Die musikalisch-kreative Förderung von Flüchtlingen bzw. von Kindern und Jugendlichen mit Einwanderungsgeschichte gehört zu den „weißen Flecken“ in der deutschen Bildungslandschaft. Wie ein kontinuierliches Unterrichtsangebot zur Stärkung von Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweit- oder Drittsprache aussehen kann, zeigt das Projekt „ImproKultur“ an der Integrierten Gesamtschule (IGS) in Hannover-Linden: Unter Anleitung von fortgeschrittenen und ehemaligen Studierenden der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) stehen für die beiden dortigen Sprachlernklassen seit November 2015 wöchentlich 90 Minuten Musizieren und Improvisieren auf dem Stundenplan.
15 Schülerinnen und Schüler zwischen zehn und 16 Jahren zählt die „Sprachlernklasse 2“, die Kinder und Jugendliche aus elf Ländern Europas, Asiens und Afrikas auf eine erfolgreiche Teilnahme am Regelunterricht der IGS vorbereiten soll. Sprachlernklassen werden in Schulen eingerichtet, die von mindestens zehn Schülerinnen und Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache besucht werden. Wegen des hohen Unterstützungsbedarfs in der deutschen Sprache sind sie noch nicht in der Lage, dem Unterricht in einer Regelklasse zu folgen, insbesondere dann nicht, wenn sie in ihrer Herkunftssprache unzureichend alphabetisiert sind und/oder über nur eine geringe oder keine schulische Grundbildung verfügen. „In der Regel dauert es ein Jahr, bis durch einen systematischen Spracherwerb der Übergang von der Sprachlernklasse in die Regelklasse erfolgen kann“, erklärt Prof. Dr. Andrea Welte, Musikpädagogik an der HMTMH. „Diese langfristige Perspektive gibt uns die Möglichkeit, nachhaltig zu arbeiten und ‚ImproKultur – ausgehend vom Pilotprojekt an der IGS Linden – nach und nach weiterzuentwickeln. Auch eine Dokumentation und wissenschaftliche Auswertung sind vorgesehen.“
Angeleitet wird die „SKL 2“ von Luisa Arnitz und Lena Schäfer, beide aus dem Studiengang „Künstlerisch-pädagogische Ausbildung“, sowie von HMTMH-Absolvent Markus Ruhland. Als fortgeschrittene Studierende und Berufsanfänger konzipieren, realisieren und reflektieren die drei den Unterricht im Team. „ImproKultur soll die kommunikative Kompetenz der Kinder und Jugendlichen nachhaltig fördern und verbessern“, nennt Masterstudentin Lena Schäfer eines der wesentlichen Projektziele: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass ihnen die musikpraktische Erfahrung und die Reflexion über selbst erfundene Musik beim Erlernen der deutschen Sprache helfen kann!“
Die drei Lehrkräfte animieren die Gruppe spielerisch zum Klatschen und Singen, zu kleinen Theaterszenen und zum gemeinsamen Tanzen. Die stille Daniela aus Bulgarien muss lachen, als sie ihren Namen ohne Vokale aussprechen soll und verständigt sich mit Händen und Füßen als es darum geht, sich mit ihrem Alter an die richtige Stelle in einer langen Reihe einzusortieren. „Singt ihr mit eurer Familie?“, fragt Lena Schäfer
und die Gruppe teilt sich, um zu den Klängen des Klaviers wahlweise zur Wand mit dem „Ja“- oder zur Wand mit dem „Nein“-Schild zu eilen – einige Fragen später wissen die Lehrkräfte schon recht genau, wer von ihren Schützlingen welche musikalische Vorerfahrung aufzuweisen hat. Adela aus Serbien blieb etwas ganz anderes von ihrer ersten Stunde in Erinnerung: „Das Lied war am besten“, strahlt sie und wundert sich vielleicht selbst ein wenig, wie schnell aus den drei Silben „le, lo, la“ ein ganzer „Sprachlernklassen-Song“ geworden war – begleitet von Sabrina aus Ghana und Tobi aus Nigeria auf dem „Rhythmus-Ei“.
„Das war definitiv sehr viel Energie auf einem Fleck“, lacht Luisa Arnitz nach Ende der ersten Stunde. „Es ist schon bemerkenswert, wie viel Lust die Kinder und Jugendlichen an Musik und Bewegung haben!“ In einer wertfreien Zone lustvoll zu musizieren, Offenheit und Toleranz gegenüber Ungewohntem walten zu lassen – das soll im Mittelpunkt von „ImproKultur“ stehen. „Musik stärkt das Selbstvertrauen und verbessert das Selbstwertgefühl!“, weiß Markus Ruhland. „Für die Flüchtlingskinder in der Gruppe hoffen wir, dass die Musik ihnen Trost schenken kann und dabei hilft, Erlebtes nonverbal auszudrücken und zu verarbeiten.“
Markus Ruhland und allen übrigen Lehrkräfte, die in den kommenden drei Jahren in „ImproKultur“ involviert werden, soll das Projekt in den Bereichen „Didaktik der Gruppenimprovisation“, „interkulturelles Lehren und Lernen“, „Inklusion“ und „Team Teaching“ (weiter)qualifizieren. Eine angemessene pädagogische, psychologische und improvisationsdidaktische Vorbereitung und Begleitung ist gesichert: Corinna Eikmeier, HMTMH, fungiert als Mentorin für Improvisation, Monika Jütte, Fachberaterin der Landesschulbehörde Hannover, als interkulturelle und schulpädagogische Beraterin. Prof. Dr. Andrea Welte wird die Unterrichtseinheiten mit den Lehrkräften in einem begleitenden Jour fixe in der HMTMH vor- und nacharbeiten. „Durch dieses Projekt konnten wir uns schon ein sehr spannendes Netzwerk in und um Hannover aufbauen“, freut sich Lena Schäfer: Wertvolle Impulse im Vorfeld gaben unter anderem Prof. Peter Ausländer, Universität Bielefeld, und Prof. Dr. Zimmermann, Leibniz Universität, mit ihren Seminaren „Improvisation“ und „Umgang mit traumatisierten Jugendlichen“.
Möglich wird das von Musikpädagogikprofessorin Dr. Andrea Welte auf mindestens drei Jahre angelegte Projekt nur durch die Initiative des Förderkreises für die HMTMH e. V. mit besonderer Unterstützung durch Dr. Gisela Sperling.
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Quelle
http://www.hmtm-hannover.de