedoch auf eine gespenstische Art und Weise eine ganz neue und eigene Aktualität. Das Projektteam der Schauspiel-Studierenden um Regisseur Marcel Kohler entschied sich für die Umsetzung des Stücks als virtuellen Theaterabend mit zwei Livestreams auf YouTube. Die Neukonzeption der Probenprozesse im digitalen Raum forderte völlig neue Arbeits und Denkstrukturen von allen Beteiligten, insbesondere von den neun Schauspieler*innen hinter ihren Webcams. Beeindruckend am Ergebnis sind die Form, die Ästhetik aber auch der gekonnte Umgang mit der digitalen Technik.