Am Anfang eines Erkenntnisprozesses steht oft ein persönliches Erlebnis. Im Fall von Tobias Wolff handelte es sich um eine Opernproduktion während seiner Intendanz bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen. „Die Bühnenidee handelte, grob gesagt, davon, welchen Müll wir den nachfolgenden Generationen hinterlassen. Gleichzeitig wurde hinter den Kulissen diskutiert, ob wir bestimmte Requisiten bei Amazon bestellen sollten. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass die Geschichten, die wir auf der Bühne erzählen, nicht immer mit dem übereinstimmen, was wir tun,“ sagt Wolff. Seit Beginn der Spielzeit 2022/23 ist er Intendant der Oper Leipzig und damit Chef eines der traditionsreichsten Opernhäuser der Republik. Als Hausorchester steht mit dem Gewandhausorchester ein Klangkörper von internationalem Ruf zur Verfügung, berühmt ist nicht zuletzt die vorbildliche Wagner-Pflege des Hauses. Was bislang nicht auf dem Spielplan stand, war das Thema „Klimaschutz“. Das möchte Tobias Wolff nun ändern.
„Ich habe es damals zum Vorstellungsgespräch ‚mitgebracht‘, als ich mich um die Intendanz in Leipzig beworben habe“, berichtet er. Im Jahr 2019 habe das trotz erster Klimastreiks und dem Aufkommen von Fridays for Future noch „fast exotisch“ gewirkt. Als dann aber am 30. Oktober 2019 die Ratsversammlung in Leipzig den Klimanotstand ausrief, kamen Wolff und sein Vorhaben, die Oper mit einem Nachhaltigkeitskonzept fit für die Zukunft zu machen, wie gerufen. Immerhin handelt es sich um einen städtischen Eigenbetrieb, der die politischen Vorgaben seines Trägers praktisch umsetzen muss. „Da waren wir sehr proaktiv“, sagt Wolff, der sich zusammen mit seinen Mitarbeiter*innen die Ausarbeitung konkreter Klimaziele zur Aufgabe gemacht hat. Um das Ganze verbindlich zu halten, strebt das Haus eine Zertifizierung nach DIN-Norm DIN-ISO 20121 an. Sie wurde im Umfeld der Olympischen Spiele in London 2012 entwickelt und dient Kultur- und Eventveranstalter*innen als Richtlinie für die klima- und ressourcenschonende Planung und Durchführung von Veranstaltungen.
„Das System sieht vor, dass wir Ziele festlegen in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen“, erklärt Wolff. „Im Rahmen der Zertifizierung werden diese dann formuliert, und hinterher müssen wir sehen, dass wir sie einhalten.“ Das wird regelmäßig von der Zertifizierungsstelle überprüft. Das Zertifikat zu bekommen, weiß der Intendant, ist weniger schwierig, als es zu behalten – die erreichten Ziele werden jeweils um neue Ziele ergänzt. „Deshalb überlegen wir ganz genau, welche Schritte wir gehen müssen und auch können.“ Die Aktionsfelder an einer großen Institution wie der Oper Leipzig mit ihren diversen Abteilungen und rund 700 Beschäftigten sind ebenso zahlreich wie unterschiedlich. Zum einen verschlingen Spielbetrieb und Verwaltung große Mengen an Energie und sorgen für einen auffälligen CO2-Fußabdruck. Weitere große Punkte sind Mobilität – zumal an einem Haus mit dezentralen Lagerstätten – und Entsorgung, denn Opernproduktionen verlangen häufig extrem aufwändige Bühnenbilder und Kostüme, die am Ende weggeworfen werden müssen. Zwei Jahre gibt sich Tobias Wolff, um die Zertifizierung zu erhalten. „Es ist ein langsamer Prozess, auch weil es sich um einen großen Betrieb handelt.“ Es gehe eben nicht darum, ein paar Maßnahmen zu formulieren, sondern eine gesamte Betriebskultur zu ändern.
Was soll im ersten Schritt erreicht werden? „Erkenntnisgewinn – uns fehlt es an vielen Stellen allein schon an Daten“, sagt Tobias Wolff, der bereits vor seinem Amtsantritt ein enges Netzwerk aus internationalen Vertreter*innen der Kulturszene und Nachhaltigkeitsexpert*innen aufgebaut hat. Die durch die Corona-Maßnahmen unfreiwillig entstandene Unterbrechung des regulären Spielbetriebs nutze er, um erste Anträge zu stellen und eine Zusammenarbeit mit der Berliner Hochschule für Technik zu initiieren: einer der wichtigsten Ausbildungsorte für nachhaltigkeitsorientierte Ingenieure und Bühnentechniker. Den dort lehrenden Professor für Veranstaltungsmanagement und -technik Thomas Sakschewski hatte Wolff über Empfehlungen kennengelernt. Sakschewski stellte nicht nur seine Expertise zur Verfügung, sondern brachte Tobias Wolff auch in Kontakt mit seinem studentischen Mitarbeiter Lucas Zimmermann, heute als Projektkoordinator zuständig für das Zertifizierungsverfahren. „Wir sind froh, dass wir diese Stelle mithilfe von entsprechenden Geldern schaffen konnten“, sagt Tobias Wolff. Denn ein so aufwändiges Projekt allein mit bestehenden Hauskräften umzusetzen, hätte die Kapazitäten der Oper an ihre Grenzen geführt. Wer Vorschläge und Ideen hat, ist dennoch aufgerufen, sie zu teilen.
Anlaufstelle hierfür ist eine Arbeitsgruppe, die seit August 2022 regelmäßig tagt. Geleitet wird sie von Dirk Becker, neuer Ausstattungsleiter der Oper Leipzig und zertifizierter Transformationsmanager für Nachhaltigkeit in der Kultur. Neben ihm und Lucas Zimmermann sind Abgesandte der unterschiedlichen Abteilungen vertreten, von der Schreinerei über die Verwaltung bis zum Chor. Nachdem gesichtet wurde, welche Themen lediglich abteilungsspezifisch sind und welche das ganze Haus betreffen, werden die Vorschläge mit der Betriebsleitung abgesprochen. „Dabei handelt es sich vorwiegend um Dinge wie Entsorgung, Energieeinsparung oder Materialankauf“, sagt Tobias Wolff. Begrenzt werden die Themen von der eigenen Einflusssphäre. „Natürlich würden wir gern Fahrradstellplätze vor dem Eingang zu Verfügung stellen. Aber hier reden wir von städtischem Grund, der nicht zum Opernhaus gehört.“
Nicht zuletzt um die Datenlage zu verbessern und Erfahrung zu sammeln, hat die Oper Leipzig noch vor der eigentlichen Zertifizierung ausgewählte Projekte mit Nachhaltigkeitsfokus initiiert. Bereits im vollen Gange ist das Projekt „Nachhaltige Kostüme“. In Kooperation mit der Isländischen Oper und gefördert von den Musiktheaterinitiativen Opera Europa und FEDORA sollen in diesem Rahmen anhand von vier Opernproduktionen der Lebenszyklus von Kostümen analysiert und Erkenntnisse in Bezug auf nachhaltige Beschaffung, Herstellung, Nutzung und Entsorgung gewonnen werden. Begleitet wird das Projekt vom schweizerischen Kostümexperten Urs Dierker, Gründer der Plattform „Circular Costume Design“, die sich mit diesem Forschungsfeld auseinandersetzt. Ein weiteres Projekt ist für Ende 2023 geplant: eine vollständig klimaneutrale Opernproduktion, die mit Mitteln der Kunststiftung des Bundes gefördert wird. „Das Wort klimaneutral muss man natürlich in sehr große Anführungszeichen setzen“, sagt Tobias Wolff, „denn wie unser Werkstättenleiter immer so schön sagt: ‚Wenn ich einmal die Kreissäge anwerfe, sind wir schon nicht mehr klimaneutral‘.“ Grüner Strom – auch so ein Thema, mit dem sich die Oper in ihrem Nachhaltigkeitskonzept auseinandersetzen muss. „Jedenfalls wollen wir so nahe wie möglich an das Ideal der Klimaneutralität herankommen und anhand des Ergebnisses herausfinden, ob wir auch so sinnliches, spannendes und schönes Theater machen können.“ Denn eines soll bei allen Bemühungen um den Klimaschutz nicht zu kurz kommen: die Kunst.
Was das angeht, ist Tobias Wolff zuversichtlich. „Normalerweise erteilt man Regieteams den Auftrag, ein Konzept zu entwerfen. Dieses Konzept wird dann vorgestellt und man schaut, mit welchen Mitteln es umgesetzt werden kann.“ Im Regelfall bedeutet das, dass Materialien hergestellt, angekauft, angeliefert und unter Einsatz von Energie verarbeitet werden müssen. „Für unsere klimaneutrale Produktion haben wir das Ganze umgedreht,“ erklärt Wolff. „Wir haben gesagt: Schaut euch an, was wir im Hause haben und entwickelt anhand dessen ein künstlerisches Konzept – und sind dabei auf ein sehr offenes, engagiertes und interessiertes Team gestoßen.“ Dass mancher Regiestar, der an üppige Budgets und anstandslose Erfüllung seiner Wünsche gewöhnt ist, möglicherweise weniger begeistert sein wird, ist ihm bewusst. „Irgendwann taucht immer die Frage nach der Kunstfreiheit auf“, sagt Wolff. „Natürlich schränken wir sie ein, aber das passiert schon in dem Moment, in dem ich ein Budget vergebe, eine Gage festsetze oder Probenzeiten definiere. Niemand geht heute mehr davon aus, dass ein unbegrenztes Budget zur Verfügung stünde. Warum sollte man dann von unbegrenzten CO2-Budgets ausgehen?“
Schon heute versendet die Oper Leipzig mit jeder Vertragsanlage für Regieteams den Link zum „Theatre Green Book“ der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft. „Wir haben noch nicht den Ansatz und die Idee, wie wir die darin enthaltenen Maßnahmen für ein Grünes Theater verpflichtend machen können“, sagt Wolff. „Zumindest aber sensibilisieren wir so unsere Regieteams schon einmal, dass sie sich mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinandersetzen müssen, wenn sie bei uns arbeiten wollen.“ Mit Interesse hat der Intendant seinen Blick auf andere europäische Häuser gerichtet, wo man bereits an entsprechenden Katalogen für künstlerische Produktionsteams sitzt. „Ich gehe davon aus, dass wir aus unserem Nachhaltigkeitskonzept verbindliche Richtlinien gewinnen können“, sagt er. Die bis dahin gewonnenen Ergebnisse sollen auch anderen lokalen Institutionen zugutekommen. Denn die Oper Leipzig ist im Bereich Klimabilanzierung auch ein Pilotprojekt der Stadt Leipzig.