Wer hätte das gedacht – oder sich vorstellen mögen: Die Berliner Philharmoniker treten in einer Sportarena als Ballettorchester mit einer 450-jungfüßigen Laientanzgruppe auf. Eingebrockt hat das dem Weltspitze-Orchester dessen Chefdirigent. Der ist Engländer, ebenso bis ins Mark Humanist wie Musiker und deshalb überzeugt, „dass Musik kein Luxus ist, sondern ein Grundbedürfnis. - Kunst soll ein vitaler und existenzieller Bestandteil im Leben aller Menschen sein“, meint Sir Simon Rattle. Und die Philharmoniker, heute schon personell ein ganz anderes Orchester als am Ende der Ära Karajan vor erst 15 Jahren, stehen zu dem von ihrem Chef initiierten Konzept Zukunft@BPhil, für dessen Umsetzung auch gleich mehrere pädagogisch erfahrene Experten aus
Großbritannien importiert wurden.

Dass die Bedeutung von Musik als Bildungs- und Erziehungsfaktor in unserer Gesellschaft politisch noch immer nur von einer schwachen Minderheit erkannt wird, erfahren wir beinahe täglich. Diese Misere zu überwinden ist aber außerordentlich schwer, denn erstens fehlt es auf allen Ebenen an geeigneten, musikalisch qualifizierten Pädagogen und zweitens lassen sich Bildungs- und Haushaltspolitiker (der Legislative wie der Exekutive), denen selbst jede musikalisch-künstlerische Erfahrung abgeht, ohne für sie erkennbaren Nachweis nicht bewegen, die Voraussetzungen für einen Wandel der Verhältnisse zu schaffen.

Sir Simon hat bereits in seiner ersten Berliner Spielzeit bei den Philharmonikern 2002/03 Mut und Überzeugungskraft bewiesen. Wetten, dass - so hat er sinngemäß verkündet - es mir gelingt, dieses Superspitzenorchester mit einer Riesenschar künstlerisch nullerfahrener, bis dahin überwiegend kulturresistenter Jugendlicher zu einem Mega-Event auf dem Podium zusammenzuführen? Die Wette wäre eine populären Fernsehshow zur besten Sendezeit würdig gewesen (die zudem von einem studierten Lehrer moderiert wird!), und Rattle hätte sie bereits vor einem Jahr mit Strawinskys „Sacre du Printemps“ in der Tat „spielend“ gewonnen. Nun wurde die Latte womöglich noch höher gehängt mit Ravels Ballettmusik „Daphnis et Chloé“, die nicht nur durch ihre pure Länge von fast 60 Minuten einen noch größeren Spannungsbogen vorgibt, sondern in ihren Klangfarben und in den lyrischen Partien der musikalischen Erfahrungswelt Jugendlicher noch ferner stehen dürfte.

Dass das Ergebnis jetzt wie vor einem Jahr nicht überzeugender, der Erfolg nicht eindeutiger hätte sein können, war, wie schon damals, zum erheblichen Teil dem in derartigen Projekten international erfahrenen Choreografen Royston Maldoom und dessen Mitarbeiterin Susannah Broughton zu danken. Die Beiden bringen es fertig, mehr als 200 Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Berliner Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien und zwei Tanz-Schulen in einer Trainingsphase von sechs Wochen an eine hochkarätige künstlerische Aufgabe heranzuführen, sie zu motivieren, sie separat in ihren Schulgruppen körperlich und emotional einzustimmen, in intensivem Training vorzubereiten, dann im großen, in jeder Hinsicht sehr gemischten Tanzensemble zu integrieren, um sie schließlich im Probenendspurt mit dem – mit diesem Orchester zusammenzuführen.

„Was von der Bühne strahlt“, so der reich erfahrene, inzwischen wohl in Berlin dienstälteste Kritiker Klaus Geitel in der Berliner Morgenpost, „ist die pure Lust an der Darstellung des Jungseins, der Bestätigung eines Lebensgefühls der Eintracht, der Hingabe an die Realisierung eines herausfordernden Kunstwerks, das sichtlich von den besten Kräften geleitet wird.“ Dass dabei auch der Ravel-Klang aus dem „Orchestergraben“ vom Feinsten ist, als wär’s ein Chefkonzert in der Philharmonie, bedarf kaum der Erwähnung.

Man darf sich bereits auf ein nächstes Tanzprojekt der Verbindung Spitzenprofis & Amateure freuen: Für 2005 ist Strawinskys „Feuervogel“ angesagt, dann sogar mit zwei Aufführungen in der Treptower Arena, denn die 3.300 Plätze waren schon Tage vor der Aufführung „gnadenlos ausverkauft“, wie der rbb mitteilte. Wer aber so lange nicht warten und mehr über die Entstehung einer solchen ganz besonderen Produktion erfahren möchte, dem sei der beim ersten Projekt entstandene und im Rahmen der 54. Berlinale uraufgeführte Film „Rhythm Is It“ ans Herz gelegt; er soll später in diesem Jahr in die Kinos kommen und sollte zum Pflichtprogramm erklärt werden für alle, die für den Bereich Kunst für Kinder und Kultur für alle zuständig sind.

Royston Maldoom hat das Motiv und den Sinn seiner Arbeit auf den Punkt gebracht: „Nicht nur junge Menschen brauchen einen Zugang zur Kunst, sondern die Kunst muss ebenfalls in enger Verbindung mit der kreativen Energie der Jugendlichen stehen, um überleben zu können.“ Und in diesem Sinne sind solche Angebote des Education Programms der Philharmoniker keine milde Gabe, sondern eine wichtige Investition
in die Zukunft@BPhil.

Michael Jenne
Quelle: www.landesmusikrat-berlin.de