Nach 17 Jahren erfolgreicher Intendanz von Thomas Bockelmann, der zugleich die Schauspieldirektion innehat, steht am Staatstheater Kassel ab der Spielzeit 2021-22 ein Intendanzwechsel und damit eine künstlerische Neuausrichtung bevor. Im Rahmen einer Pressekonferenz am 10. März hat der designierte Intendant Florian Lutz zusammen mit den künftigen Spartenleiter:innen erläutert, wie Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Konzert und Junges Staatstheater Plus ab der kommenden Spielzeit konzipiert sind und zusammenarbeiten werden.

Ein Schwerpunkt der Neuausrichtung ist ein breites Angebot an partizipativen Projekten, in denen das Publikum zum Teil des künstlerischen Ergebnisses wird; daneben sind Produktionen an ungewohnten Orten außerhalb der angestammten Theaterräume geplant sowie spartenübergreifendes Arbeiten, darunter ein großes interdisziplinäres Projekt aller Sparten von Schauspiel über Musiktheater bis Tanz zusammen mit bildender Kunst und kreativen Technologien anlässlich der documenta 15.

Musiktheater: Mit Florian Lutz übernimmt ein profilierter Opernintendant die Bühnenleitung: Seit 2003 hat er sich einen Namen als Opernregisseur gemacht und von 2016 bis 2020 als Intendant in Halle dafür gesorgt, dass sich die Oper Halle zu einem "der aufregendsten Musiktheaterhäuser Deutschlands“ entwickelte (Christine Lemke-Matwey 2017 in der ZEIT). Dementsprechend liegt ein starker Akzent der Neuausrichtung auf der Oper, die Florian Lutz zusammen mit Generalmusikdirektor Francesco Angelico künstlerisch verantworten wird. Sie leiten die Sparte gemeinsam im Team mit Kornelius Paede (Chefdramaturg Musiktheater) und Ann-Kathrin Franke (künstlerische Produktionsleiterin). Sowohl Paede als auch Franke haben bereits in Halle mit Florian Lutz zusammengearbeitet. Die neue Opernleitung steht für ein "Theater des Erlebnisses“, das in neuen Raum-Anordnungen und Bühnen-Konstellationen darauf zielt, über die vielen bereits vorhandenen Musik- und Opern-begeisterten Zuschauer*innen hinaus neue und möglichst auch jüngere Menschen für das Musiktheater begeistern zu können.

Anknüpfend an die große Tradition des Musiktheaters im 19. Jahrhundert, verstehen Florian Lutz und sein Team die Oper als Ort des gesellschaftlichen Diskurses, in dem staatspolitische Fragen erörtert und zugleich unterhaltsam auf die Bühne gebracht werden. Folgende Schwerpunkte werden daher das Programm in den nächsten Jahren prägen: Werke zeitgenössischer Komponist*innen und offene Formen im Musiktheater, Klassiker in starken und prominenten zeitgenössischen Regie-Handschriften sowie partizipative Projekte – Musiktheater für und mit den Menschen der Stadt.

Schauspiel: Die designierte Schauspieldirektorin Patricia Nickel-Dönicke, die zugleich auch Chefdramaturgin der Sparte wird, steht für die kontinuierliche Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Autor*innen sowie die Einbindung zeitgenössischer Texte und Themen in den Spielplan und unterschiedliche Festivalkontexte. Mit ihrem Team wird Nickel-Dönicke in verschiedensten Produktionen und Vermittlungsformaten das Profil des Schauspiels klar politisch positionieren. Dabei setzt sie ebenso auf eine Vielfalt künstlerischer Handschriften wie auf neue Erzählformen und neue Perspektiven auf Klassiker wie auf interdisziplinäre Performances und Reihen als Begegnungsmöglichkeiten mit dem Publikum. Ein Beispiel ist die geplante Uraufführung von Michel Decars "Tausend deutsche Diskotheken“, die im Serienformat und in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Stadt Kassel dem Clubsterben begegnen wird.

Darüber hinaus sind im Schauspiel mehrere Festivals geplant: Das mit zeitgenössischer Dramatik angereicherte Festival FAST’N’DRAMADAN macht das Theater während des Ramadans zum sozialen Treffpunkt. Ende Mai 2022 verwandelt das transdisziplinäre Festival "INBETWEEN - Theater zwischen Vorstellung und Ausstellung“ die Räume des Theaters zu Ausstellungs- und Performanceorten zwischen darstellender und bildender Kunst auf der Suche nach einer Vision für die Zukunft des Theaters.

Tanz: Die maximale Bandbreite zeitgenössischer choreografischer Handschriften, Stilistiken und Ästhetiken zu zeigen, ist das Anliegen des designierten Tanzdirektors Thorsten Teubl. Der Tanz präsentiert sich in Kassel zukünftig als kuratorisches Modell ohne feste:n Chefchoreograf:in. Thorsten Teubl legt seine Schwerpunkte auf die Präsentation der internationalen Vielfalt von Zeitgenössischem Tanz, auf Uraufführungen in den drei Spielstätten Opernhaus, Schauspielhaus und TiF und auf die Umsetzung neuer künstlerischer sowie partizipativer Formate und Strukturmodelle im Sinne von Diversität, Inklusion und Teilhabe. Mit Thorsten Teubl kehrt ein ausgewiesener Tanzexperte ans Staatstheater Kassel zurück, der hier bereits von 2009 bis 2018 als Dramaturg und stellvertretender Tanzdirektor maßgeblich am Aufbau und der Ausrichtung der Sparte beteiligt war.

Junges Staatstheater +: Unter der Leitung von Barbara Frazier heißt das Junge Staatstheater künftig JUST + – und das ist vielfältig zu verstehen. Ab der kommenden Spielzeit wird die Sparte verstärkt, es gibt Theaterpädagog*innen für alle Sparten – so, wie auch der Spielplan des JUST + Produktionen aus allen Sparten umfasst und darstellende Kunst in allen Facetten vermitteln und präsentieren will – und dies für die Jüngsten ebenso wie für die Ältesten im Publikum. Das JUST + wird zudem maßgeblich an dem partizipativen Modell des Staatstheaters Kassel mitwirken und in Projekten mit Bürger:innenbeteiligung auf allen Bühnen verwirklichen – und zugleich sich in die Stadt hineinbegeben, um Barrieren abzubauen.

Zu den Personen

Florian Lutz, designierter Intendant, wurde 1979 in Köln geboren und studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin. Neben verschiedenen Publikationen zu Musik- und Operngeschichte arbeitete er seit 2003 als freischaffender Theater- und Opernregisseur.

Von 2016 bis 2020 war Florian Lutz Intendant der Oper Halle. Unter seiner Leitung hat sich das Haus "zu einem der innovativsten Orte zeitgenössischen Musiktheaters entwickelt“ (Die Deutsche Bühne) und rückte wieder in den Fokus der überregionalen und nationalen Fachwelt. Die Zeit titelte 2017, dass die Oper Halle "eines der aufregendsten Musiktheaterhäuser Deutschlands“ geworden sei. Im Herbst 2017 wurde das Haus mit dem Deutschen Theaterpreis "DER FAUST“ in der Kategorie Bühne und Kostüme für die spartenübergreifende Raumbühne HETEROTOPIA von Sebastian Hannak geehrt. Im Sommer 2019 erhielt die Oper Halle den "Theaterpreis des Bundes“ durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Prof. Monika Grütters und wurde in der Kritikerumfrage der Deutschen Bühne 2019 mit insgesamt 11 Nennungen ausgezeichnet. Das Haus gewann die Kategorie für das "innovativste Format“ für die vierteilige Überschreibung der Grand opera "L’africaine“ von Giacomo Meyerbeer und Florian Lutz gewann in der Kategorie "beste Regieleistung“ neben Romeo Castellucci.

Nicht zuletzt aufgrund dieser künstlerischen und kulturpolitischen Erfolge wurde er im November 2019 zum zukünftigen Intendanten des Staatstheaters Kassel ernannt und wird in dieser Funktion im August 2021 die Nachfolge von Thomas Bockelmann antreten.

Francesco Angelico ist seit der Spielzeit 2017/18 Generalmusikdirektor des Staatstheaters Kassel. Im März 2020 fand unter seiner Leitung mit der Premiere von Richard Wagners "Götterdämmerung“ die 2017 begonnene Tetralogie "Der Ring des Nibelungen ihren Abschluss“. Diese fünfte Kasseler Ring-Produktion (Inszenierung: Markus Dietz) wurde von der überregionalen Presse hoch gelobt und begeistert vom Publikum aufgenommen. Darüber hinaus leitet Francesco Angelico in dieser Spielzeit u.a. Carlo Ciceris "L’ultimo sogno – Der letzte Traum“, eine vor dem Hintergrund der aktuellen Distanzauflagen in Auftrag gegebene Annäherung an "La Traviata“.

Francesco Angelico dirigiert regelmäßig an führenden Opernhäusern weltweit. 2020/21 kehrte er mit Gaetano Donizettis Liebestrank an die Bayerische Staatsoper München zurück und gibt mit einer Neuproduktion von Giacomo Puccinis "Madama Butterfly“ sein Debüt an der Oper Graz.

Kornelius Paede,designierter Chefdramaturg Musiktheater, studierte nach seinem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg Musikwissenschaft, Germanistik und Musiktheaterdramaturgie. 2017 bis 2021 war er Dramaturg an der Oper Halle, die in dieser Zeit u. a. mit dem Deutschen Theaterpreis DER FAUST (2017), dem Theaterpreis des Bundes (2019) und mehrfach in der Kritikerumfrage der Deutschen Bühne ausgezeichnet wurde. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn seitdem mit Florian Lutz, dem Bühnenbildner Sebastian Hannak und Regisseuren wie Jochen Biganzoli und Paul-Georg Dittrich. Weitere Schwerpunkte umfassen Musiktheateruraufführungen und seine forschende Tätigkeit. 2020 erschienen seine Bücher Dokumentarisches Musiktheater. Strategien der Authentifizierung im amerikanischen Musiktheater (Verlag wbg) sowie "Gefühle sind von Haus aus Rebellen.“ Musiktheater als Katalysator und Reflexionsagentur für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse (Königshausen & Neumann), hg. von Dominik Frank, Ulrike Hartung, Kornelius Paede.

Ann-Kathrin Franke, designierte künstlerische Produktionsleiterin Musiktheater, studierte Sprechwissenschaft und Phonetik in Halle (Saale). 2013 begann sie als Regieassistentin und Spielleiterin an der Oper Halle, wurde ab 2014 persönliche Assistentin des Intendanten Axel Köhler und übernahm die Leitung der Statisterie. Im Januar 2018 absolvierte das Zusatzstudium "Kuratieren in den szenischen Künsten“ in München und Salzburg. Unter Intendant Florian Lutz war sie als künstlerische Produktionsleiterin tätig, übernahm das Budget- und Vertragswesen, arbeitete mit dem Leitungsteam an der der künstlerischen Neuausrichtung des Hauses und betreute als Produktionsleitung unter anderem die Raumbühnen HETEROTOPIA und BABYLON von Sebastian Hannak.

Patricia Nickel-Dönicke, designierte Schauspieldirektorin, wurde 1979 in Potsdam geboren, während des Studiums der Neueren deutschen Literatur- & Medien- und Politikwissenschaften in Marburg, arbeitete sie bei verschiedenen Film- und Fernsehproduktionen, sowie als Redakteurin. Anschließend studierte sie Dramaturgy (M.A.) in Frankfurt/ Main. Als Dramaturgin arbeitete sie in Osnabrück, Heidelberg und am Staatstheater Mainz, bevor Patricia Nickel-Dönicke Chefdramaturgin und stellv. Intendantin am Theater Oberhausen wurde. Sie widmet sich in ihrer Arbeit der Förderung zeitgenössischer Dramatik und hat an verschiedensten Orten Festivals konzipiert und kuratiert (z.B. SPIELTRIEBE 1-3, Heidelberger Stückemarkt, d.ramadan). Neben ihrer Arbeit als Dozentin im Bereich Theaterwissenschaften, war sie außerdem Jurorin des Mülheimer Theaterpreises 2019. Im selben Jahr erhielt sie den Förderpreis des Künstlerinnenpreises der Landesregierung Nordrhein-Westfalen für beispielhaftes Engagement und künstlerische Impulse in den Darstellenden Künsten.

Ab der Spielzeit 2021/22 ist Patricia Nickel-Dönicke Schauspieldirektorin am Staatstheater Kassel.

Thorsten Teubl, designierter Tanzdirektor, studierte zunächst Musik- und Theaterwissenschaft sowie Theologie an der Universität Bayreuth, bevor er im Anschluss ein Studium der Musiktheaterregie an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei Götz Friedrich absolvierte. Neben Tätigkeiten als Spielleiter, Regisseur und künstlerischer Leiter an verschiedenen deutschen Theatern absolvierte Thorsten Teubl ein Kulturmanagement-Studium an der Technischen Universität Dresden sowie an der Universität Federico II. von Neapel sowie diverse Fortbildungen, u. a. "Kuratieren in den Szenischen Künsten“ an den Universitäten Salzburg und München. Nach seinem Engagement in Kassel arbeitete Thorsten Teubl von 2018 bis 2020 am Landestheater Linz (Oberösterreich) als Tanzmanager und Tanzdramaturg zusammen mit der Choreografin Mei Hong Lin für TANZLIN.Z und war mit der dortigen Kompanie weltweit auf Gastspielreise. Seit der Spielzeit 2020/21 ist er als Stellvertretender Ballettdirektor und Ballettdramaturg an den Theatern Chemnitz tätig. Mit der neuen Intendanz von Florian Lutz tritt er nun seine erste Tanzdirektion an.

Barbara Frazier, designierte Leiterin des JUST + – Junges Staatstheater +, wurde 1987 in Texas geboren und studierte Theater-, Film- und Literaturwissenschaft in Mainz, Wien und London. 2010/11 war sie die Assistentin des Kinder- und Jugendtheaters und der Theaterpädagogik am Staatstheater Mainz, 2012 kam sie als Leiterin des Jungen Theaters ans Theater Ulm, wo sie für ihre Arbeit an Bürgerbühnenprojekten mit dem Förderpreis JUNGE ULMER KUNST ausgezeichnet wurde. Anschließend arbeitete sie als freie Theaterpädagogin u.a. in einer Erstaufnahme für Geflüchtete und beim internationalen Jugendtheaterfestival des Ashtar-Theatre in Ramallah, Palästina. 2016 wechselte sie an die Oper Halle und baute die JUNGE OPER auf. Regelmäßig ist sie als freischaffende Regisseurin, Theaterpädagogin und Dozentin beschäftigt, zuletzt für das Jewish Chamber Orchestra Munich und für "Kapelle für Kids" an der Semperoper Dresden.