Wolfgang Thierses Festvortrag war der Höhepunkt der Feier anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Kulturpolitischen Gesellschaft am 16. und 17. Juni in der Hamburger FABRIK. „Zurück zu den Wurzeln, aber neu interpretiert“, so hätte die Überschrift lauten können für sein inspirierendes Gedankenspiel, was die Neue Kulturpolitik aus den 1970er Jahren, heute bedeuten kann: ein überzeugendes Plädoyer für Vielfalt, Teilhabe und öffentliche Verantwortung in der und für die Kultur – gerade in Zeiten der Globalisierung!

„Durch die Globalisierung sind die Herausforderungen an die Kulturpolitik seit den letzten 30 Jahren immens gewachsen, bei gleichzeitiger Pluralisierung der Akteure und Schrumpfung der Mittel. Da sind Visionen gefragt! Die wurden uns hier in Hamburg von hochkarätigen Referenten und Rednern präsentiert, sodass wir von dieser Jubiläumsfeier ganz viel mitnehmen. Wir sind bewegt von den zahlreichen Grußworten und dankbar für die inspirierenden Vorträge und Diskussionen! Das gibt jede Menge Elan und Zuversicht für das neue Jahrzehnt“, resümiert der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Dr. Oliver Scheytt.

Mit 200 Tagungsteilnehmern und zusätzlichen Gästen beim Empfang der Jubilare war der Veranstaltungsraum FABRIK bestens ausgelastet. Glückwünsche sandten u. a. der Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundestags Hans-Joachim Otto, sowie der stellvertretende Vorsitzende Siegmund Ehrmann, Staatsministerin a. D. Dr. Christina Weiss und Staatsminister a. D. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin sowie NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, der Vorsitzende des Deutschen Kulturrats Prof. Dr. Max Fuchs und KuPoGe-Gründungsmitglied Prof. Dr. Hermann Glaser.

„Kultur als Motor der Stadtentwicklung“ lautete das übergeordnete Thema der Jubiläumsfeier, die gleichzeitig Fachtagung war. Dafür war Hamburg der ideale Austragungsort. Hier wurden nicht nur vor 30 Jahren die Kulturpolitische Gesellschaft und das Stadtteil- & Kulturzentrum MOTTE gegründet sowie fünf Jahre zuvor die FABRIK. In Hamburg könnten darüber hinaus „wie unter einem Brennglas viele Bereiche der Kultur in ihren Zusammenhängen betrachtet werden“, so die Hamburger Kultursenatorin Prof. Dr. Karin v. Welck in ihrer Begrüßungsrede. Sie verwies dabei auf das Nebeneinander von zahlreichen soziokulturellen Projekten und Zentren, wie das Stadtteilfest altonale, Geschichtswerkstätten und Stadtrundgänge, und das prestigeträchtige Leuchtturmprojekt der Elbphilharmonie, „das neben dem Michel zum neuen Wahrzeichen der Stadt“ werden soll.

Diese Vielfalt der kulturellen Ansätze und Akteure hat ihren Ursprung in der Neuen Kulturpolitik der reformorientierten 70er Jahre, als „der enge Begriff der bürgerlichen Hochkultur gesprengt wurde“, so Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestags, in seinem Festvortrag. Diesen Begriff der Vielfalt griff er als einen Eckpfeiler für eine erneuerte Neue Kulturpolitik für das 21. Jahrhundert auf. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und ihrer Integrationsanforderungen fordert er Vielfalt auch im Sinne eines Austausches der Kulturen innerhalb der Gesellschaften. Er wünscht sich eine „humanistische Leitkultur“, in der „zwar fundamentalistische Gefährdungen nicht durchgehen dürfen, aber auch keine Religion bevorzugt werden darf. Bei aller Verschiedenheit ist der interkulturelle Dialog auf der Basis humanistischer Grundwerte die Voraussetzung für das Gelingen kultureller Integration.“

Der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft Oliver Scheytt hatte in seiner kulturpolitischen Grundsatzrede zu Beginn der Veranstaltung für einen Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik plädiert: „Der Kulturbürger sollte mit seinen kreativen und mentalen Fähigkeiten im Zentrum einer aktivierenden Kulturpolitik stehen.“ Damit waren der zweite und dritte Eckpfeiler der Vision für die Kulturpolitik des 21. Jahrhunderts angesprochen, die auch Wolfgang Thierse hervorhob: Teilhabe und öffentliche Verantwortung. Wobei es Thierse bei der Teilhabe zentral darum ging, dem sozialen Ausschluss ganzer Bevölkerungsschichten nicht auch noch einen kulturellen folgen zu lassen. Denn trotz des Anspruches der Neuen Kulturpolitik „Kultur für alle“ zu bieten, müsse man feststellen, dass auch heute die Kulturangebote nur von zirka 50 Prozent der Bevölkerung genutzt würden.

Sowohl Scheytt als auch Thierse plädierten für die öffentliche Verantwortung für Kunst und Kultur, die nicht als bloße kommerzielle Dienstleistung missverstanden werden dürfe. Kulturpolitik sei als „Vermittlungsaufgabe“ zu verstehen mit starken „öffentlichen Institutionen, die sich allerdings nicht allein auf den tradierten Kanon bildungsbürgerlicher Werte beschränken könnten, sondern sich öffnen müssten gegenüber den kulturellen Interesses und Werthaltungen der neuen Kulturbürger.

Voraussetzung dafür sei allerdings, so Oliver Scheytt, die Bezugnahme auf normative Grundlagen. Nur wer sich dieser vergewissere sei in der Lage, in einen kulturellen Dialog einzutreten. Kulturpolitik ist mehr als eine wertneutrale Moderationsaufgabe, betonte der Präsident.

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