Musikwissenschaftler der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg haben eine Orgelkomposition von Johann Sebastian Bach entdeckt. Bei dem Werk, von dem bislang nur die ersten fünf Takte bekannt waren, handelt es sich um eine Fantasie über den Choral „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält“. Die Komposition liegt in Form einer Abschrift des ehemaligen Leipziger Thomaskantors Wilhelm Rust in der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) in Halle vor. Die ULB ersteigerte vor wenigen Wochen einen Teilnachlass von Rust.
Entdeckt haben die Komposition nun Dr. Michael Pacholke und Stephan Blaut, die an der Hallischen Händelausgabe arbeiten. Diese kritische Gesamtausgabe ist als Drittmittelprojekt in das Institut für Musik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) integriert. Pacholke und Blaut hatten zusammen mit Dr. Kathrin Eberl-Ruf von der MLU den Erwerb des Nachlasses von Willhelm Rust angeregt. Ein Leipziger Auktionshaus hatte ihn zur Versteigerung angeboten. „Bei der Durchsicht bin ich dann auf ein Stück von Bach gestoßen, das ich nicht kannte. Damit begann die Recherche", berichtet der Musikwissenschaftler Stephan Blaut.

„Die Entdeckung bereichert unser Wissen um das Frühwerk Johann Sebastian Bachs in beträchtlichem Maße und schenkt der Musikwelt eine großartige Komposition in einer in Bachs Oeuvre seltenen Gattung der Orgelmusik", sagt Prof. Dr. Wolfgang Hirschmann vom Institut für Musik der MLU. „Aufgrund seiner Dimensionen und seiner beeindruckenden kompositorischen Gestaltung wird der Fund sicher mit Freude Aufnahme sowohl bei der Fachwelt als auch bei den Liebhabern der Musik Bachs finden", ergänzt Stephan Blaut.

„Ich kann unsere Musikwissenschaftler zu diesem Fund nur herzlich beglückwünschen", sagt Prof. Dr. Wulf Diepenbrock, Rektor der Martin-Luther-Universität. „Zusammen mit der Universitäts- und Landesbibliothek haben sie Beachtliches geleistet."

Wilhelm Rust (1822-1892) war Musiklehrer, Komponist und Organist (ab 1880 Thomaskantor in Leipzig). Verdienste erwarb er sich als Herausgeber von 26 Bänden der ersten Gesamtausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs, für die er seit 1858 hauptverantwortlich war. Bei der Durchsicht des Teilnachlasses, der u. a. Abschriften Bachscher Musik, kompositorische Arbeiten von Rust und Konzertbesprechungen enthält, konnten Dr. Michael Pacholke und Stephan Blaut das Orgelwerk von Johann Sebastian Bach in einer Abschrift von Rust aus dem Jahr 1877 identifizieren. Bislang waren davon nur die ersten fünf Takte bekannt. Im Bach-Werkeverzeichnis (1950, 21990) wird es unter der Nummer „Anhang II 71" als Werk zweifelhafter Echtheit geführt; in dem von Reinmar Emans 1997 herausgegebenen Thematischen Katalog mit J. S. Bachs Orgelchorälen zweifelhafter Echtheit sind die ersten drei Takte von BWV Anh. II 71 abgedruckt unter dem Hinweis „Quellen nicht nachgewiesen".

Nach eingehendem Studium der Musik, der Ermittlung der Provenienz der Quelle, die Rust als Vorlage gedient hatte, und konsultierender Beratung mit Prof. Dr. Hans-Joachim Schulze und Dr. Peter Wollny (Bach-Archiv Leipzig) konnte die Komposition zweifelsfrei als Werk Johann Sebastian Bachs bestimmt werden. Es handelt es sich um eine Fantasie über den Choral „Wo Gott der Herr nicht bei uns hält" für zwei Manuale und Pedal; bislang kannte man von Bach nur die Choralfantasie „Christ lag in Todesbanden" (BWV 718). Beide Fantasien weisen deutliche Merkmale der norddeutschen Choralfantasie auf, die durch Dietrich Buxtehude ihre stärkste Prägung erfahren hatte. Aufgrund stilistischer Eigentümlichkeiten kann die Entstehung von BWV 718 und Anh. II 71 in die Zeit 1705-1710 datiert werden.

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