Es gibt unzählige Festivals. Kulturelle Ereignisse hingegen gibt es nur wenige. Und es mag am täglichen Umgang mit dem Neuen an sich liegen, dass die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik immer wieder frisch, immer wieder innovativ, immer wieder anders daher- kommen, dass sie längst zu den großen kulturellen Ereignissen im deutschen Herbst zählen.

Erstmalig richtet das engagierte Team um den Komponisten und Dirigenten Udo Zimmermann heuer die Dresdner Tage im doppelten Sinne von Hellerau aus: ist doch das Festspielgelände im Dresdner Norden nicht nur Sitz der Einrichtung geworden, sondern seit Jahresbeginn 2004 auch inhaltliches Anliegen - das ehemalige Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik (DZzM) arbeitet als nunmehr Europäisches Zentrum der Künste Hellerau an gegenwärtigen Kunstformen in ihrer ganzen Bandbreite.

Dieses neue Profil dokumentiert sich folgerichtig auch im Thema des diesjährigen Festivals. Mit "Kulturelle Identität(en)" ist da ein Programm überschrieben, dessen Zitate, dessen Rückgriffe auf die Thematik 2002 - "Musik Global" - nicht zufällig sind, sondern eine Vertiefung der schon vor zwei Jahren zu Grunde liegenden Frage versuchen: wie scheiden sich Fremdes und Eigenes, was sind die Axiome, die unserem Begriff von einer ’Identität’ zu Grunde liegen. Nicht erst seit der Überspitzung vom "Krieg der Kulturen" durchaus ein Thema jeder Kunst, die sich als im besten Sinne aktuell begreift.

Diese Gleichzeitigkeit von getrennten Kulturräumen wird greifbar, besser:
hörbar, in einem Projekt, das als "NetzwerkMusikKultur" wichtigen Tendenzen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und im Balkangebiet eine Begegnungs- und Arbeitsplattform eröffnet. Hier, wo junge Komponisten die Herausforderung ’Europa’ angenommen haben, entstehen vor dem Hintergrund nationaler Kunst, Mentalität und Religion, ausgerüstet aber auch mit dem Know How der westlichen Avantgarde, Personalstile von unverkennbarer Prägnanz. Das mazedonische Ensemble Alea, das Moscow Contemporary Music Ensemble sowie das Freiburger Schlagzeugensemble werden Werke dieses jungen Ost-, aber auch West-Europa am 2. und 3. Oktober im Festspielhaus Hellerau vorstellen. Das Publikum ist eingeladen, die Begegnung mitzuvollziehen: ein umfangreiches Begleitprogramm wird an beiden Tagen ab 10:00 Uhr das Gehörte theoretisch ergänzen und vertiefen.

Bereits am Vortag wird das Festspielhaus eine europäische Premiere der ganzen anderen Art präsentieren. "In Kürze - 4 OPERN" bringt die Uraufführung von vier Kurzopern der Komponisten Tamara Ibragimowa, Charlotte Seither, Michael Hirsch und Benjamin Schweitzer. Vor eine Situation extremer Reduktion gestellt, entwickeln sie Stücke von maximal zwölf Minuten Länge. Ein kleiner Pool von Instrumenten, Stimmen und Darstellern ist für alle zur Auswahl vorgegeben.
Obwohl die Komponisten unabhängig voneinander ihre Themen und Textvorlagen auswählten, ist eine frappierende inhaltliche Kongruenz zu erkennen. Alle Werke umspielen Lebensentwürfe, deren Ziel ein Verschwinden, eine Auflösung, eine Verweigerung der eigenen Existenz ist. Die Inszenierung führt die vier eigenständigen Werke, die vom "Kübelreiter" (nach Kafka) über eine "One-woman-opera" oder "La Didone abbandonata" bis zu einer Bearbeitung nach Melville reichen, zu einem großen Ganzen zusammen, verschaltelt sie collageartig ineinander - zu einem Kaleidoskop der "condition humaine" ...

Grenzbereiche menschlicher Existenz, die bei der Formulierung neuer Sinnhaftigkeit wegweisend sein können, vertieft das Festival traditionell auch durch einen Rückgriff auf historisch gewordene Musik. Die "Neue jüdische Schule Moskau/St. Petersburg" wird am 3. Oktober in einem bewegenden Matinee-Konzert in der Synagoge Dresden solche Werke vorstellen, die in der Zeit des Faschismus und Stalinismus verfemt, ausgegrenzt, vergessen wurden. Das Notenmaterial wurde für das ensemble timbre actuel von Stefan Eder in langjähriger Arbeit in Archiven weltweit sichergestellt und umfasst unter anderem Komponisten wie Alexander Veprik, dessen Tonsprache ihn im Kreis der Experten bereits in die Nähe eines Bartók rücken ließ ...

Musikalische Entdeckungen erwarten das Publikum also in reichlichem Maße; Entdeckungen unter dem professionellen künstlerischen Nachwuchs erwarten uns mit "pass_PORT". Hervorgegangen aus dem Stipendiaten-Programm des Instituts, ist die Uraufführung dieser Raum-Komposition für sechs Musiker und Video eine Reise in die Geschichtlichkeit des Ortes Hellerau, und zugleich viel mehr: pass_PORT versammelt die unterschiedlichen kulturellen Identitäten und künstlerischen Erfahrungen von sechs Musikern, vier Komponisten und einem Dramaturgen und Videographen, von elf jungen Künstlern aus Mazedonien, der Ukraine, Deutschland und Brasilien zu einem gemeinsamen musiktheatralen Ereignis, das von den flexiblen Räumlichkeiten und der wechselhaften Geschichte des Festspielhauses Hellerau angeregt ist. Installative, audiovisuelle, filmische, improvisatorische und ausnotierte Materialfragmente ergeben so eine höchst reizvolle Übersetzung des legendären genius loci von Hellerau in eine ästhetisch relevante Aussage unserer Zeit. (6. Okt.)

Die zehn Tage im Oktober, sie sind also wieder überreich gefüllt mit den vielfältigsten musikalischen Eindrücken, umfassen von der Orgelmusik aus Russland oder Aserbaidschan (4. Okt.) auch ein Kolloquium, das an drei Tagen die künstlerischen Veranstaltungen kritisch reflektiert (5.-7. Okt.); da gibt es ein szenisch-musikalisches Projekt des Sächsischen Musikrates mit jungen Komponisten aus Sachsen (7. Okt.) ebenso wie den Blick, besser: das Hören, in die Ferne, wenn am 10. Oktober der "Dialog in der Diaspora" gesucht wird mit der modernen Musik aus China (Societaetstheater).

Kurz: es sind wieder Veranstaltungen für eigentlich jeden musikalischen Geschmack, und wenn die Kartenpreise auch 2004 wieder bei moderaten 10 EURO (ermäßigt 5) beginnen, ist das mehr als eine Äußerlichkeit.

Es ist das Zeichen, dass die Dresdner Öffentlichkeit ebenso zu den Dresdner Tagen der zeitgenössischen Musik gehört, wie die Neue Musik zur Stadt selbst.
Dresden - das ist ein Modell, wie die Musik der Zukunft schon heute funktioniert.


Weitere Informationen und Tickets bei der Ticketcentrale im Kulturpalast Dresden, Tel. (0351) 4866-666 oder direkt beim Europäischen Zentrum der Künste Hellerau Intendant Prof. Udo Zimmermann Karl-Liebknecht-Str. 56
D-01109 Dresden
www.KunstForumHellerau.de
Tel. (0351) 264 62 0