Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

gestatten Sie, dass wir uns in einer uns alle berührenden und mit uns eng verbundenen Angelegenheit an Sie wenden.

Mit ungläubiger Verwunderung und tiefer Bestürzung haben wir von dem massiven Kulturabbau in dem so traditionsreichen Kulturland Thüringen erfahren. Eine jahrhundertealte Kulturregion mit enormer Ausstrahlung in alle Welt, ein Zentrum der Theater- und Musikgeschichte wird durch die bekannt gewordenen Pläne zur Disposition gestellt.

Auch wir als Berliner Philharmoniker haben allen Grund dem Kulturland Thüringen dankbar zu sein. Kein Mensch vermag heute zu sagen, welchen Weg das gerade aus der gescheiterten "Bilseschen Kapelle" gebildete und ziemlich wacklige Philharmonische Orchester Berlin gegangen wäre, hätte es nicht im Januar 1882 ein eindrucksvolles Schlüsselerlebnis gegeben - die berühmte Meiniger Hofkapelle, eines der besten Orchester seiner Zeit, gastierte unter ihrem genialen Dirigenten Hans von Bülow in Berlin. So mitreißend wie die Meininger wollten die Berliner Musiker auch einmal spielen. - Kurze Zeit später gelang es tatsächlich, den "Wunderdirigenten" Bülow für das Philharmonische Orchester Berlin zu verpflichten und damit den Grundstein für den heutigen Ruf der Berliner Philharmoniker zu legen.

Seit Urzeiten genießen Thüringer Städte wie eben Meiningen, Weimar, Gotha, Eisenach einen nahezu legendären Ruf. Mit "Thuringia cantat" spendete einst ein geflügeltes Wort den Menschen dieser so lebendigen kulturvollen Region hohes Lob.

Und nun? Sollen tatsächlich diese einzigartigen Traditionen, für die Thüringen von vielen Regionen der Welt hoch geachtet wird, in Frage gestellt, beschädigt oder gar liquidiert werden? Orchester, wie die bereits das vierte Jahrhundert ihrer Existenz erlebenden Thüringen Philharmonie und Thüringer Symphoniker in den einstigen Residenzstädten Gotha und Rudolstadt sind genauso mit dem Ende ihres Daseins bedroht wie das Musiktheater in der Bach-, Luther-, Wartburgstadt Eisenach.

Auch die unumstrittene Kulturhauptstadt Thüringens Weimar mit ihrem weltweit einzigartigen Ruf soll ihr Deutsches Nationaltheater mit der Staatskapelle, wo neben vielen anderen großen Persönlichkeiten auch Goethe als Theater- und Operndirektor wirkte, nach Willen und Vorstellung Ihres Kultusministers beschädigen, amputieren.

Begreifen die verantwortlichen Politiker welch irreparablen Schaden sie ihrem Land zufügen? Wissen sie, welche Bewunderung die deutsche, auch die thüringische, Klassik rund um die Welt genießt, welche Anziehungskraft sie auf viele Menschen weit über Thüringen hinaus ausübt?

Für Thüringen wie für ganz Deutschland hat unsere Kultur auch weit über sich selbst hinaus besonderes hohes Gewicht, das gerade in unserer Zeit kaum überschätzt werden kann. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte deshalb auch:

"Wer den Bereich von Kunst und Kultur für ein besonders naheliegendes Feld der Haushaltskonsolidierung hält, berührt nicht nur das kulturelle, sondern auch das empfindliche soziale Gewebe einer Stadt."

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihre Thüringer Theater und Orchester haben seit der Vereinigung viele Veränderungen mitgestaltet, die nicht einfach zu bewältigen waren, die mit vielen künstlerischen und menschlichen Problemen, Schwierigkeiten, Verzichten verbunden waren. Nur durch einen überlegten, kreativen, sensiblen und achtungsvollen Umgang miteinander konnten diese Veränderungen schließlich erfolgreich werden. Nichts davon ist in den jetzigen Vorhaben auch nur ansatzweise zu erkennen.

Wir bitten Sie eindringlich, haben Sie ein offenes Ohr für Ihre Thüringer Kultur. Sie verdient es und wird es Ihnen sicher zurück geben. Kehren Sie zurück zu einer Atmosphäre der gegenseitigen Akzeptanz, des gemeinsamen Nachdenkens, des sachlichen Gesprächs wie es ein solch sensibler Bereich wie die Kultur einer ganzen Region zweifelsohne verdient.

Wenn die Berliner Philharmoniker dazu etwas beitragen könnten, werden wir sicher alle unsere Möglichkeiten dafür prüfen.

Peter Riegelbauer
Orchestervorstand

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