Im Beethoven-Archiv, der zentralen Dokumentations- und Wissenschaftsabteilung des Beethoven-Hauses in Bonn, beginnt im nächsten Jahr ein großangelegtes Forschungsvorhaben zur kompositorischen Arbeitsweise Beethovens. Es ist ein gemeinsames Projekt mit dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold.

Das auf 16 Jahre angelegte Beethoven-Projekt ist Teil eines der größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme der Bundesrepublik Deutschland, das am 22. November 2013 von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) des Bundes und der Länder beschlossen wurde. Es handelt sich dabei um das Akademienprogramm 2014 der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Mainz) mit einem Gesamtvolumen von rund 60 Millionen Euro. Das Programm dient der Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung unseres kulturellen Erbes.
Das Beethoven-Projekt mit dem Titel „Beethovens Werkstatt: Genetische Textkritik und Digitale Edition“ ist an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz angesiedelt und wird von ihr koordiniert. Leiter des Langzeitvorhabens sind Bernhard R. Appel, Leiter des Beethoven-Archivs und Verlags, sowie Joachim Veit, Editionsleiter der Carl-Maria-von Weber-Gesamtausgabe am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn. Jeweils zwei neue Mitarbeiterstellen und zwei Qualifizierungsstellen sind für Bonn und Detmold vorgesehen und werden jährlich mit 382.000 Euro, also mit mehr als 6,1 Millionen Euro insgesamt, gefördert. „Für das Beethoven-Haus ist der Zuschlag dieses zukunftsweisenden Projektes in das Akademieprogramm inhaltlich und finanziell von herausragender Bedeutung“, erklärt Malte Boecker, Direktor des Beethoven Hauses. „Das Forschungsprofil des Beethoven-Hauses wird damit nachhaltig ausgebaut.“

„Beethovens Werkstatt“ versteht sich als ein Projekt der musikwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Die hier zu erarbeitenden Methoden und editorischen Präsentationswege sollen später auch auf die Überlieferungen anderer Komponisten übertragbar sein. Die zu erwartenden Ergebnisse sind für die Beurteilung der gesamten, sich wesentlich auf Beethoven berufenden Kompositionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von Bedeutung.

Der Bonner Projektleiter Bernhard R. Appel sieht in der Förderung des Vorhabens eine hohe Anerkennung der bisherigen Forschungsarbeit des seit 1927 bestehenden Beethoven-Archivs und zugleich eine große, zukunftslenkende Chance für das Beethoven-Haus: „Bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Skizzenforschung zu Beethoven richtungsweisend. Das heute im Beethoven-Archiv verfügbare Expertenwissen, das u.a. durch die Arbeit an der historisch-kritischen Ausgabe und durch Skizzenbuch-Editionen gewachsen ist, bietet beste Startvoraussetzungen. Das Langzeitprojekt verspricht, innerhalb dieser Tradition nicht nur die Beethoven-Philologie, sondern die Musikphilologie insgesamt in neue, vielleicht sogar umwälzende Bahnen zu lenken. Darüber hinaus kann es einen wesentlichen fachübergreifenden Beitrag zur Kreativitätsforschung und zur Kognitionswissenschaft leisten.“

Beethovens kompositorische Arbeitsweise ist in mehreren tausend Manuskriptseiten - Skizzen, Entwürfe, Arbeitsmanuskripte etc. - dokumentiert. Dieser außergewöhnlich reiche Quellenbestand befindet sich zu einem erheblichen Teil im Besitz des Beethoven-Hauses Bonn. Er bietet ideale Voraussetzungen für einen neuen, zweigleisigen Forschungsansatz: Die genetische Textkritik ist bestrebt, aus handschriftlichen Werkstattdokumenten Beethovens Schreibprozesse zu rekonstruieren und dabei sein kompositorisches Denken zu analysieren. Sie bemüht sich, Handwerksroutinen zu beschreiben und die damit verbundene Textbewegung vom ersten Einfall bis zum Werk aufzuzeigen.

Erstmals wird nun für diesen Bereich durchgängig eine digitale Editionsform eingesetzt. Das Forschungsprojekt sieht u.a. neben einer digitalen Skizzenbuch-Ausgabe eine Modelledition von Beethovens Diabelli-Variationen vor, in der verschiedene textkritische Konzepte vergleichend zusammengeführt werden. Solche Editionen können nicht mehr im konventionellen Buchdruck dargestellt werden.

Die digitale Editionsform erlaubt es einerseits, die kompositorischen Arbeitsprozesse dynamisiert (d.h. zeitlichen Abläufen folgend) darzustellen und textgenetische Ergebnisse durch die Verbindung von faksimilierten Quellen und maschinell verarbeitbaren Codierungen der Notentexte transparent zu machen. Dem Nutzer eröffnet dieses computergestützte Verfahren nahezu beliebig viele Erschließungszugänge zu dem aufbereiteten Material. Die darstellungstechnischen Möglichkeiten digitaler Editionen beeinflussen andererseits auch die Methodik der genetischen Textkritik. Die Ergebnisse, die aus dieser gewonnen werden, fordern wiederum dazu heraus, digitale Verfahren zu entwickeln, die eine adäquate Präsentation ermöglichen.

Bereits jetzt sei vorauszusehen, so der für die Sektion Detmold/Paderborn zuständige Projektleiter Joachim Veit, „dass mit den neu zu schaffenden Möglichkeiten der Visualisierung von Textbewegungen und Denkprozessen die Erkenntnisse wissenschaftlicher Forschung in – im wahren Sinne des Wortes – „anschaulichere“ Editionsformen überführt werden können.“ Diese könnten damit von einer sehr viel breiteren Öffentlichkeit rezipiert und nachvollzogen werden, als die heutigen, oft hermetisch wirkenden Printeditionen.

Die in Mainz ansässige Union der deutschen Akademien der Wissenschaften ist die Dachorganisation von acht Wissenschaftsakademien, die sich zur Umsetzung gemeinsamer Interessen zusammengeschlossen haben. Mehr als 1900 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, die zu den national und international herausragenden Vertretern ihrer Disziplinen gehören, sind unter dem Dach der Union vereint. Die Union koordiniert das Akademienprogramm, das derzeit größte geisteswissenschaftliche Forschungsprogramm der Bundesrepublik Deutschland. Sie kommuniziert mit Wissenschaftsorganisationen des In- und Auslandes und entsendet Vertreter in nationale und internationale Wissenschaftsorganisationen.

Der 1889 gegründete Verein Beethoven-Haus Bonn gilt als das international führende Beethoven-Zentrum. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Beethovens Leben, Werk und Wirken lebendig zu halten. Zu der kulturellen Einrichtung gehört die weltweit bedeutendste Beethoven-Sammlung, das Museum in Beethovens Geburtshaus mit über 100.000 Besuchern pro Jahr, eine musikwissenschaftliche Forschungsabteilung nebst Bibliothek und Verlag sowie der Kammermusiksaal Hermann J. Abs. Getragen von rund 900 Mitgliedern aus über 20 Ländern, unterstützt von Bund, Land NRW, Landschaftsverband Rheinland und Stadt Bonn, erfüllt das Beethoven-Haus einen kulturellen Auftrag von nationaler und internationaler Bedeutung. In der Forschungsstelle Beethoven-Archiv wird die Neue historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke Beethovens erarbeitet.

Das Musikwissenschaftliche Seminar Detmold/Paderborn ist eine gemeinsame Einrichtung der Hochschule für Musik Detmold und der Universität Paderborn. Es versteht sich als Schnittstelle zwischen künstlerischer Praxis und Musikwissenschaft. Die hier beheimatete Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe und das digitale Projekt Edirom haben durch die Anbindung an die Universität Paderborn in den vergangenen Jahren wesentliche Impulse für die Entwicklung digitaler Editionsmethoden gegeben und in Kooperation mit der University of Virginia auch zur Ausbildung eines neuen Musikcodierungsstandards (MEI) beigetragen. Die Beteiligung an fachübergreifenden Verbundprojekten wie TextGrid und DARIAH-DE oder das BMBF-Projekt Freischütz Digital sind Zeichen dieser verstärkten Schwerpunktbildung, für die „Beethovens Werkstatt“ aufgrund der komplexen Aufgabenstellungen eine willkommene Herausforderung darstellt.