Die neue Ausgabe des Moers-Festivals mutet nach einem flüchtigen Blick auf das Programm ein wenig nostalgisch an, denn viele Namen kennt man aus früheren Festivals. Doch ein näherer Blick macht neugierig, denn in den Bands gibt es viele Überschneidungen über geographische, musikalische und Generationsgrenzen hinweg.
Die Ausnahme: Helge Schneider. „15 Jahre später“ könnte sein Programm heißen, denn 1989 gehörte er zum Festivalprogramm. Nicht auf der großen Bühne, sondern im Park und am Eingang. Auf einem LKW als Bühne, also noch näher am Publikum, führte er merkwürdige Situationen auf, und sein skurriler Humor traf auf große Begeisterung bei Zuhörern und Medien. Doch Helge ist nicht nur Entertainer, sondern auch ein ungewöhnlich kenntnisreicher Musiker. Im östlichen Ruhrgebiet rufen Berichte von den Mühlheimer Jam Sessions mit Helge vor zwei Jahrzehnten immer noch starke Gefühle hervor. Und heute?

Moers ist keine Nostalgieveranstaltung für inzwischen grauhaarige Revoluzzer von damals, die ihre Probleme mit dem Älterwerden einmal im Jahr „offiziell“ überspielen wollen. David Murray war im vorigen Jahr ein paar Monate auf Kuba, aber nicht um einen neuen „Buena Vista Social Club“ zu finden. Er spielte mit aktiven kubanischen Jazzmusikern. Deren Tradition und die musikalische Freiheit, für die Murray steht, gehen in der Cuban Big Band explosive Verbindungen ein. Die Band ist ein Projekt in Bewegung, keine Repertoire-Band.

Die Festival-Projekte führen zwei Musiker an, die in den letzten Jahren ein wichtiges europäisches Podium in Moers fanden: der Saxophonist Mars Williams und der Posaunist Nils Wogram. Williams bringt lebhafte Improvisatoren aus seiner Heimatstadt Chikago und Zirkusartisten mit. Vielleicht führt das zu geradezu athletischen Sessions. Auf der Bühne im Zelt spielt er mit „Liquid Soul“ und seiner neuen Band „XmarsX“. Wogram präsentiert einen Brückenschlag von seiner künstlerischen Heimat, dem „Loft“ in Köln, auf die New Yorker Downtown- Szene. Diese Szene ist auch mit neuen Bands in Moers vertreten. Erik Friedlander und sein Quartett „Topaz“, Ned Rothenberg mit seiner „Double Band“, in der Marty Ehrlich den Platz des verstorbenen Thomas Chapin einnimmt und Frank London, der mit seinen „Klezmer Jazz All Stars“ und dem serbischen „Boban Markovic Orkestar“ eine „Brotherhood of Brass“ inszenieren wird.

Mit einigen Konzerten werden künstlerische Schwerpunkte aus vergangenen Jahren fortgeführt, wie es in Moers immer möglich war. Im „Arab Orchestra of Nazareth“ geben moslemische, jüdische und christliche Musiker ein Bild vorweg, was Frieden in der Region bedeuten könnte. Die ägyptische Sängerin Oum Kolthoum, über Jahrzehnte ein Musikidol in der ganzen arabischen Welt, wurde vor 100 Jahren geboren. Ihr widmen die Musiker ihr Konzert. Ihre Sängerin Lubna Salame macht gerade eine rasante Karriere in der arabischen Welt. Evelyn Glennie ist eine gehörlose Perkussionistin, die die Klänge über ein besonderes Monitorsystem als Schwingungen wahrnimmt. New York Philharmonic und andere Orchester engagieren sie gern als virtuose Spezialistin für besondere Schlagzeugeinsätze. In Moers improvisiert sie mit Fred Frith. Die NDR-Big-Band hat den englischen Komponisten Colin Towns mit einem Frank-Zappa-Programm engagiert, der den Spruch „Jazz isn’t dead, it just smells funny“ ausloten wird.

Zwei junge Gruppen aus Frankreich werden uns zeigen, in welche Richtung die„folklore imaginaire“ geht. « le sacre du tympan» und «Collectif Slang« verfügen mit Méderic Collignon und Fred Pallem über zwei Musiker, die an Louis Sclavis anschliessen, aber ihre eigenen Wege gehen. Fernando Lameirinhas aus Portugal kommt aus der Tradition des Fado, mit dem er sich kreativ auseinandersetzt. Bill Brufords „Earthworks“ mit dem Saxophonisten Tim Garland und Ketil Björnstad aus Norwegen runden mit Musik aus zwei weiteren Zentren der aktuellen Entwicklung den Europa- Schwerpunkt ab. Sainkho Namtchylak aus Tuva verwandelt ihren Obertongesang mit digitaler Elektronik und harten Pop-Rhythmen. Das Trio Ragin-Kessler-Drake aus Chikago demonstriert, dass der Freejazz kein abgeschlossenes Kapitel in Musikgeschichtsbüchern ist.

David Thomas, Urgestein des amerikanischen Artrocks, beeindruckte in Moers vor drei Jahren mit seinen „Two Pale Boys“. Mit “Reflections in the Mirrorman“ schreibt er ein neues Kapitel seiner Odyssee zwischen Jazz und Rock, dieses Mal mit amerikanischen und englischen Musikern und sehr viel Elektronik. Die African Dance Night stellt Top Acts aus Südafrika und Algerien vor. „Bongo Maffin“ ist eine junge Gruppe der ersten Generation, die nicht unter der Apartheid aufgewachsen ist. Ihre Musik, Kwaito, ist eine Mischung aus Roots, Reggae, Rap und Jazz und kam nicht nur zwischen Kapstadt und Johannesburg bei den Fans an. „Gnawa Diffusion“ ist eine algerische Band, die in Frankreich lebt und zuletzt mit ihrer CD „Souk System“ die Kritik begeisterte. Explosive Rhythmen unter Texten, die Kritik an der großen Politik üben und gleichzeitig in der poetischen Tradition des Maghreb stehen, haben ihren Erfolg in Frankreich begründet. Lucky Dube hatte in Südafrika Erfolg mit traditioneller Musik der Zulu, bis er sich dem Reggae zuwandte, weil er nur diese Musik für geeignet hielt, Botschaften an möglichst viele Menschen weiterzugeben. Gerechtigkeit, Frieden und humanes Handeln und Fühlen sind seine Botschaften. „Mzekezeke“ hat gerade einen stürmischen Durchbruch in Südafrika gefeiert. Er wurde vom Publikum zum Künstler des Jahres gewählt und erhielt den „South African Music Award“. Viele Journalisten prophezeien ihm eine große Karriere und eine kreative Weiterentwicklung seiner Art, sich in der „Kwaito“-Musik seiner Heimat auszudrücken. Eine andere gute Tradition in Moers ist die Kooperation mit der „Aktion Mensch“. Behindertengerechte Logistik, Besondere musikalische Erfahrungen bei den „Konzerten im Dunklen“, Integration von Behinderten im Publikum und auf der Bühne – „respect im ressort mensch“.

Kontakt: Burkhard Hennen
Künstlerischer Leiter
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