Das gab es noch nie bei der Kritiker-Umfrage der Zeitschrift Opernwelt: Das Opernhaus des Jahres ist zugleich auch Ärgernis des Jahres. Wie das? Bei näherer Betrachtung eigentlich ein völlig klares Votum. Doch der Reihe nach. Es ist noch gar nicht so lange her, da dümpelte die einst renommierte Kölner Oper wie ein rostiger Tanker vor sich hin. Der kommunale Eigentümer schien das Interesse verloren zu haben; ein Kapitän, der den Pott wieder hätte flott machen können, war nicht in Sicht. Wehmütig trauerte man großen Zeiten nach, als Köln mit der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns «Soldaten» Theatergeschichte schrieb, als Jean-Pierre Ponnelle hier mit musikalisch «durchkomponierten» Mozart-Inszenierungen Aufsehen erregte oder ein Ensemblesänger namens Matti Salminen das Fundament seiner Weltkarriere legte. Dann kam ein Intendant aus der ostdeutschen Theaterprovinz – und schaffte die Wende.

Fünf Jahre Erfahrung im Krisenmanagement brachte Uwe Eric Laufenberg mit, als er 2009 in Köln antrat. Schon bald nach seiner Berufung zeigte sich, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit war. In Potsdam hatte er am Hans Otto Theater vorgeführt, wie sich selbst unter schwierigsten Bedingungen Programme organisieren lassen, die Qualität bieten und beim Publikum ankommen. Weil der Theaterneubau noch nicht fertig war, bespielte er die ganze Stadt – mit vielen Ortskräften, prominenten Gästen (wie Katharina Thalbach) und Streicheleinheiten für die lokalpatriotisch gestimmte Seele (Fontane, Preußen und Palais). Eine Mischung, die, unter anderen Vorzeichen, auch in Köln erfolgreich funktionierte.

Als das marode Stammhaus am Offenbachplatz nur noch eingeschränkt zur Verfügung stand (inzwischen wurde es für die Sanierung komplett geschlossen), widmete Laufenberg öffentliche Gebäude zur Bühne um: Monteverdis «Poppea» in der ehemaligen Hauptverwaltung des Gerling-Versicherungskonzerns oder Mozarts «Titus» im Treppenhaus einer wilhelminischen Gerichtstrutzburg stießen auf begeisterte Resonanz. Die Uraufführung des «Sonntag» aus Stockhausens «Licht»-Zyklus auf dem Messegelände bescherte Köln weltweite Aufmerksamkeit. Auch bei der Auswahl der Solisten, Gastdirigenten und Produktionsteams hatte Laufenberg einen guten Riecher: Er konnte nicht nur alte Bekannte wie Kiri Te Kanawa, René Kollo oder Matti Salminen überreden, nach jahrelanger Abstinenz wieder in Köln aufzutreten, und Ausnahmekünstler wie den Bariton Johannes Martin Kränzle («Sänger des Jahres» 2011) binden; in Absprache mit GMD Markus Stenz sorgte er dafür, dass erfahrene Dirigenten wie Will Humburg oder der Alte-Musik-Spezialist Konrad Junghänel regelmäßig die Aufbauarbeit des Musikchefs ergänzten. Nach Laufenbergs erster Saison (2009/10) war klar: Der Laden brummte wieder, das Publikum kam wieder. Die bleierne Zeit schien vorüber.

Drei Jahre später ist sie wieder da. Der für den Aufschwung verantwortliche Intendant ist entlassen, die Belegschaft verunsichert, die Atmosphäre vergiftet, die Zukunft ungewisser denn je. Vorderhand führte Zoff ums Geld zum irreparablen Zerwürfnis. Ein Streit um zwei Millionen Euro. Laufenberg erklärte, ihm seien 34 Millionen zugesagt worden, um Kölns Oper auf dem gewünschten internationalen Niveau zu halten, der (eher opernferne) rot-grüne Stadtrat wollte aber nur 32 Millionen bewilligen und forderte außerdem sechs Millionen Euro aus Etatüberziehungen zurück. Schwammig formulierte Verträge, unklare Absprachen, Wirtschaftspläne ohne Rechtskraft und teils überschäumende, teils verbissen-spröde Temperamente taten ein Übriges. Der Konflikt eskalierte.

Die kulturpolitischen Verhältnisse waren ein perfekter Boden dafür. Kungeleien statt Konzepte bestimmten die Debatte. Köln gesellte sich zu den durch kopflose Spar- und Fusionsvorschläge gleichfalls unangenehm aufgefallenen rheinischen Theaterstädten Bonn, Düsseldorf und Duisburg. So hatte man jahrelang versäumt, die (Leitungs-)Struktur und Haushaltsführung der Kölner Bühnen praktischen Erfordernissen anzupassen. Dass es etwa zwischen der Schauspielintendantin Karin Beier und dem Opernintendanten Laufenberg immer wieder knirschte, hatte unter anderem mit der intransparenten Zuteilung städtischer Zuwendungen zu tun. Während der ehemalige Geschäftsführer (und jetzige Chef der Berliner Opernstiftung) Peter F. Raddatz der Schauspielsparte Extra-Millionen zuschob, gab es für die Oper keine entsprechende Aufstockung. Der Dank: Wenn Beier 2013 zum Deutschen Schauspielhaus nach Hamburg wechselt, wird Raddatz ihr Geschäftsführer. Seit 2009 ist Patrick Wasserbauer als geschäftsführender Direktor an den Kölner Bühnen beschäftigt – und umstritten. Inzwischen wird er als Kandidat für die Bayreuther Festspiele gehandelt (und die Stadt Köln hat schnell verlauten lassen, dass sie diesem Schritt nichts in den Weg stellen würde). Belastbare Zahlen und eine trennscharfe, zeitnahe Rechnungslegung konnte er offenbar nicht vorlegen. Das dürfte – nicht nur, aber auch – damit zu tun haben, dass die Kompetenzverteilung zwischen Geschäftsführer, Intendanten und Betriebsdirektoren nicht eindeutig geregelt ist. Der für die Aufsicht zuständige Kulturdezernent Georg Quander schaute zu, bis es zu spät war.

Jetzt soll Laufenbergs Operndirektorin Birgit Meyer die Scherben zusammenkehren. Kaum zur neuen Intendantin ernannt, hat sie ihre alte Stelle abgeschafft. Überhaupt kann Meyer die Sparauflagen der Stadt nur erfüllen, wenn sie das Angebot drastisch zusammenstreicht. Statt der zehn für die aktuelle Saison angekündigten (und über einen Kassenkredit weitgehend geretteten) Premieren wird es ab der Spielzeit 2013/14 wohl nur noch drei oder vier geben. Wie die Kölner Oper bis zur Wiedereröffnung des Stammhauses 2015 das Interim in einem akustisch problematischen Zelt hinter dem Hauptbahnhof überstehen soll, steht in den Sternen.

Glückliches Stuttgart, kann man da nur sagen. Dort war die Oper schon seit den Zeiten von Walter Erich Schäfer ein Musterbeispiel für Ensemblegeist. Das kam in den letzten Jahren zu kurz. Nun, mit der neuen Leitung, ist sie wieder da: diese Kraft des Zusammenhalts, die für Produktionen sorgt, bei denen alle über sich hinauswachsen. So geschehen bei Bellinis «La sonnambula», der Aufführung des Jahres. Jossi Wieler und Sergio Morabito wurden dafür außerdem zu Regisseuren des Jahres gewählt. Ana Durlovski ersang sich als Amina den Titel Nachwuchssängerin des Jahres. Der Stuttgarter Opernchor konnte seinen Titel als Chor des Jahres verteidigen. Überhaupt: Wer hätte gedacht, dass «La sonnambula» eine Choroper ist?

Einer Sängerin, die lange zum Stuttgarter Ensemble gehörte, ist die CD des Jahres gewidmet: Martha Mödl ist darauf zu hören – in größtenteils unbekannten Live-Mitschnitten. Liebevoll ediert das Ganze und erschienen beim Label Hänssler. Die Sängerin des Jahres war Ensemblemitglied in Köln und hat von dort aus eine Weltkarriere gestartet, die sie auf den Olymp der Hochdramatischen führte: Nina Stemme. Sie ist klug genug, sich dort nicht zu lange aufzuhalten und singt neben der Brünnhilde auch gern Italienisches.

Die Wiederentdeckung des Jahres fand an der Semperoper in Dresden statt: Jaromir Weinbergers «Schwanda, der Dudelsackpfeifer» – auch dies übrigens ein Stück, das von der Kraft des Ensembles lebt. Schade nur, dass die kürzlich verstorbene Intendantin Ulrike Hessler diesen Triumph nicht mehr miterleben kann. Sie hatte auch für Christian Thielemann den Weg nach Dresden geebnet, der nun zum Dirigenten des Jahres gewählt wurde und kürzlich seinen Einstand als Chef der Sächsischen Staatskapelle gab. Nominiert wurde er für seine fulminante «Frau ohne Schatten» mit den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen 2011, die inzwischen auch auf DVD vorliegt.

Dass im 21. Jahrhundert noch jemand wagt, eine Oper über die Atriden-Tragödie zu schreiben, ist an sich schon eine Überraschung. Manfred Trojahns «Orest» wurde aber auch noch zur Uraufführung des Jahres gewählt. Den Text hat sich der Komponist selbst zusammengestellt. Das Wort von der Literaturoper amüsiert ihn mehr, als es ihn ärgert: Es gebe keine Oper ohne literarischen Bezug, sagt er im Gespräch. Der Bühnenbildner der Jahres hat gern alles in einer Hand: ist in Personalunion auch Regisseur und Kostümbilder. Dmitri Tcherniakov hat damit längst weltweit Erfolg, war beim Festival in Aix-en-Provence ebenso gefragt wie an der Berliner Staatsoper und ist auch an der Met in New York gebucht. Die Voten erhielt er für seine vielschichtige Deutung von Rimsky-Korsakows «Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch» in Amsterdam und für «Ruslan und Ludmila» am neueröffneten Bolschoi Theater in Moskau. Die Kostüme des Jahres stammen von Christian Schmidt. An der Komischen Oper Berlin zeigte er bei Janáceks «Das schlaue Füchslein» Menschen, die Tiere spielen, die Menschen spielen. Es war die Abschiedsinszenierung von Andreas Homoki als Intendant des Hauses.

Orchester des Jahres ist diesmal das Bayerische Staatsorchester, zumeist unter seinem scheidenden Chef Kent Nagano. Das Buch des Jahres hat Hans Neuenfels geschrieben: Eine klassische Autobiografie ist sein «Bastardbuch» nicht geworden, sondern etwas viel Besseres: ein Generationenbuch, in dem der Regisseur Theatergeschichte und Zeitgeschichte durchs persönliche Erleben spiegelt.

Wie jedes Jahr gilt: Diese Umfrage ist zum Lesen da. Wir drucken die Voten aller 50 beteiligten Kritiker, um bleibende Eindrücke, Tendenzen und Schiefgelaufenes noch einmal Revue passieren zu lassen. Erst in den vielen Einzelmeinungen drückt sich die Vielfalt der Spielzeit aus.

Stephan Mösch, Albrecht Thiemann

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