Wenn ich meinen Tagesablauf bedenke, dann wird mir bewußt, dass ich morgen abend noch, wenn das Musikfest im Schloss Bellevue zuende ist, ins Flugzeug steige und nach China reise. Und da denke ich, muss ich Konfuzius zitieren.

Konfuzius hat gesagt, "Musik erzeugt eine Art von Vergnügen, ohne die der Mensch nicht kann". Das ist ein merkwürdiger, ein inte-ressanter Satz, denn es fehlt ihm ja eine Ergänzung zu dem Hilfsverb "kann". Konfuzius sagt nicht: "ohne die der Mensch nicht tanzen kann" oder "nicht lieben kann" oder "nicht fröhlich sein kann", er sagt nicht einmal, "ohne die der Mensch nicht leben kann". Sondern er sagt: "Mu-sik ist eine Art von Vergnügen, ohne die der Mensch nicht kann". Das ist sehr absolut, das ist sehr umfassend ausgedrückt. Und wahrschein-lich ist es gerade deshalb auch richtig.

Es ist die Musik, die den Menschen zum ganzen Menschen macht. In ihr kommen Gefühl und Geist, Seele und Körper zur Einheit. Die verschiedenen Rhythmen unseres Lebens drücken sich in Musik aus. Unsere so unterschiedlichen Empfindungen und Seelenregungen - Schmerz und Trauer, Hoffnung und Liebe, Angst und Zuversicht - finden ihren wahren Ausdruck oft in der Musik.

Dem Einsamen kann Musik unendlich viel Trost schenken - und eine Gruppe kann durch gemeinsames Musizieren und Singen oder durch gemeinsames Hören zueinander finden. Musik ist die wirklich internationale Sprache, die überall verstanden wird. Musik kann Träu-me und Utopien aller Menschen gültig zum Ausdruck bringen, gerade wenn die Wirklichkeit den Hoffnungen der Menschen noch längst nicht entspricht. Ernst Bloch hat einmal gesagt: "Die neunte Symphonie wird nicht zurückgenommen".

Inzwischen sind sich die Forscher darüber einig, dass der Mensch die Musik wohl früher hatte als die Sprache. Tanz und Rhythmus, Ton und Klang sind vermutlich die ersten Ausdrucksformen menschlicher Kultur gewesen. "Ohne die der Mensch nicht kann...":

Wenn es je eine Zeit gegeben hat, die diesen Satz Tag für Tag und Stunde für Stunde beweist, dann ist es unsere Gegenwart. Noch nie in der Geschichte war Musik wohl so allgegenwärtig wie heute. Ob auf der Berghütte oder am Strand, ob in der U-Bahn oder am Flughafen, ob im Kaufhaus oder im Wartesaal, zu Hause oder im Auto: Musik ist überall - manchmal wie eine Plage. Manche Radiosender senden selbst ihre verstümmelten Kurznachrichten nur mit einem rhythmischen Musikteppich unterlegt.

Durch "Tonträger", wie man zusammenfassend sagt, kann jede Art von Musik jederzeit und an jedem Ort gehört werden. Für die meisten jungen Menschen spielt Musik eine überragende Rolle:
- Bestimmte Gruppen definieren sich durch eine je besondere Art von Musik,
- Verliebte drücken ihre Gefühle für den anderen aus, indem sie ihm CDs mit Musikstücken zusammenstellen,
- Konzerte von Pop-Größen sind monatelang vorher ausverkauft,
- manche Lieder, wie etwa im letzten Jahr Herbert Grönemeyers "Mensch", treffen den Nerv einer ganzen Generation.
Seit Jahren schon gibt es Fernsehsender, die vornehmlich Musikvideos ausstrahlen; Sendungen mit sogenannter Volksmusik machen noch immer Quote und neuerdings werden dauernd sogenannte "Superstars" gekürt, die selbst Grundschulkinder schon vor den Fernseher oder ins Konzert locken. Selbst bei Handys scheint es für viele nicht der geringste Reiz zu sein, dass sie sich eine möglichst originelle Melodie als Klingelton herunterladen.

An Musik herrscht also nun wahrlich kein Mangel in unserem Leben. Musik bewegt tatsächlich - und sie bewegt wirklich alle.

Und doch gibt es mit Recht Klagen und Sorgen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Musik so allgegenwärtig ist - von ihrer Art und von ihrer Qualität habe ich ja bisher überhaupt nicht gesprochen -, ausgerechnet da wird das aktive Musizieren junger Menschen immer weniger. Und ausgerechnet in einer Zeit, in der man angesichts der Fülle des Angebotenen ein Gefühl und Kriterien für Qualität bräuchte, droht die musikalische Bildung zu verkümmern.

Die Klagen sind nicht neu, die Sorgen werden nicht zum ersten Mal vorgetragen. Die Gründe für ein aktives Musizieren und für eine gute musische und musikalische Bildung sind längst alle genannt, sie sind alle unbestritten, sie brauchen eigentlich nicht noch einmal von neuem wiederholt zu werden.

Inzwischen wissen wir alle, dass Musikalität der Intelligenz zumindest förderlich ist,
- inzwischen wissen wir alle, dass musisch kreative Menschen auch in anderen Bereichen des Lebens zu größeren Leistungen fähig sind,
- inzwischen wissen wir, dass die Bildungsmisere keineswegs bloß mit einer Verstärkung von Wissensfächern behoben werden kann,
inzwischen wissen wir, wie sehr das Gemeinschaftserlebnis im Chor oder im Orchester die soziale Kompetenz fördert,
- inzwischen wissen wir, wie sehr ein guter musischer Unterricht, ob Kunst, Musik oder Theaterspielen, das allgemeine Lernklima an einer Schule positiv verändert,
- und inzwischen wissen wir alle, welche Bedeutung das Erlernen eines Instruments für die Selbstdisziplin hat. Ich selber habe das erfahren, als ich Geige spielte bis die Lärmschutzverordnung in Kraft trat. Oder, wie es Otto Schily pointiert und richtig gesagt hat: "Musikschulen sind ein Beitrag zur inneren Sicherheit".

Wenn wir Kindern und jungen Menschen die Chance nehmen, selber zu musizieren und sich musikalisch zu bilden, dann berauben wir sie sehenden Auges um eine wesentliche Möglichkeit ihres Lebens. Mit Recht spricht man bereits von "musikalischer Versteppung" in Familien und Kindergärten, mit Recht wird angeprangert, dass der schulische und außerschulische Musikunterricht dramatisch verringert wird.

Wir müssen begreifen, dass musikalische Bildung keine private Nebensache ist. Es sollte vielmehr zu unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis gehören, dass musikalische Bildung zu den ganz großen Gütern gehört, auf die unsere Kinder genauso Anspruch haben wie auf das Lernen von Schreiben, Lesen und Rechnen. Eine Schule, die nicht Verstand und Sinne gleichermaßen anspricht, kann jungen Menschen keine Orientierung geben. Darum ist es wichtig und richtig, nicht mehr darauf zu warten, dass dieser Entwicklung entgegengesteuert wird. Forderungen zu stellen ist gut, aber Beispiele zu geben und Zeichen zu setzen ist besser.

Und darum gibt es heute diesen Kongress, bei dem es darum geht, sich möglichst konkret Gedanken über die Möglichkeiten musikalischer Bildung zu machen - und deswegen wird es morgen im Schloss Bellevue ein großes Fest geben unter dem Motto "Musik für Kinder!"

Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Musikrat meine Anregung aufgegriffen hat und dass er diesen Kongress veranstaltet. Er meldet sich damit - nebenbei gesagt, Sie haben es erwähnt - nach einigen Turbulenzen mit einer besonders wichtigen Sache in der Öffent-lichkeit zurück. Es ist gut, dass Sie zum Beispiel danach fragen und darüber diskutieren werden, wie man Musik vermitteln kann, wer musikalische Bildung verantwortet. Sie nehmen also eine kritische Bestandsaufnahme der Musikkultur vor und diskutieren neue Wege der Musikvermittlung.

Morgen, im Schloss Bellevue, soll es dann praktisch werden. Wir werden hunderte von Kindern und Jugendlichen aus ganz Deutschland dabei erleben können, wie sie selber Musik machen und andere zum Mitmachen bewegen. Auch Profis, auch prominente Musiker machen mit. Wenn ich Ihnen sage, dass Sir Simon Rattle und die Prinzen dabei sind, dann sehen sie, dass wir keinen eingeschränkten Begriff von Mu-sik haben.

Ganz viele haben mitgeholfen, dass dieser Projekttag zustande kam: Stiftungen, Institutionen, Unternehmen. Das ist fast schon eine große Koalition für Musik, aber die kann ruhig noch größer werden. In solchen Punkten bin ich gegen Allparteienkoalitionen nicht allergisch.
Viele Multiplikatoren sind eingeladen. Sie können sehen und hören, wie Musik Menschen bewegen und wie man Menschen zu Musik bewegen kann, wenn man originelle, kindergerechte, qualitätsbewusste Wege geht. Musikerziehung kann ja gewiss nicht damit beginnen, dass man Kinder den Quintenzirkel auswendig lernen lässt. Musikerziehung beginnt - wie jede gute Pädagogik - damit, dass man die Freude an der Sache weckt.
Ich glaube, dass wir das morgen erleben können. Natürlich weiß ich nicht im einzelnen, was alles zu sehen und zu hören sein wird, ich kann mir aber schon vorstellen, dass sich hinter Projekten wie "Dein Körper ist die Trommel" oder "Schlagzeug macht Schule", hinter "Stomp in the classroom" oder auch "Verstehen durch Erfinden" Überraschendes und zum Nachmachen Anregendes verbirgt.

Ich hoffe, dass das Fest ein Erfolg wird. Ich hoffe, dass möglichst viele Menschen von dort möglichst viel Ermutigung und möglichst viele Ideen mitnehmen. Ich hoffe aber auch, dass ein solches Fest Nachahmer findet in den Ländern und den Regionen, in den Gemeinden und den Stadtteilen. Dazu möchte ich jedenfalls ermutigen.

Ermutigen möchte ich auch heute schon und von hier aus die vie-len Menschen, die sich in den Schulen und Musikschulen oder wo auch immer dafür einsetzen, dass junge Menschen Freude an der Musik be-kommen und behalten. Lassen Sie in Ihrem Engagement nicht nach. Sie erweisen unseren jungen Menschen und der ganzen Gesellschaft einen großen Dienst, und darum zum Schluss noch einmal: Wir brauchen Kreativität, wir brauchen Freude am Spiel, auch jenseits des Nützlichen. Wenn wir an Kürzungen denken, dann dürfen uns nicht immer zuerst Bildung und Kultur einfallen.

Lassen wir also in unserem Einsatz für musikalische Bildung nicht nach. Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und seine Lebensqualität hat auch mit dem Sinn für das Schöne zu tun, für das nicht Verzweckte, für das Musische. Und deshalb sind der heutige Tag und der morgi-ge für uns, die wir hier sind, aber auch für alle anderen unendlich wichtig.

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