Seit einigen Jahren wird zum Teil kontrovers die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des klassischen Konzertes und damit nach Formen des Umgangs mit unserem kulturellen Erbe diskutiert. Vor allem in Europa und den USA entstanden bei Festivals, in Ensembles und Konzerthäusern eine Vielzahl an Projekten, die einen neuen Umgang mit klassischer Musik erprobten: Ob Klassik in Clubs, Lunchkonzerte, moderierte oder inszenierte Konzerte – das klassische Konzert ist vielfältiger geworden. 

Was aber macht das klassische Konzert überhaupt aus? Welche ästhetischen Qualitäten, welches Erlebenspotenzial bietet es? Lassen sich diese vielleicht sogar noch intensivieren? Mit solchen und weiteren Fragen befasst sich ein neues, auf drei Jahre angelegtes internationales und interdisziplinäres Forschungsprojekt unter Federführung der Zeppelin Universität (Martin Tröndle, WÜRTH Chair of Cultural Production). Beteiligt sind das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main (Melanie Wald-Fuhrmann), die Universität Bern in der Schweiz (Wolfgang Tschacher) und die University of York in Großbritannien (Hauke Egermann) sowie das Fraunhofer-Institut für integrierte Schaltungen in Erlangen. Die Forscher planen etwas weltweit noch nie Dagewesenes: die Vermessung des Konzerterlebens.

Der Konzertort als Labor

Dazu setzen die Forscherinnen und Forscher am Format des Konzerts an: Aktuelle Entwicklungen im Musikbetrieb, die gemeinhin als "experimentelle Konzertformate“ bezeichnet werden, werden in dem Forschungsprojekt zu Experimenten im wissenschaftlichen Sinne. Praxispartner sind das Radialsystem V und das Konzerthaus Berlin. An einer Reihe von Abenden werden dieselben Musiker (das Streichquintett "Alban Gerhardt and friends“) dasselbe musikalische Programm aufführen, jedoch unter jeweils veränderten Konzertbedingungen. Folkert Uhde, Mitbegründer des Radialsystems, wird dazu von Konzert zu Konzert formale und künstlerische Aspekte der Aufführung verändern. Dazu zählen u.a. Moderation, Lichtregie, Setting oder Veränderungen in der Musikdramaturgie bis hin zu komplexen Aufführungen, in denen die Musik durch Videokunst und andere assoziative Kontexte ergänzt wird. Mittels ausführlicher Vor- und Nachbefragungen, Messungen der Herzrate und des Hautleitwerts, der Bewegungen wie auch emotionaler Zustände und anderem soll das ästhetische Erleben der Musik in diesem spezifischen Rahmen untersucht werden. Durch den Vergleich der einzelnen Abende kann dann herausgefunden werden, welche Dimensionen des Konzerts welchen Einfluss auf das Musik-Erleben haben, aber auch welche Typen von Konzerthörern überhaupt existieren, was das Hören prädisponiert, welche Interaktion zwischen Musikern und Publikum stattfindet und vieles andere mehr. 

Die internationale Forschergruppe hat sich in den vergangenen zweieinhalb Jahren zusammengefunden. Mit Hilfe von Förderern konnte nun ein Projektteam zusammengestellt werden, so Tröndle, das in seiner Kombination eine herausragende Kompetenz zur Erforschung des ästhetischen Erlebens innehat. Die VolkswagenStiftung unterstützt das Projekt im Rahmen ihres Förderangebots "Offen für Außergewöhnliches“ und außergewöhnlich ist dieses Projekt. Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin der Abteilung Musik am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt: "Unser Ansatz ist vorbildlos: Noch nie sind Konzerte auf diese Weise experimentell manipuliert worden, noch nie hat man eine solche Menge von Erlebens- und Verhaltens-Daten in einem realistischen Setting erhoben.“ Entsprechend hoch seien die technischen und methodischen Herausforderungen, deren sich das Forscherteam annehme.

Dass sich dieser Aufwand lohnt, davon sind die Wissenschaftler überzeugt. Tröndle: "Gilt es doch zu ergründen, wie wir Musik im Konzert erleben. Welche Faktoren sind für ein vertieftes, emotionales Hören hinderlich, welche förderlich? Und was könnten die Ergebnisse über die Zukunft des klassischen Konzertes aussagen? Das wird  nicht nur für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen von Interesse sein, sondern auch relevant für Orchester, Dirigenten, Intendanten von Konzerthäusern und Musikfestivals.“

Gefördert wird das Forschungsprojekt vornehmlich von der VolkswagenStiftung sowie der Max-Planck-Gesellschaft und der Stiftung WÜRTH. Den künstlerischen Teil des Projektes unterstützt die Aventis Foundation.