Aribert Reimann erhält in diesem Jahr den mit 200.000 Euro dotierten, internationalen Ernst von Siemens Musikpreis für sein Lebenswerk. Die Oper Lear machte den in Berlin lebenden Komponisten vor dreißig Jahren weltberühmt. Heute ist der „unumstrittene Meister der Vokalmusik“ einer der meistgespielten lebenden Komponisten. Erst im vergangenen Jahr feierten Kritiker und Publikum seine für die Staatsoper Wien entstandene Oper Medea. Der Ernst von Siemens Musikpreis wird Aribert Reimann bei einem musikalischen Festakt im Münchner Cuvilliés-Theater am 24. Mai 2011 überreicht. Die drei Förderpreise für junge Komponisten gehen an den Briten Steven Daverson, den Spanier Hèctor Parra und an Hans Thomalla aus Deutschland. Insgesamt vergibt die Ernst von Siemens Musikstiftung 2,5 Millionen Euro. Gefördert werden 2011 über hundert zeitgenössische Musikprojekte in zwanzig Ländern weltweit.

Aribert Reimann wurde am 4. März 1936 in Berlin geboren. Er wuchs in einer von Musik geprägten Familie auf. Sein Vater war Kirchenmusiker, seine Mutter eine namhafte Oratoriensängerin und Gesangspädagogin. Bereits mit zehn Jahren komponierte Reimann erste Klavierlieder. Nach dem Abitur 1955 arbeitete er als Korrepetitor am Studio der Städtischen Oper in Berlin und studierte zugleich an der Berliner Musikhochschule Komposition bei Boris Blacher und Ernst Pepping sowie Klavier bei Otto Rausch. 1957 gab er seine ersten Konzerte als Pianist und Liedbegleiter. Ein Jahr später ging er zum Studium der Musikwissenschaft an die Universität Wien. Sein Ballett Stoffreste nach einem Libretto von Günter Grass wurde 1959 an den Städtischen Bühnen in Essen uraufgeführt. Musiktheater und Lied wurden zu den Keimzellen, aus denen sich das künstlerische Schaffen Reimanns weiter entwickelte. Bereits 1971 wurde dem Komponisten für sein bis dahin bestehendes Gesamtwerk der Kritikerpreis für Musik verliehen. Von 1974 bis 1983 hatte er eine Professur an der Hamburger Musikhochschule mit Schwerpunkt auf dem Zeitgenössischen Lied inne, 1983 wurde er in gleicher Funktion an die Berliner Hochschule der Künste berufen.

Aribert Reimann zeichnet vor allem ein besonderes Gefühl für Stimmen aus, wie es kaum ein anderer lebender Komponist hat. Nicht nur ist er mit Stimmen und deren Ausbildung am großen Repertoire aufgewachsen; er wurde – mit 22 Jahren – Korrepetitor und Klavierbegleiter von Dietrich Fischer-Dieskau, später auch anderer großer Solisten wie Catherine Gayer, für die Melusine entstand. Das vertiefte die Sensibilität für Möglichkeiten und Grenzen des Singens und es bewahrte ihn vor der Gefahr der Vereinsamung des ausschließlich Schaffenden. „Ich brauchte auch den reproduktiven Umgang mit Musik: sich selbst auszuschalten und in einen anderen hineinzudenken. Deshalb habe ich auch so gern unterrichtet.“

Der „unumstrittene Meister der Vokalmusik“ schuf zudem ca. vierzig Werke „absoluter Musik“, zahlreiche Kammermusikstücke, Solokonzerte und Orchesterwerke wie die Miniaturen für Streichquartett (2004/05), die beiden Klavierkonzerte (1961 und 1972), Sieben Fragmente für Orchester (in memoriam Robert Schumann, 1988) oder das Orchesterwerk Zeit-Inseln (2004). Die Abstraktion seines rein instrumentalen Schaffens wirkt mitunter wie ein Gegenentwurf zum Kommunizierenden seiner Vokalmusik:
Hochgetrieben in dünne Luft, bis ins kaum Fassbare fein verzahnt. Für Reimann ist das vokale vom rein instrumentalen Komponieren „total getrennt. Das sind zwei verschiedene Ebenen.“

Reimanns Arbeit als Opernkomponist begann 1965 mit der Uraufführung von Ein Traumspiel nach der Textvorlage von August Strindberg in Kiel. 1971 folgte bei den Schwetzinger Festspielen Melusine nach dem Schauspiel von Yvan Goll. Mit der Oper Lear (1978, Bayerische Staatsoper) konnte Aribert Reimann sowohl Fachleute und Kritiker als auch ein breites Publikum für seinen charakteristischen Personalstil gewinnen, das Werk erlebte international über 30 Produktionen. Auf Grundlage des Schauspiels von William Shakespeare schuf der Komponist eine Musik von fast körperlicher Unmittelbarkeit, die sich ihrer Existenz am Rande des Verstummens stets bewusst ist. Mit der Oper Das Schloss nach Franz Kafkas Romanvorlage nahm Reimann 1990 bis 1992 ein weiteres ambitioniertes Literaturopern-Projekt in Angriff: Die albtraumhaft-labyrinthische Atmosphäre der Textvorlage spiegelt sich in einer kammermusikalisch fragilen Musiktextur.

Gut dreißig Jahre nach seinem internationalen Durchbruch mit Lear gelang Reimann der ferne, andere, weibliche Gegenentwurf zu jenem König. Eine unauslotbare Gestalt, die, anders als Lear, umso stärker wird, je weniger Ausweg es gibt. Die Uraufführung der Medea an der Wiener Staatsoper im Februar 2010 wurde von den vollzählig erschienenen europäischen Kritikern sowie vom Publikum frenetisch gefeiert.

Aribert Reimann, der nie dem Musikbetrieb nachlief, sich keiner Richtung anschloss, aber mit größter Konsequenz seine persönliche Sprache entwickelte, hat das Musikgeschehen der letzten Jahrzehnte entscheidend mitgeprägt und zählt heute zu den erfolgreichsten Komponisten (nicht nur) des Musiktheaters.

Preisverleihung am 24. Mai 2011 im Münchner Cuvilliés-Theater
Für sein Lebenswerk ehrt die Ernst von Siemens Musikstiftung Aribert Reimann mit dem Ernst von Siemens Musikpreis. Die hohe Auszeichnung wird Reimann vom Präsidenten der Bayerischen Akademie der Schönen Künste bei einem musikalischen Festakt im Münchner Cuvilliés-Theater am 24. Mai 2011 überreicht. Die Laudatio hält der Musikwissenschaftler und -kritiker Stephan Mösch. Die Sopranistin Anna Prohaska wird gemeinsam mit Jörg Widmann und Axel Bauni Aribert Reimanns Trio …ni una sombra interpretieren. Das Saxophon-Quartett XASAX und das ensemble recherche werden zudem die drei von der Ernst von Siemens Musikstiftung in Auftrag gegebenen Werke der Komponisten-Förderpreisträger Steven
Daverson, Hèctor Parra und Hans Thomalla zur Uraufführung bringen.

Komponisten-Förderpreise an Steven Daverson, Hèctor Parra und Hans Thomalla
Die drei Komponisten-Förderpreise 2011 gehen an Steven Daverson, Hèctor Parra und Hans Thomalla.
Der in Northampton geborene und in London lebende Steven Daverson studierte u.a. am Royal College of Music (RCM) bei Jonathan Cole und Mark-Anthony Turnage, wo er im Moment auch promoviert. Steven Daverson entwirft in seinen Werken außergewöhnliche klangliche Texturen, die in ihrer Dichte an Verfahren und Vorbilder in der bildenden Kunst erinnern. Seine Musik zeichnet sich durch eine spezifisch haptische Qualität aus, durch eine besondere, sich gleichwohl stets entziehende Körperlichkeit.
Der aus Barcelona stammende Komponist Hèctor Parra studierte bei Brian Ferneyhough, Jonathan Harvey und Michael Jarrel in Genf und Paris. Er ist Professor für Elektroakustische Komposition am Konservatorium in Saragossa und forscht derzeit am IRCAM in Paris. In Hèctor Parras Musik geschieht generell, was Kunst in ihrem Kern ausmacht: Sie lässt die sinnliche Fülle der verstreichenden Gegenwart erfahrbar werden. Hans Thomalla studierte Komposition in Frankfurt und Stanford bei Brian Ferneyhough und schloss mit dem Doctor of Musical Arts ab. Seit September 2007 ist er Professor an der Northwestern University in Chicago, USA. Mit seinen musikalischen Fragestellungen knüpft Hans Thomalla an gesellschaftliche, teils sogar an existenzielle Fragen an. Im Juli 2011 wird an der Stuttgarter Staatsoper seine Oper fremd uraufgeführt.

Die Ernst von Siemens Musikstiftung vergibt insgesamt 2,5 Millionen Euro
Insgesamt vergibt die Ernst von Siemens Musikstiftung 2,5 Millionen Euro. Gefördert werden im Jahr 2011 mehr als hundert Projekte im zeitgenössischen Musikbereich in zwanzig Ländern weltweit. Zahlenmäßig den größten Anteil der Förderungen machen die Kompositionsaufträge aus, in 2011 sind es über 160 Aufträge. Neben Konzerten und Veranstaltungsreihen sind der Ernst von Siemens Musikstiftung auch wissenschaftliche Einzelpublikationen sowie Gesamtausgaben – wie zum Beispiel die Webern- und die Schönberg-Gesamtausgabe – ein großes Anliegen. Pädagogisch wertvolle Projekte, die Kindern und Jugendlichen den Zugang zur zeitgenössischen Musik ermöglichen und erleichtern, werden ebenso unterstützt wie Akademien und Workshops für Musikstudenten und junge Komponisten, Dirigenten und Instrumentalisten. Zahlreiche Festivals erfahren außerdem Förderungen durch die Ernst von Siemens Musikstiftung, um deren Einsatz für die zeitgenössische Musik zu würdigen.