1923: Deutschland im Chaos, Rheinland und Ruhrgebiet besetzt, Inflation, Separatismus, Rechtsputsch in München. Doch in Augsburg laufen Liedblätter mit „Auf, du junger Wandersmann“ und anderen Volksliedern aus der Druckerpresse. Wie passt das zusammen? Die Zeit war von krassen Gegensätzen geprägt. Das Land, das sich von Versailles gedemütigt fühlte, begehrte auf, drohte auseinanderzufallen. Und anderswo trafen sich junge Menschen im „Wandervogel“. Gemeinschaft pflegten sie, das Singen und Musizieren, das einfache Leben. Einer von ihnen war Karl Vötterle, 1903 in Augsburg geboren, noch nicht volljährig, ohne Berufsausbildung. Doch mit einer Idee. Die Wandervögel brauchten Noten. Ein Griff nach den Sternen, denn nie zuvor hatte er einen Verlag von innen gesehen. Ein Griff nach den Sternen war denn auch der Verlagsname: „Bärenreiter“ nach dem matten Stern auf dem Großen Bären, arabisch Alkor genannt.
Im elterlichen Wohnzimmer wurden die schlichten Liedsammlungen gebunden und von dort aus versandt. „Finkensteiner Blätter“ hießen die ersten Veröffentlichungen nach dem Örtchen Finkenstein in der Tschechoslowakei, wo Vötterle an einer Singwoche mit dem charismatischen Walther Hensel teilnahm. Erst Monate später, im April, wurde der Verlag offiziell eingetragen, als der Jungverleger 21 Jahre alt wurde.
„Warum sollte ich nicht bei mir selbst in die Lehre gehen?“, fragte sich Vötterle und erweiterte nach und nach das Verlagsprogramm. „Alte Musik“ kam hinzu, Werke von den damals nur in Fachzirkeln bekannten Leonhard Lechner und Heinrich Schütz. Und natürlich auch Musik von Johann Sebastian Bach
Vier Jahre nach den Anfängen verließen Vötterle und seine treuen ersten Mitarbeiter die Stadt am Lech und zogen in das nordhessische Kassel. Der künftige Schwiegervater half mit einem Grundstück, die Stadt mit einem Darlehen. Von nun an wuchs das Unternehmen stetig. Bücher zur Musik, zur Theologie und zu anderen Themen kamen hinzu. Die Nazizeit verging nicht ohne Kompromisse, doch wurde Vötterle wegen kritischer Aufsätze in der Zeitschrift „Der Sonntagsbrief“ zeitweise die Verlegerlizenz entzogen. Durch geschicktes Agieren konnte eine Verlagsschließung abgewendet werden.
Beim letzten großen Bombenangriff auf die Industriestadt an der Fulda wurde auch das Verlagsgebäude am Stadtrand, wo der Verlag noch heute angesiedelt ist, zerstört. Es war die Stunde Null, wie sie viele durchleben mussten. Doch der Wiederaufbau gelang und in der friedlichen und freien Bundesrepublik gab es viele neue Chancen. Die Enzyklopädie MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart) erbrachte große Reputation in der Musikwissenschaft. Vötterles Vorhaben, Gesamtausgaben der großen Komponisten zu verlegen, schließlich schuf das Fundament, auf dem der Verlag heute noch ruht: Nach und nach erschienen die ersten Bände der Editionen von Bach, Berlioz, Gluck, Händel, Mozart, Schütz, Schubert, Telemann, später auch von Fauré, Rossini und anderen. Ein völlig neuer Standard wurde mit den Gesamtausgaben geschaffen, und die Auswertung der Bände in „praktische Ausgaben“ für die Musikerinnen und Musiker entwickelte sich zum weltweiten Erfolg. Das Label „Bärenreiter Urtext“ garantiert Verlässlichkeit bin in den letzten Bindebogen.
Auf seinem Höhepunkt hatte Bärenreiter mehr als 350 Angestellte und Arbeiter. Heute sind es nur noch knapp hundert. Die Schließung der Druckerei und vielfache Rationalisierungen trugen dazu bei.
1975 starb Karl Vötterle. Sein Tochter Barbara übernahm die Geschäftsführung, ihr Ehemann Leonhard Scheuch trat wenig später in die Leitung ein. Sich auf den Lorbeeren und Verdiensten des Gründers auszuruhen, kam für das Verlegerehepaar nicht in Frage. So wurde das Verlagsprogramm zum einen auf den Kern fokussiert: die Bereitstellung von editorisch hochwertigen Notenausgaben. Zum anderen wurde das Angebot ebenso konsequent erweitert. Mit der Herausgabe der neun Symphonien Beethovens durch den Engländer Jonathan Del Mar ab 1997 stieß Bärenreiter eine Tür zu Räumen auf, die bisher verschlossen waren: vor allem die französische Musik der Romantik und des Impressionismus, aber auch Werke von Mendelssohn, Schumann, Brahms, Verdi, Elgar und vielen anderen tragen jetzt die Marke „Bärenreiter Urtext“.
Eine Konstante schon seit frühen Jahren ist die mäzenatische Pflege der zeitgenössischen Musik. Große Namen wie Hugo Distler und Ernst Krenek fanden in Kassel ihre verlegerische Heimat, unter den Jüngeren werden Dieter Ammann, Beat Furrer, Philipp Maintz, Matthias Pintscher, Andrea Lorenzo Scartazzini, Charlotte Seither, Miroslav Srnka und andere von Bärenreiter vertreten.
Wohin steuert das Bärenreiter-Schiff? Bis zum Beginn der Corona-Pandemie verlief die Fahrt in ruhigen Gewässern. Die Katastrophe traf den Verlag schwer, weil der wichtige Aufführungsbereich weltweit gestört war oder ganz zum Erliegen kam. Ohne Konzerte kein Notenverkauf. Allmählich glätten sich nun die Wogen. Ein gewisser „Long Covid“-Effekt ist noch nicht ganz überwunden.
Ohne Stürme verläuft der Übergang in die dritte Generation. Seit 2021 ist Clemens Scheuch, der jüngere Sohn des Ehepaars Scheuch, dritter Geschäftsführer. Seit vielen Jahren schon hat er nach und nach Aufgaben im Verlag übernommen. Den Anschluss an die Digitalisierung, die auch vor dem Musikverlagswesen nicht halt macht, hat er sich als eine der wichtigsten Aufgaben gestellt.
Das Familienunternehmen wird also weiterbestehen. Trotz der 100 ist es nicht in die Jahre gekommen. Ein hoch qualifizierter Mitarbeiterstamm sorgt für eine Weiterentwicklung auf sicherer Basis.