Singtreffen in Berlin Jungfernheide 1928 mit Fritz Jöde (AdJb A 228 Nr. 4509)
Singtreffen in Berlin Jungfernheide 1928 mit Fritz Jöde (AdJb A 228 Nr. 4509)  
Foto:  Archiv der deutschen Jugendbewegung

Mit den Folgen der Jugendmusikbewegung hatten sicherlich viele bereits zu tun: Wer beispielsweise zu einer öffentlichen Musikschule geht, in einem Musikkreis musiziert, Blockflöte spielt oder in einem Laienchor singt, profitiert dabei, meist ohne es zu wissen, von Errungenschaften dieser Bewegung. Trotz vielfältiger Auswirkungen bis in die heutige Zeit ist das historische Phänomen der Jugendmusikbewegung heutzutage kaum noch ein Begriff; auch in der Musikwissenschaft wurde es lange als randständig ausgeblendet. Ein neues Online-Themenportal lädt nun dazu ein, diese Wissens- und Wissenschaftslücken zu füllen.

Als eine musikpädagogische Bewegung entwickelte sich die Jugendmusikbewegung um 1920 aus der Jugendbewegung heraus und setzte sich zum Ziel, die Jugend bzw. letztlich das ganze Volk zum Singen und zu musikalischer Betätigung zu führen. Das Laienmusikleben in all seinen uns heute bekannten Facetten wurde durch die Jugendmusikbewegung aufgebaut: Mit Jugend- und Volksmusikschulen entstanden Institutionen für die musikalische Bildung, der schulische Musikunterricht und die Lehrerausbildung wurden auf neue Füße gestellt, (alte) Instrumente nachgebaut und verbreitet, das musikalische Repertoire erweitert, zahlreiche Editionen für die musikalische Praxis erstellt und Beteiligungsformate wie das Offene Singen oder die Musikwoche begründet.

Die Hochphase der Jugendmusikbewegung lag dabei in den 1920er Jahren, doch setzten viele Akteure ihre Musikarbeit unter den Bedingungen der NS-Herrschaft fort; nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie am Wiederaufbau des Musiklebens beteiligt, der im Rekurs auf die vormals entwickelten Ideen begonnen wurde. Nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich sind die Grenzen der Jugendmusikbewegung nicht klar zu ziehen, denn ihr Einfluss reichte – über Verbindungen einzelner Akteure ins Ausland und über Exilanten – weit über Deutschland hinaus.

Im Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein befindet sich ein umfangreicher Quellenkorpus zur Jugendmusikbewegung, der nicht nur Einzelnachlässe mehrerer bedeutender Akteure, sondern vor allem auch den Großbestand des „Archivs der Jugendmusikbewegung“ (Bestand A 228) umfasst. Das Archiv der Jugendmusikbewegung, von Fritz Jöde – einem Hauptvertreter der Bewegung – 1959 in Hamburg gegründet, wurde bereits 1978 in das Verzeichnis „national wertvoller Archive“ aufgenommen und setzte seine Sammlungstätigkeit bis Mitte der 1980er Jahre fort. Mit ca. 350 Archivkartons, Fotosammlung, Tondokumenten und einer eigenen Bibliothek stellt A 228 heute ein veritables „Archiv im Archiv“ dar, über das der Musikwissenschaftler Fred K. Prieberg 1983 dem damaligen Hamburger Archivleiter Heinrich Schumann schrieb: „Ihr Archiv ist ganz unverzichtbar für alle, die sich mit Musikgeschichte zwischen 1900 und heute befassen; denn Jugendmusik greift weit über ihre engeren Grenzen hinaus, personell wie sachlich“ (Brief von Fred K. Prieberg an Heinrich Schumann, 3.12.1983, AdJb A 228 Nr. 122).

Im Rahmen des seit 2020 laufenden DFG-Projektes „Vernetzte Quellen zur deutschen Musikkultur des 20. Jahrhunderts: Die Jugendmusikbewegung“, in dem zunächst die relevanten Bestände erschlossen wurden, konnten die beiden Musikwissenschaftlerinnen Ute Brüdermann und Amrei Flechsig nun ein umfangreiches Online-Themenportal fertigstellen, das die Jugendmusikbewegung in ihrer Vielschichtigkeit beleuchtet – eine Seite, die zum Stöbern wie zur umfassenden Information gleichermaßen einlädt.

Kommentierte Dokumente, Fotos und Hörbeispiele vermitteln auf der Startseite ein erstes Bild von der Jugendmusikbewegung. Ausführliche Artikel zu den verschiedenen Phasen der Jugendmusikbewegung, illustriert anhand zahlreicher Dokumente des Archivbestands, bieten die Möglichkeit, sich umfassend zu informieren („Ursprünge in der Jugendbewegung“, „Hauptphase der Jugendmusikbewegung 1918-1933“, Jugendmusikbewegung unter NS-Bedingungen 1933-1945“, „Jugendmusikbewegung nach 1945“, „Phase der Dokumentation und Diskussion“). Hintergrundtexte liefern zusätzliche Informationen, stets eng an das verfügbare Archivmaterial angelehnt. Biografische Einzeldarstellungen zu fast 20 führenden Köpfen der Bewegung beleuchten die Jugendmusikbewegung aus verschiedenen Blickwinkeln (Walter Blankenburg, Max Drischner, Werner Gneist, Georg Götsch, August Halm, Olga Hensel, Walther Hensel, Hilmar Höckner, Fritz Jöde, Ekkehart Pfannenstiel, Richard Poppe, Fritz Reusch, Heinrich Schumann, Hermann Schütt, Wolfgang Stumme, Kurt Sydow, Willi Träder, Wilhelm Twittenhoff, Gottfried Wolters).

Ein komfortables Zusatzangebot für diejenigen, die selbst in die Recherche einsteigen möchten, ist eine integrierte Quellen- und Literatursuche, die auf Aktenbestand (Archivinformationssystem Arcinsys) und Bibliotheksbestand (Opac) gleichermaßen zugreift und über die man jeweils direkt in die betreffenden Online-Kataloge weitergeleitet wird.

Die Jugendmusikbewegung hat im Laufe des vergangenen Jahrhunderts viel Kritik erfahren, wobei der „Dilettantismus“-Vorwurf, dessen prominentester Vertreter Theodor W. Adorno war, häufig wiederkehrte. Angesichts ihrer historischen Bedeutung und ihrer immensen Nachwirkung verdient sie aber eines ganz gewiss: dass man sie kennt und sich mit ihr beschäftigt. Hierfür eröffnet das Themenportal neue Möglichkeiten und Perspektiven.

https://www.adjb-jugendmusikbewegung.de/