Patrick Higgins
Patrick Higgins auf dem moers festival  
Foto:  Miriam Juschkat

Vor einem halben Jahrhundert als New Jazz Festival gegründet, empfing das moers festival in diesem Jahr seine Besucher*innen mit einem strahlend blauen Sommerhimmel. Die Freude über das physische Erleben von Musik und Zusammensein war überall spürbar, die Atmosphäre von einer wunderbar friedlichen Gelöstheit. Die Stadt war wieder einmal moersifiziert.

Bereits am Freitagmittag ging es los: Das Festival startete mit einem Guerilla-Konzert im Büro von Bürgermeister Christoph Fleischhauer. Der betonte später in seiner offiziellen Eröffnungsansprache die Gefährdung von Künstler*innen weltweit, die unter Repressalien und Ausreiseverboten litten.

Umso schöner, dass in diesem Jahr 205 Künstler*innen aus 25 Ländern nach Moers kommen konnten und niemand absagen musste. Nach drei vergeblichen Anläufen gelang es nun endlich, die Sänger*innen von Gamo Gamo aus Äthiopien nach Moers zu holen. Aus der Hauptstadt Addis
Abeba brachte das Trio Buna am Freitag eigenwillig-coole Grooves in die Festivalhalle.

Zuvor hatte Matthew Welch, Amerikaner mit schottisch-deutschen Wurzeln, auf der Open Air Bühne am Rodelberg gezeigt, dass man mit einem Dudelsack auch minimalistische Avantgarde zur Eröffnung des 51. moers festivals spielen kann.

Festivalhalle und Rodelberg waren die Fixpunkte, auf denen alternierend das Hauptprogramm stattfand. Und manchmal auch @the same time! Bei diesem neuen Format spielten Musiker*innen auf den beiden Hauptbühnen gleichzeitig, für die Zuschauer*innen unhörbar über in-ear-Kopfhörer miteinander verbunden. So fanden z.B. zwei Saxophonquartette über einen halben Kilometer physischer Distanz zum gewaltigen Oktett zusammen. Und das ganze Oktett wiederum kann man nun und für immer, elegant geschnitten, in der virtuellen Welt Moersland erleben.

Neu war auch der Fachbereich 08 für nicht-anthropogene Musik, kuratiert vom Künstlerkollektiv Recursion aus Duisburg und Moers. „Nach zwei Jahren (fast) ohne Publikum fanden wir es konsequent, nun die Musiker*innen wegzulassen“, erklärten die drei Projektleiter. Täglich über
mehrere Stunden konnte man einen faszinierenden Mix aus audiovisueller Performance, Klanginstallationen und schräger Ausstellung erleben – intelligente Konzepte u.a. von dem USAmerikaner Patrick Higgins oder der Kölner Künstlerin Tina Tonagel, immer musikerfrei. Auf der Hauptbühne waren die Compressorheads Stickboy & Bones zu erleben, musizierende Roboter, die feinen Maschinenrock von Florian Walter spielten und am letzten Tag eine Referenzgröße der elektronischen Szene, Robert Henke an 80er- Jahre Commodore-Computern.

Gänzlich Unerwartbares konnte man auf dem neuen Bühnenformat ANNEX erleben. Hier hatten die Festivalmusiker*innen freie Hand: spontan konnte man sich zu nie geahnten Formationen zusammenfinden, Gäste einladen und wild experimentieren, ohne dass die Festivalleitung sich
einmischte. Geschäftsführerin Jeanne-Marie Varain brachte das Konzept mit zum Festival.

Neben dem bereits erwähnten Äthiopien lagen weitere Schwerpunkte auf Ländern, die in der Welt der Improvisation nicht gerade überrepräsentiert sind: Israel und Italien.

Aus Tel Aviv kam die Konzeptkünstlerin Maya Dunietz an den Niederrhein und zeigte u.a. ein sehr berührendes Projekt: Ihr Chorbuch Hal Shirim auf arabische Texte palästinensischer Dichter wurde interpretiert vom Mädchenchor des Essener Doms. Die Leidenschaft, mit der die jungen Damen
die arabischen (!) Chorsätze performten, sorgte für knisternde Spannung und überwältigenden Applaus – eine ganz starke Leistung, an der die Komponistin als Dirigentin und das fantastische Meitar Ensemble natürlich auch einen großen Anteil hatten.

Aus der italienischen Hauptstadt Rom präsentierten Formationen um den Gitarristen Francesco Diodati sensible Saitenexperimente, die Anklänge an ältere Musikkulturen aufblitzen ließen. In anderen Projekten integrierte der Römer auch elektronische Instrumente.

Ein lange nicht realisierbares Herzensprojekt des künstlerischen Leiters Tim Isfort gemeinsam mit Jan Klare, Kurator der auch in diesem Jahr wieder gut besuchten moers sessions, konnte endlich auf der Festivalbühne gezeigt werden: 3 Fingers in the Dark, eine Produktion, mit der das moers
festival seine Verbundenheit mit befreundeten Musikerinnen aus Myanmar zum Ausdruck brachte.

Der Tänzer Kolatt setze die klanglichen Impulse der Musiker*innen aus Italien, den USA und aus Italien kongenial in eine bewegende Tanzperformance um, die in ihrer Explizitheit die brutale Unterdrückung durch das Militärregimes für jeden im Saal spürbar werden ließ. Befreundete Musiker aus Myanmar selbst, die nicht ausreisen konnten, wurden per Video zugeschaltet.

Braucht ein Festival ein Herz – und wo schlägt es in diesem Jahr? fragte eine Besucherin auf einem der social media-Kanäle. Die Antwort darauf kann nur lauten: natürlich in Moers, mittendrin in der Stadt, mitten unter den Tausenden, die sich zum 50. Geburtstag an den drei Spielorten
Festivalhalle, Open Air-Bühne am Rodelberg und ANNEX sowie im digitalen Moersland von Musik, Kunst- und Spielaktionen ihr eigenes moers komponierten und sich mit viel Freude durch die zahlreichen Angebote der Bühnen und über fünfzig Marktstände improvisierten.

Insgesamt zeigte das Programm zum fünfzigsten Geburtstag die enorme Vielfalt und Breite, die das moers festival weltweit so einzigartig macht. Von krachendem Metal à la Liturgy oder Lightning Bolt über energetischen Free Jazz bei [Ahmed] hin zu Neuer Musik, z.B. bei den Horse Lords
spannte sich wieder ein enormer Bogen. Nicht zu vergessen der bereits zum fünften Mal stattfindende Jugendworkshop moersterclass!, der Musik von vier Jugendlichen auf beeindruckendem Niveau im Hauptprogramm präsentierte.

So vielfältig wie die Programmpunkte waren nach zwei Jahren der Reduktion endlich wieder die Spielstätten: Ladenlokale, Straßenecken, Büros und natürlich der Park wurden wieder als Locations eingebunden.

Zur großen Freude der Festivalmacher*innen scheint sich eine neue Generation von Besucher*innen auf den Weg nach Moers gemacht zu haben, was insbesondere am Festival-Sonntag bei den Konzerten am Rodelberg zu beobachten war. Zur Musik von Lightning Bolt und später am Abend den Horse Lords standen Junge und Junggebliebene miteinander vor der Bühne.

Und auch die Kinder hatten ihren Spaß, wenn sie die Musik-Robots von Moritz Simon Geist in Bewegung brachten oder die Klanginstallationen von Bart Maris im Wo die wilden Kinder wohnen-Land zum Schwingen brachten.

Ein Resumee in Zahlen: 1500 verkaufte Tickets, gut 15.000 Besucher*innen an allen Tagen auf den drei Märkten, begeisterte Musiker*innen aus vier Kontinenten, eine rundum zufriedene Polizei, die keinerlei Zwischenfälle zu vermelden hatte und gut 50 Journalist*innen aus vielen Ländern sorgten für eine würdige Geburtstagsatmosphäre und machen schon jetzt wieder neugierig auf Pfingsten 2023.